«der arbeitsmarkt» 07/2005

Die letzten Einzelkämpfer im medizinischen Dienst

Junge Medizinerinnen und Mediziner praktizieren lieber in der Stadt. Stirbt der gute alte Landarzt aus? «der arbeitsmarkt» suchte nach Antworten im appenzellischen Urnäsch.

Auf dem Land stehen zunehmend Arztpraxen leer. Pensionierte Landärzte suchen vergeblich nach jungen Ärztinnen und Ärzten, die ihre Praxis übernehmen wollen. Den medizinischen Nachwuchs zieht es in die Stadt, wo hoch spezialisierte Kliniken gut bezahlte Arbeitsplätze anbieten. «Die Lust, sich als Einzelkämpfer irgendwo in einem Tal zu versenken, ist heutzutage nicht mehr sehr gross», sagt Erhard Taverna. Als der Arzt vor 26 Jahren nach Urnäsch kam, stimmten für ihn die Voraussetzungen für die Allgemeinmedizin auf dem Land noch. Taverna denkt und arbeitet gerne interdisziplinär. Drei Tage die Woche ist er Landarzt in Urnäsch, den Rest seiner Zeit verbringt er als Kantonsarzt für Appenzell Ausserrhoden und schreibt für die «Schweizerische Ärztezeitung».
Dass Taverna seinen vielseitigen Interessen auf diese Weise nachgehen kann, schreibt er dem System der
Doppelpraxis zu. Sein Kollege Thomas Bodenmann und er führen gemeinsam die einzige Hausarztpraxis in
Urnäsch. Das Dorf im Hinterland von Appenzell Ausserrhoden zählt 2350 Einwohner. Für eine Person wäre das Arbeitspensum zu hoch, für zwei ist es zu klein. Taverna wusste von Anfang an, dass er nicht alleine auf dem
Land arbeiten wollte. Sein früherer Arbeitskollege war politisch engagiert gewesen und hatte sich einen jüngeren Kollegen gesucht. Taverna, damals im Spital von Herisau angestellt, zog nach Urnäsch. Aus der
Ein-Mann-Praxis wurde eine Zwei-Mann-Praxis.

Vor zwanzig Jahren war der Praxisalltag spannender

Als vor acht Jahren der Generationenwechsel stattfand, wurde die Praxis erneut umgebaut und modernisiert. «Es war eine richtige Bluttransfusion. Eine zwanzig Jahre jüngere Person mit der Ausbildung und dem
Wissen der neuen Generation kam hinzu. Der Wechsel war gleichzeitig eine Herausforderung und eine Chance für mich», erinnert sich Taverna. Den Informationsaustausch und die Arbeit im Team zählt Taverna zu
den besonderen Vorteilen einer Gemeinschaftspraxis. Ausserdem werden die Kosten für die Infrastruktur und den Notfalldienst untereinander aufgeteilt. Führt sein jetziger Kollege das partnerschaftliche Modell auch nach Tavernas Pensionierung weiter, ist für die Landarztpraxis in Urnäsch vorgesorgt. Taverna vermutet jedoch, dass der nächste Wechsel nicht mehr so einfach sein wird.
Die ideale Neubesetzung sähe Taverna in einer Ärztin mit Kind, die Teilzeit arbeiten will. Taverna findet den Praxisalltag heute weniger interessant als vor zwanzig Jahren. Damals war ein volles Wartezimmer der Normalfall. Aus Zeitnot empfingen manche Ärzte die Patientinnen und Patienten im Fünf-Minuten-Takt. «Heute muss man um jeden froh sein, der seine Nase reinsteckt», meint Taverna. «Früher waren die Aufgaben eines Landarztes vielseitiger.» Es gab im ganzen Kanton weder Gynäkologinnen noch Kinderärzte, Schwangerschaftstests und Kinderimpfungen gehörten zum Alltag. Kleine chirurgische Eingriffe, die Taverna gerne durchführt, gehören heute nicht mehr zu den Aufgaben des Allgemeinmediziners.

Hausärzte mutieren zu Auskunftspersonen

Das Angebot der Spezialisierung stellt die grösste Konkurrenz zur Hausarztmedizin dar. Auch in ländlichen Regionen eröffnen viele Spezialisten eine Praxis. «Die Spezialisierung auch innerhalb der Grundversorgung ist mitverantwortlich, dass sich der Beruf des Allgemeinpraktikers verändert hat. Paradoxerweise gehen heute viele Leute zum Kinderarzt zum Impfen, und wenn sie in der Nacht ein Problem haben oder die Spezialisten ihre Praxen geschlossen haben, rufen sie mich an», erklärt Taverna.
Beim Patientenverhalten hinterlässt das zunehmende Angebot an Spezialisten in der eigenen Wohnumgebung deutliche Spuren. Je grösser das Angebot, desto schneller werden die Ärzte gewechselt. «Doctor Shopping» nennt Taverna deshalb die Angewohnheit der Leute, von einem Arzt zum anderen zu rennen. Zu Hause an der Pinnwand befestigt, erinnert sie ein Dutzend Kärtchen an den nächsten Termin. Verlief eine Behandlung nicht wunschgemäss, wird der Arzt einfach gewechselt. Oder sie gehen direkt ins Spital. Insbesondere in den Städten seien die Ambulanzen aus finanziellen Gründen ausgebaut worden. Damit werde die Zukunft derjenigen, die allgemeine Medizin anbieten, bedeutend unsicherer. «Die Hausärzte von heute führen den Tante-Emma-Laden, aus dem sich die Leute das holen, was sie in der Migros in Appenzell vergessen haben.»
Doch was passiert, wenn auch der Tante-Emma-Laden im Dorf nicht mehr rentiert? Taverna zeigt sich realistisch. Eine Bevölkerung stirbt noch lange nicht aus, weil der Weg bis zum nächsten Arzt oder Spital länger geworden ist. Im Gegenteil: Andere Modelle medizinischer Grundversorgung in den Regionen würden eines Tages das traditionelle Modell ersetzen, sagt Taverna. Der Systemwechsel sei bereits im Gange. «Der neue Typ Hausarzt ändert sich mit dem System und passt sich den Bedürfnissen der Patienten an. Er wird zwar noch ‹Barfuss-Medizin› betreiben, alles Weitere jedoch an die Spezialisten weitergeben.»
Taverna befürchtet, dass in Zukunft der Hausarzt Probleme nicht mehr selbständig und eigenkompetent lösen kann. «Hausärzte wird es immer geben, denn es braucht Anlaufstellen, die Dokumente sammeln und Auskünfte geben können. Die neuen Hausarzt-Generationen werden dazu ausgebildet und werden nichts anderes mehr kennen. Es bleibt die Frage, ob sie sich darauf einlassen wollen. Wenn ich nochmals anfangen könnte, hätte ich wahrscheinlich keine Lust, ein solch neuer Typ Mediziner zu sein. Für mich ist diese Form
von Allgemeinmedizin total langweilig.» Die Krankenversicherungen haben den Typ Hausarzt, wie ihn
Taverna beschreibt, bereits in einige ihrer Versicherungsmodelle integriert. Die Patientinnen und Patienten
müssen immer einen festen Hausarzt aufsuchen, der sie, falls notwendig, an Spezialisten verweist. Dieser Hausarzt löst medizinische Probleme nicht mehr selbst, sondern sagt den Menschen, welchen Weg sie am besten einschlagen sollen. In der Schweiz bestehen immer noch über 90 Prozent der Versicherten auf freier Ärztewahl.

Kantons- und Landspitäler sind attraktive Arbeitsorte

Noch ist der Landarztmangel in Urnäsch kein Thema. Den Grund dafür sieht Taverna in der Attraktivität der beiden Kantonsspitäler, die als Ausbildungsstätte für Allgemeinmedizin rege genutzt werden. Interdisziplinär ausgerichtet, bieten die Spitäler alle nötigen Grundlagenfächer. «Die gut geführten Landspitäler sind die
besten Ausbildungsplätze für Allgemeinpraktizierende. Sie sichern den Nachwuchs an medizinischer Grundversorgung auf dem Land», stellt Taverna fest. Denn nach der Ausbildungszeit würden diese Allgemeinmediziner in der Region bleiben, wo sie eine Praxis aufmachen oder übernehmen. Wer jedoch die fünfjährige Ausbildung in hochspezialisierten Abteilungen absolviert, ist danach kaum gewillt, in einer Praxis auf dem Land tätig zu sein. Taverna meint auch, dass der Arbeitsort Spital attraktiver geworden sei: Die Arbeitszeiten sind geregelt, Teilzeitarbeit ist möglich, und neue Funktionen wie die Spitalassistenz lassen eine Spitalkarriere auch auf der unteren Hierarchiestufe zu. «Wenn ich heute nochmals Medizin studierte, würde ich mich wahrscheinlich spezialisieren.» Erhard Taverna weiss, dass er mit dieser Aussage provoziert – zumindest all diejenigen, die sich zum Ziel gesetzt haben, den Beruf des Landarztes vor dem Aussterben zu retten.

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