«der arbeitsmarkt» 04/2005

Die künstlerisch engagierte Wäscherin vom «Dom»

Jeder stösst hin und wieder an seine Grenzen.
Den Mitarbeitenden des Hotels «Dom» in St.Gallen passiert dies vielleicht öfters. Wie man auch mit einer Behinderung am Arbeitsplatz bestehen kann, beweist Antje Kruhl.

Ich sitze im Hotel «Dom» an der Réception und warte auf Antje Kruhl. Das «Dom», ein Drei-Sterne-Hotel mitten in der Altstadt St.Gallens, ist seit sechs Jahren Antjes Arbeitsplatz. Hier arbeiten 40 Menschen mit einer leichten körperlichen, psychischen oder einer Lernbehinderung, in der Regel 70 bis 80 Prozent. Alle beziehen eine IV-Rente.
Antje konnte wegen ihrer psychischen Krankheit in der Privatwirtschaft nicht bestehen. Ihre Behinderung ist nicht ersichtlich. Die 45-Jährige erzählt, dass sie sich schneller verzettle als andere und dadurch weniger konzentriert und aufnahmefähig sei. Manchmal habe sie Mühe, mehr als zwei bis drei Arbeitsschritte zu behalten. Das Verzetteln wird nur in kurzen Momenten spürbar, während ich mit Antje unterwegs bin.
An der Réception im ersten Stock ist es hell. Antje erscheint in einem weissen T-Shirt und einem blauen Gilet. Arbeitskleidung. Grosse farbige Glaskugeln zieren ihren Hals. Sie führt mich die helle Steintreppe hinauf in den vierten und obersten Dachstock. Hier befindet sich das Nähatelier.

Die Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung

Nur mühsam dringt das Tageslicht durch das kleine Fenster. Zum Nähen ist es an diesen kalten Wintertagen zu dunkel, Antje drückt den Schalter, Neonlicht erhellt den Raum. Der Raum ist eng. Es gibt drei Arbeits-tische. Zwei zum Nähen und einen zum Auftrennen. Das Auftrennen sei recht mühsam, sagt Antje. Sie setzt sich auf den Holzstuhl vor die eine Nähmaschine und beginnt mit ihrer Arbeit. Ratter – der Stoff fliesst ihr zwischen den Fingern hindurch, und die Nadel sticht mit Leichtigkeit in das Weiss eines kaputten T-Shirts. Hier wird alles Mögliche geflickt und genäht: Bettwäsche, Frotteewäsche, Arbeitskleidung. Auch andere Hotels oder Restaurants geben ihre Wäsche zur Reinigung oder zum Flicken ins «Dom».
Ich beobachte Antje beim Nähen, während mein Kollege fotografiert. Sie denkt mit, sie fotografiert selber, schon seit 25 Jahren. Details scheinen ihr wichtig zu sein. Während sie näht, erzählt sie, wie ein Tagesablauf im «Dom» aussieht: Morgens um acht treffen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wäscherei und des Nähateliers im Untergeschoss. Der Tagesplan wird festgelegt und die Mitarbeiterinnen werden eingeteilt. Seit drei Jahren arbeitet Antje in diesem Bereich, der für Waschen und Flicken von hoteleigener sowie auswärtiger Hotel- und Restaurantwäsche zuständig ist. Manchmal sei es hier schon etwas gar ruhig, meint sie. Aber der Schonraum des geschützten Arbeitsplatzes sei für sie auch ein Vorteil, ein Ruhepol im turbulenten Leben. Vielfach fühlt sie sich intellektuell unterfordert: «Es ist für mich eine ständige Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung», sagt Antje. «Das habe ich mit den Jahren gelernt zu akzeptieren.» Gerne würde sie sich in der Privatwirtschaft bewähren. «Mein grösster Traum wäre eine Arbeit als Maltherapeutin. Aber das wird wohl ein Traum bleiben. Träumen darf man ja», lacht sie.

Feldenkrais, Fotoclub, Klavierspielen und Kunstpostkarten

Wegen ihrer Krankheit muss Antje die Ziele tiefer setzen. Sie möchte erreichen, dass sie selbständiger in der Arbeit und sicherer in den Arbeitsschritten wird. Auch möchte sie ihre Arbeit mehr wertschätzen können. Dies ist im halbjährigen Standortgespräch angesprochen worden. Für Antje ist es wichtig, einen regelmässigen Rhythmus zu finden. Ein klar definierter Zeitplan soll helfen, Strukturen einzuhalten. Die Krankheit ist mit 22 Jahren ausgebrochen. Vorher hat Antje die Kantonsschule und den Vorkurs für Gestaltung abgeschlossen. Mit der Überforderung begann es in der Zeichenlehrerinnenausbildung – sie brach sie ab. Es folgte eine schwierige Zeit, und Antje zog sich zurück.
Motiviert ist sie, wenn sie Verantwortung übernehmen kann. Eine Pizzeria bringt ein bis zwei Mal in der Woche Wäsche ins «Dom». Hier ist Antje alleine zuständig. «Wenn die Wäsche kommt, zähle und wäge ich sie und entscheide, in welcher Maschine gewaschen wird. Nach dem Waschen fülle ich das Ganze in den Tumbler.» Ist alle praktische Arbeit erledigt, schreibt sie die Rechnung. «Diese Arbeit liebe ich. Mir geht es besser, wenn ich ab und zu administrative Aufgaben lösen und meinen Kopf wieder mal anders einsetzen kann. Wenn alles gut verlaufen ist und ich selbständig arbeiten kann, dann blühe ich auf.»
Fertig genäht – und raus an die frische Luft. Dort winkt einer durchs Schaufenster. Ein bärtiger Herr vom gegenüberliegenden Geschäft drückt Antje acht Franken in die Hand für eine Kunstkarte. Sie gestaltet und verkauft schon lange eigene Karten mit Fotografien. Durch Antje kriegt St.Gallen Dorfcharakter. Überall kennt sie jemanden.
Nach 15 Minuten Fussmarsch erreichen wir ihre Wohnung. Antje trägt das Velo die Steintreppen zum Jugendstilhaus hoch, wo sie zusammen mit ihrem Lebenspartner wohnt. Sie hat ihn im «Dom» kennen gelernt und sich vor vier Jahren verliebt. «Er war schon länger in mich verliebt. Ich habe zuerst abgewartet. Später hat es auch bei mir gefunkt», erzählt sie verschmitzt. Er arbeitet an der Réception.
Wir treten ein in eine Altbauwohung mit Parkett in den Zimmern und einem Steinboden in der Küche. Schon im Voraus hat sich die Mieterin für das Durcheinander entschuldigt. Durch die vielen Aktivitäten komme sie gar nicht richtig zum Aufräumen. Jeden Abend sei sie im Theater gewesen und habe sich ein Stück von Oscar Wilde angeschaut, in welchem ihr Freund mitspielte. «Ich habe mir mal alle Aktivitäten, denen ich nachgehe, aufgeschrieben. Zehn Hobbys, das ist schon etwas viel», meint Antje etwas unsicher.
Neben Schwimmen, Feldenkrais, Maltherapie und Klavierspielen ist sie im Fotoclub, einer Selbsthilfegruppe für psychisch Kranke und Angehörige, und engagiert sich in einer Vorbereitungsgruppe für die nächste Behindertenkonferenz. Ob sie diesen Ausgleich brauche, um bei sich zu bleiben, frage ich. «Ich glaube, dass ich eigentlich zu viel mache und mich dadurch manchmal noch mehr verzettle. Ich habe einfach so
viele Interessen und es ist schwierig für mich, alles unter einen Hut zu bringen», erwidert sie. Das «Puff» in der Wohnung stört nicht. Es wird gelebt.
Rechts ist die Küche mit Gasherd und einem Tisch für zwei Personen. Eine schmale Tür führt in einen länglichen Wintergarten. Noch ein Tischchen. Im Wohnzimmer sind ein schönes Fischgratparkett, ein Sofa, ein grösserer Esstisch und zwei Bücherregale, die fast überquellen. Ein Gästezimmer mit zwei grossen Bildern, gemalt vom Schwiegergrossvater, einem Kunstmaler. Im Schlafzimmer Fotos der 20-jährigen Antje über dem Bett. Das Bad ist von zwei Seiten zugänglich. Für eine Badewanne fehlt der Platz.
Sie kocht Spätzli an Gemüsesauce mit Käse, dazu gibts Mangosirup aus dem Reformhaus. Zu dritt sitzen wir am Tisch im Wohnzimmer und reden. Vor allem Antje kommt nicht voran mit Essen. «Bleib so!», höre ich öfters von ihr. Als Fotografin kann sie das Fotografieren nicht lassen. Sie schlüpft in die Betrachterrolle. Rollentausch. Wir werden zu Porträtierten. Klick… schon wieder… «Jetzt höre ich gleich auf», meint sie. Wenn sie Besuch habe, werde das Fotografieren fast zum Zwang.
Immer wieder springt sie auf und holt neue Sachen, etwa eine Kartonschachtel mit all ihren Kunstkarten – Fotografien. Naturbilder, Bäume, zwei Fässer ins rechte Licht gerückt, eine Gondel in Venedig. Farbe und Form – dafür hat Antje ein Auge. Sie fotografiert wieder und verschwindet im Gang, um ein Telefonat zu führen. Während sie weg ist, betrachte ich ihre Kunstkarten. Fotografien der letzten Jahre. Ich schaue mich um. Ein Poster hängt an der Wand. «Zuversicht» steht drauf. Von Hand geschrieben.

Orientalische Wärme und abendländische Klänge

Später – wir sind unterdessen alleine – begleite ich sie in ein orientalisches Restaurant. Orange Wände, abendländische Klänge. Das Lokal strahlt Wärme aus. Sie hat Fotos vom
Lokal gemacht und hat etwas mit dem Geschäftsführer zu besprechen. Weil er nicht da ist, trinken wir in einer kleinen Frauenrunde Kaktusblütentee.
Der Tee ist ausgetrunken, wir sind erschöpft. Für heute trennen sich unsere Wege. Also, bis nächsten Donnerstag, mittags um zwölf am Bahnhof St.Gallen. Dann wollen wir zu ihrer aktuellen Fotoausstellung nach Weinfelden fahren. Sie umarmt mich – und lässt mich etwas perplex zurück. Das ist Antjes Art.

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