«der arbeitsmarkt» 06/2005

Die heile Welt mitten in den Bergen – oder etwa nicht?

Nidwalden hat eine der tiefsten Arbeitslosenquoten der Schweiz. Trotzdem hat man es als Arbeitsloser nicht leicht: Im Innerschweizer Halbkanton kennt jeder jeden.

Wo auch immer man sich in Stans befindet und den Kopf reckt, sieht man die Berge. «Wir sind ein ländlicher Kanton», sagt Armin Portmann, Chef des Nidwaldner Amts für Arbeit. Sein Büro befindet sich oberhalb der Dorfbeiz «Linde», im Zentrum von Stans, direkt neben der mächtigen Kirche. Zwei Strassen weiter geht die Stadt bereits in den Berg über: Wiesen, Felder, Wald beginnen. Unten auf dem Dorfplatz werden Tische und Bänke der Stanser Musiktage, die am Vortag zu Ende gingen, abgebaut. Sonst ist es ruhig.
Armin Portmann kann auch nicht erklären, warum die Arbeitslosigkeit in Nidwalden mit 2,0 Prozent so tief ist. Aber er weiss, wann sich das ändern könnte. «Der Pilatus geht es Gott sei Dank gut.» Die Pilatus Flugzeugwerke mit 1000 Angestellten sind der grösste Arbeitgeber im Kanton. Nidwalden hat 38000 Einwohner. «Wenn die Pilatus über längere Zeit Absatzschwierigkeiten hätte und Personal abbauen müsste, hätten wir in Nidwalden ein Problem.» Nidwalden hatte in den vergangenen Jahren keine Massenentlassungen, niemals klopften 100 Menschen aufs Mal beim Arbeitsamt an. Die Wirtschaftsstruktur ist geprägt durch Klein- und Mittelbetriebe im ersten und zweiten Sektor: Land- und Forstwirtschaft, Handwerk, Kleingewerbe dominieren den Arbeitsmarkt. Und denen geht es gut. «Handwerk hat goldenen Boden in Nidwalden.» In handwerklichen Betrieben hat die Nachfrage in den letzten Jahren nicht abgenommen.
Obwalden und Nidwalden erhalten viele Aufträge in der Region Zürich und Luzern, erzählt Portmann. Die Innerschweizer gelten als zuverlässig und günstig. «Dank der kleinen Strukturen können wir flexibel und schnell reagieren. Verliert heute ein Handwerker seinen Job, kann er davon ausgehen, innerhalb der Kündigungsfrist wieder eine Anstellung zu finden.» Das bestätigt auch Thierry Lenoir, Leiter des Werkplatzes Nidwalden. Das Programm zur vorübergehenden Beschäftigung von Erwerbslosen ist gerade deshalb auf handwerkliche Beschäftigung ausgerichtet. Die Abteilungen haben Namen wie Textil, Holz, Metall, Natur. Hier werden Arbeitskleider genäht, Tische geschreinert, Metallbeschläge montiert. Anfang 1997 bezogen 20 Stellensuchende eine Kohlelagerhalle in Stans und bauten diese komplett aus: Zwischenböden wurden reingelegt, Parkett verlegt, Holzwände, Tische, Stühle, alles hat die Gruppe selber gemacht. Damals war die Arbeitslosenquote auch unter den Handwerkern hoch. «Wir hatten Dachdecker, Zimmerleute und Schreiner», erinnert sich Lenoir. Heute sind im handwerklichen Bereich tendenziell weniger gut qualifizierte Personen erwerbslos.
«Hat jemand ein Suchtproblem, ist das manchmal bekannt», weiss Armin Portmann. In Nidwalden kennt jeder jeden. Das ist für Arbeitssuchende nicht immer einfach. «Macht mal einer einen ‹Seich› und verliert seine Stelle, wissen das die anderen Arbeitgeber oft.» Man trifft sich in der Beiz, tauscht sich aus. Auch er kennt viele Arbeitgeber im Kanton. «Wir haben hier kleine Verhältnisse.» Portmann hat neben seiner Täigkeit als
Leiter des Amtes für Arbeit noch andere Aufgaben: Er erteilt Bewilligungen für das Gastgewerbe und führt in der Übungsfirma Küfon Kurse in Arbeitsrecht durch. Zudem berät er Arbeitnehmer unentgeltlich in Rechtsfragen und kommt dabei häufig mit Leuten, die Schwierigkeiten mit ihrem Vorgesetzten haben, in Kontakt. «Wo grössere Kantone mehrere Abteilungen haben, wird in Nidwalden vieles durch eine Stelle erledigt. Dadurch erhalten wir vernetzt Einblick in Probleme.»

Käse-Picknick-Kasten und Sonnenschirmkralle
Portmann ist überzeugt, dass die überschaubaren Verhältnisse auch zur geringen Arbeitslosenquote beitragen. «Der Druck auf die Arbeitslosen ist grösser. Hier verschwindet man nicht in der Anonymität. Wer in einem Quartier in Zürich wohnt, kriegt kaum mit, ob der Nachbar keine Stelle hat. Hier ist das anders.» Vielleicht trägt dieser Umstand dazu bei, dass man Arbeitslosigkeit eher vermeidet oder schneller eine Stelle annimmt. Arbeitslose stehen jedoch nicht nur wegen des Umfelds stärker unter Druck als anderswo: «Nidwalden
handhabt den Vollzug des Arbeitslosenversicherungsgesetzes relativ streng, aber fair.» Reicht ein Erwerbsloser zu wenig Arbeitsbemühungen ein, wird konsequent gemäss seco-Raster sanktioniert; das bedeutet, das Arbeitslosentgelt wird um zwei, drei Tage gekürzt. «Der Lerneffekt ist gross, auch wenn die Sanktionen gering sind», meint Portmann.
Die konsequente Mitarbeiterführung ist auch im Werkplatz Nidwalden spürbar. Erfüllt jemand die minimalsten Anforderungen nicht, wird abgeklärt, ob die Weiterführung des Einsatzes Sinn macht, sagt Lenoir. «Besteht keine Aussicht auf Erfolg, kann es auch zum Abbruch der Massnahme kommen.» Lenoir legt viel Wert auf Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Es gehört zum Konzept, den Werkplatz nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen zu führen – analog einer echten Unternehmung. Die Stellensuchenden werden wie Mitarbeitende behandelt, haben Kompetenzen und übernehmen Verantwortung. Die Leute werden nicht nur beschäftigt, sondern auch gefordert: Die Produkte, die hergestellt werden, entsprechen einem Bedürfnis, ohne jedoch den ersten Arbeitsmarkt zu konkurrieren. «Wir produzieren Dinge, die es noch nicht gibt, so etwa die Sonnenschirmkralle, oder nicht mehr gibt, wie zum Beispiel den Käse-Picknick-Kasten.» Mit dem Finnenkerzenhalter, der dafür sorgt, dass die brennenden Holzscheite während der Gartenparty nicht auseinander fallen, haben die Mitarbeiter des Werkplatzes eine echte Marktlücke entdeckt: Ein Wiederverkäufer wollte gleich tausend Stück davon haben, was jedoch die Kapazitäten des Werkplatzes überstieg. «Jetzt werden sie vermutlich anderswo hergestellt. Patentieren lassen können und wollen wir unsere Erfindungen nicht.»
Während Thierry Lenoir von den Werkplatz-Produkten erzählt, füllt sich der Tisch nach und nach mit Holzkistchen, Spielzeugen, Hocker und Geschicklichkeitsspielen. «Wir haben noch viele Ideen, die
realisiert werden könnten.» Beim Besuch durch den Betrieb gibt es noch mehr zu sehen. Etwa einen speziellen Töpfertisch. Lenoir führt zwei Handgriffe aus und der grosse Tisch steht aufgeklappt an der Wand. Oder: «Dieses Käsekistchen zum Beispiel verkaufen wir in einer Schaukäserei!» Es wird gearbeitet, niemand steht rum. Die Übergwändli der «Angestellten» werden von den Frauen in der Textilabteilung hergestellt. Dort sind keine Männer tätig, genauso wie man in der Metall-abteilung keine Frauen antrifft. In der Holzabteilung arbeiten Frauen und Männer zusammen. Die Frauen der Textilabteilung führen zusätzlich die Kantine und kochen abwechslungsweise den Zmittag.

Lehrstellenmangel? Kein Thema im Halbkanton

«Wenn jemand über gute Qualifikationen verfügt, findet er schnell wieder einen Job», sagt Lenoir. Er weiss, wie transparent die Strukturen in Nidwalden sind. Müssen wir über einen Mitarbeitenden Referenzen abgeben, sind wir objektiv. Gefälligkeiten machen wir keine. Andernfalls wären wir rasch nicht mehr glaubwürdig.» Neben persönlichen oder gesundheitlichen Problemen können heutzutage auch Sprachprobleme ein echtes Handicap sein. «Die deutsche Umgangssprache ist wichtig. Selbst von Personen, die eine Hilfstätigkeit ausüben, werden gute Deutschkenntnisse verlangt.» Deutsch ist bei Katarina Mesaros allerdings kein Problem. In ihrem Heimatland, der Slowakei, hat sie acht Jahre Deutsch gelernt. Vor vier Jahren kam die damals Zwanzig-jährige nach Stans und fand einen Job als Serviertochter im Hotel Engel. Danach war sie kurze Zeit in einer Papierfabrik tätig. Als sie schwanger wurde, musste sie den harten Fabrikjob aufgeben. «Der Werkplatz ist eine gute Sache, alles wird geduldig erklärt und man kann eigene Ideen einbringen.» Die 24-Jährige lebt mit ihrem Mann und dem zehn Monate alten Sohn in Stansstad. Es gefällt ihr dort, weil «es weniger nach Bauernhof riecht als in anderen Nidwaldner Gemeinden», wie sie lächelnd anfügt.
Qualifizierte Jugendliche haben in Nidwalden kaum Probleme, eine Stelle zu finden. Lehrstellenmangel? Portmann winkt ab. In Nidwalden kein wirkliches Problem. «Unsere kleinen und mittleren Betriebe schaffen
viele Lehrstellen.» Allenfalls im kaufmännischen Bereich wirken sich die nationalen Tendenzen auch auf Nidwalden aus. Doch viele Jugendliche entscheiden sich für eine handwerkliche Lehre. Wenn junge Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind sie überwiegend ohne Lehre oder Anlehre.

Steuergünstiger Wohnkanton mit Bumerangeffekt

Mit jungen Stellenlosen arbeitet Bruno Bachmann, selber stellenlos und vorübergehend Verkaufsleiter im Brockenhaus, das dem Werkplatz Nidwalden angeschlossen ist. «Man muss den Jungen vermehrt beibringen, dass sie zuerst säen müssen und dann ernten können.» Der 59-Jährige führte ein Hotel, bis er aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation die Stelle verlor. Jetzt will er im Brockenhaus dazu beitragen, dass die Jungen abends «mit Stolz rausgehen». «Sie überschätzen sich vielfach, wollen alles sofort, ohne die mühsame Arbeit erledigen zu müssen.» Er wünscht sich bezüglich des Einsatzes im Brockenhaus strengere Kriterien und klarere Leitlinien vom RAV. Den Jungen soll der Sinn eines solchen Beschäftigungsprogramms klar gemacht werden.
Allmählich entsteht der Eindruck, dass Nidwalden von allen Tendenzen auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt unberührt bleibt. Wo es in anderen Kantonen von qualifizierten und motivierten Stellenlosen wimmelt, scheint dies in Nidwalden weniger der Fall zu sein. Oder doch nicht ganz? «Wenn wir nur diejenigen Personen betrachten, die in Nidwalden ihre Stelle verloren haben, wäre unsere Arbeitslosenquote tiefer.» Doch Nidwalden hat ein Privileg, das sich auf dem Arbeitsmarkt als Bumerang herausstellt: Der Kanton ist steuergünstig. «Wir sind auch ein Wohnkanton.» Die grösste Herausforderung im Arbeitsamt stellen
diejenigen Personen dar, die einen relativ hohen versicherten Verdienst haben und ihre Stelle ausserhalb des Halbkantons verloren haben, also Leute, die im unteren und mittleren Kader in Luzern, Zug oder ausserhalb der Zentralschweiz tätig waren. «Diese Menschen können von unserem arbeitsmarktlichen Angebot kaum profitieren.»
Also doch nicht nur heile Welt.

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