«der arbeitsmarkt» 11/2005

Die Riesen schweigen

Die Kirchen sind Milliardenunternehmen, können aber ihre wichtigsten Kennzahlen nicht nennen. Ist es Desinteresse, Unfähigkeit oder Verschleierung?

Die evangelisch-reformierte Kirche hat säuberlich regis-triert, dass in Kölliken AG letztes Jahr 14 Taufen, 31 Konfirmationen, eine Trauung und 23 Bestattungen durchgeführt wurden, dass die SMS-Seelsorge 1336 Franken und 80 Rappen aus dem Kanton Schaffhausen erhielt und dass im Kanton Bern die Kollekte des diesjährigen Kirchensonntags Fr. 67536.50 einbrachte. Aber sie weiss nicht, wie viele Personen landesweit in ihrem Sold stehen.
Die römisch-katholische Kirche weiss, dass im Kanton St.Gallen letztes Jahr 690 Männer und 542 Frauen aus der Kirche austraten, ihr Hilfswerk Caritas Fr. 961387.– für Entwicklungsprojekte im Tschad ausgab und dass 143 Personen Ende 2003 eine Rente der Pensionskasse der katholischen Kirche Luzern bezogen. Aber sie hat keine Ahnung, wie viel sie insgesamt einnimmt oder ausgibt. Das zur Verfügung stehende Datenmaterial sei «sehr dürftig», räumt Daniel Kosch, Geschäftsführer der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), ein. Für diese Ignoranz müssten die obersten Kirchenchefs, Bischof Amédée Grab und Pfarrer Thomas Wipf, eigentlich fristlos entlassen werden. Doch Grab und Wipf sind nicht Verwaltungsratspräsidenten börsennotierter Konzerne, sondern die Präsidenten der Schweizerischen Bischofskonferenz respektive des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) und ohne finanzpolitische Kompetenzen. Für arbeitsrechtliche Fragen sei der SEK nicht zuständig, sagt dessen Innenbeauftragter Markus Sahli. Ausserdem wäre es aufgrund der weitgehenden Autonomie der Kirchgemeinden sehr aufwändig, solche Daten zu erheben.
Dabei wäre dies von grosser Bedeutung, denn immerhin gehört die Kirche zu den wichtigsten Arbeitgebern der Schweiz. Weit über 10000 Personen sind für eine der beiden grossen Konfessionen tätig. Fachleute schätzen den Jahresumsatz auf drei bis vier Milliarden Franken. Durch Kirchensteuern kommen 1,5 Milliarden Franken zusammen. Welche Konfession wie viel erhält, ist aber nicht bekannt. Kosch glaubt, dass seiner römisch-katholischen Kirche höchstens die Hälfte zur Verfügung steht, obwohl es mehr Katholiken gibt als Protestanten. Als Grund für diese Annahme nennt er den höheren katholischen Anteil bei den Einwanderern, die ärmer sind und weniger Kirchensteuern zahlen.
Letztes Jahr zählte die reformierte Kirche landesweit 1567 Vollzeit-Pfarrstellen. Die tatsächliche Zahl der besoldeten Pfarrerinnen und Pfarrer liegt aufgrund der Teilzeitpensen um einiges höher. Regional kann dies sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Der Kirchenrat beider Appenzell empfiehlt, je 1200 Mitgliedern eine Einzelpfarrstelle zu gewähren. Die Hälfte der Arbeitszeit soll für Seelsorge und Lehrtätigkeit aufgewendet werden. Im Kanton Zürich muss ein Pfarrer hingegen 3000 Gemeindemitglieder betreuen, rechnet der Informationsbeauftragte Nicolas Mori vor. Dafür wird er in der Regel von jeweils einem Mitarbeitenden der Sozialdiakonie (kirchliche Sozialarbeit) unterstützt.
Die katholische Kirche beschäftigte bei der letzten Erhebung vor fünf Jahren 3200 Seelsorger, darunter je 1200 Priester und Laientheologen. In der Verkündung von Gottes Wort, in der Seelsorge und Sozialdiakonie sind damit landesweit mindestens 6000 Personen für die Kirche tätig. Dazu kommen zahlreiche Lehrkräfte (Katecheten), Sigristen, Organisten und Sekretariatsangestellte in den Kirchgemeinden, die Beschäftigten in Verwaltung und Fachstellen der landeskirchlichen Dienste sowie das Personal der Bistümer, der nationalen Institutionen, der Ordensgemeinschaften und der Hilfswerke. Alleine in der reformierten Kirche Basel-Stadt
mit ihren rund 40000 Gläubigen stehen 600 Personen auf der Lohnliste – die allermeisten mit Teilzeitpensen. Caritas und HEKS beschäftigen rund 700 Personen.

Weltliche Unternehmen vermarkten klösterliche Produkte

Die Kirche ist ein regelrechter Mischkonzern: Sie ist in der Sozialarbeit, im Bildungs- und Gesundheitswesen tätig, in der Land- und Forstwirtschaft, im produzierenden Gewerbe und im Handwerk, in Tourismus, Hotellerie und Gastronomie. Sie macht Radio und Fernsehen, produziert Zeitungen, Bücher, CDs und DVDs und veranstaltet kulturelle Anlässe. Finanzanlagen sind ebenso ihr Geschäft wie Entwicklungshilfe. Zudem vergibt sie namhafte Aufträge und schafft Arbeitsplätze bei ihren Zulieferern, etwa im Bau, im Druckereigewerbe, in der Werbewirtschaft oder im Kulturbereich.
Zur Branchenvielfalt tragen insbesondere die Klöster bei. Das Kloster Engelberg betreibt mit rund 140 Beschäftigten unter anderem eine Schule, ein Elektrizitätswerk, eine Sägerei, eine Schreinerei und eine Schmiede. Im Thurgauer Kloster Fischingen halten 110 Angestellte ein Bildungshaus, Internate und Schulen mit sozialpädagogischem Schwerpunkt sowie eine Schreinerei am Laufen. Das Frauenkloster Fahr bei Zürich bildet Jungbäuerinnen aus, betreibt Weinbau und verkauft Lebens- und Heilmittel, Wein und Likör sowie Handwerksprodukte im Klosterladen. Die Dominikanerinnen im Kloster Weesen am Walensee sind bekannt für ihre Hostienbäckerei.
Trotz Biolandwirtschaft, nachhaltiger Waldbewirtschaftung und Bewahrung alter Handwerkskünste:
Heile Welt herrscht nicht in den Klöstern. Unrentable Betriebe werden dichtgemacht, in Engelberg etwa
Mühle und Metzgerei. Die bekanntesten klösterlichen Produkte werden längst von weltlichen Unternehmen vermarktet. Das Klosterbier der Kartause Ittingen TG gehört dem Heineken-Konzern; der ehemals im Kloster Bellelay hergestellte «Tête de moine» (Mönchskopf) wird von jurassischen Käsegenossenschaften hergestellt.

Zukunftsperspektiven: Stellenabbau und Lohnreduktion

All diese Entscheidungen sind in erster Linie Sache der Kirchgemeinden und Orden. Zwar werde «jeder Rappen, den die Landeskirchen ausgeben» öffentlich ausgewiesen, sagt Christoph Weber von der reformierten
Zürcher Fachstelle Kirche und Wirtschaft – allerdings auf Gemeindeebene. Weder in der protestantischen noch in der katholischen Kirche existieren einheitliche Anstellungs- und Erfassungskriterien. Soll ein Grafiker, der regelmässig kirchliche Publikationen gestaltet, ein Mandat oder eine Teilzeitanstellung erhalten? Wer
meldet, wenn eine Organistin Teilzeitpensen in drei Kirchgemeinden übernimmt, vielleicht gar in verschiedenen Kantonen? Hauptgrund für die schwache Datenbasis über die Wirtschaftskraft der Kirche ist also nicht böser Wille, sondern die föderalistische Struktur der Kirche.
Freigesprochen werden die Kirchen deswegen noch nicht. Kosch bedauert, dass auch in der katholischen
Kirche einige Stiftungen und Kreise «höchst ungern» über ihre finanzielle Lage sprechen. In reformierten
Kreisen wird kritisch angemerkt, die schwache Stellung des SEK sei politisch gewollt. Im Klartext: Aus Angst vor einer «Vatikanisierung» der reformierten Kirche scheuen die Kantonalkirchen eine Stärkung ihrer Zentralbehörde wie der Teufel das Weihwasser.
Klar ist, dass die Kirche ein Schrumpfkonzern ist. Seit Jahren sinkende Einnahmen zwingen zu einem Arbeitsplatzabbau. So müssen bis 2007 die Landeskirchen im Kanton Bern 29 von rund 480 Pfarrstellen abbauen. In Basel-Stadt rechnet die katholische Kirche damit, dass sie in zehn Jahren mit 30 Prozent weniger Mitteln auskommen muss. Im Kanton Zürich gehen jährlich zwei bis drei reformierte Pfarrstellen verloren. In Genf werden im kommenden Jahr noch 60 reformierte Pfarrer für die 100000 Gläubigen zuständig sein, 40 weniger als noch vor einigen Jahren. In einigen Gemeinden werden auch Pfarrstellen abgebaut, um Stellenprozente für die Sozialarbeit freizuschaufeln.
Mit weniger Personal dasselbe leisten – oder, angesichts der sozialen und seelsorgerischen Herausforderungen, sogar mehr als früher: Die Kirche kann sich dem allgemeinen ökonomischen Trend nicht entziehen. Der Leistungs- und Rechtfertigungsdruck habe auch in der Kirche zugenommen, bestätigt SEK-Fachmann Sahli.
Aus der Ostschweiz stammen umstrittene Vorschläge, reformierte Pfarrer und Diakone nicht mehr von der Basis zu wählen, sondern in regulären Arbeitsverhältnissen anzustellen. So sollen Lohnkürzungen oder gar Entlassungen einfacher durchgesetzt werden können.
Thomas Wallimann, Leiter des Sozialinstituts der Katholischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), kritisiert, dass die Kirche auf die schwindenden Mittel mit einem «fantasielosen» Stellenabbau reagiere. Dies führe zu Spannungen. Er fordert die Kirche auf, sich stärker über Professionalität und Mehrwert der kirchlichen Arbeit Gedanken zu machen. «Die Leute sollen sagen: ‹Ja, es ist uns wichtig, dass die Kirche jemanden einstellt, der Zeit für uns hat.›» Dazu dürfe sich die Kirche aber nicht mit einer kleinen Gruppe zum «Wohlfühlen» in ihr Gebäude zurückziehen, sondern müsse Werthaltungen in die Gesellschaft einbringen.
Auf gutem Weg sieht Sahli die Professionalisierung der reformierten Kirche. In den letzten 15 Jahren seien zahlreiche organisatorische Massnahmen eingeführt worden, mit denen Strategien entwickelt, die Abläufe verbessert, die Finanzen überwacht und die Mitarbeitenden besser geschult werden können. Spürbar sei dies vor allem in der Sozialdiakonie. Dort würden die früheren Gemeindehelfer sukzessive durch Personal mit Fachhochschulausbildung ersetzt. Man wolle flexibel auf Veränderungen reagieren können, aber eine verlässliche Arbeitgeberin bleiben, sagt Sahli. Im Vergleich zur Privat-wirtschaft gilt die Kirche nach wie vor als gute Arbeitgeberin, wie auch Wallimann einräumt. In einer Umfrage in Deutschland unter jungen Berufstätigen sagten zwei Drittel, sie könnten sich eine Tätigkeit bei einem kirchlichen Unternehmen vorstellen. Über die Arbeitsbedingungen der Kirchen in der Schweiz äusserten sich gegenüber dem «arbeitsmarkt» mehrere, anonym befragte Angestellte von Kantonalkirchen positiv.
Im Hintergrund des Stellenabbaus und Leistungsdrucks steht der Mitgliederschwund der Landeskirchen. Jährlich gehen ihnen über 30000 Mitglieder verloren. Gemäss Volkszählung sank der Anteil der römisch-katholischen Mitglieder an der Gesamtbevölkerung
zwischen 1990 und 2000 von 46 auf 42 Prozent, derjenige der evangelisch-reformierten von 38,5 auf 33 Prozent. Seither hat sich der Trend eher noch verschärft. Die Zahl der Austritte aus der reformierten Kirche stieg innert vier Jahren um 3000 auf jährlich über 14000. Dem stehen nur jeweils rund 2000 Eintritte gegenüber. Die reformierte und die kleine christkatholische Kirche leiden zudem unter Überalterung. Ein Viertel der Reformierten war bei der letzten Volkszählung über 60 Jahre alt. Die römisch-katholische Kirche hat hingegen von der Einwanderung jüngerer Menschen aus Südeuropa profitiert.

St.Galler St.Leonhardskirche – zum Kulturzentrum umfunktioniert

Ebenso stark hängen die kirchlichen Finanzen mit der Wirtschaftsentwicklung zusammen: Je lauter der
Wirtschaftsmotor brummt, umso höher sind die Kirchensteuererträge der natürlichen und juristischen
Personen. Dies kann regional ganz unterschiedlich sein. So gibt es im reichen Kanton Zug gemäss Daniel Kosch sehr wohlhabende Kirchgemeinden, während die Situation in der Westschweiz teilweise dramatisch ist. In Genf und Neuenburg wird die Situation durch die Trennung von Kirche und Staat erschwert. Die Bezahlung der Kirchensteuer ist freiwillig – nur 10 bis 20 Prozent zahlen auch ein. Mit teuren Werbekampagnen müssen sich die Kirchen auf dem Spendenmarkt behaupten.
Zudem werden einige Landeskirchen (noch) durch erkleckliche Staatsbeiträge unterstützt. In den bevölkerungsreichen Kantonen Zürich, Bern und Waadt werden die Löhne ganz oder teilweise vom Staat übernommen. So erhielt die reformierte Kirche Zürich letztes Jahr vom Kanton 42 Millionen Franken an die Pfarrerlöhne, an die zentralen Dienste oder als Baubeiträge – zusätzlich zu den 190 Millionen, die ihr durch Kirchensteuern zustanden. Den Kanton Bern kosten die staatlich angestellten Priester und Pfarrer gar 70 Millionen im Jahr. Im Waadtland, wo keine Kirchensteuer erhoben wird, finanziert der Staat mit gut 33 Millionen Franken rund 220 Pfarr- und diakonische Stellen. Im Wallis und Tessin werden die Kirchen teilweise von den politischen Gemeinden unterstützt. Zudem tragen die Hochschulkantone die theologischen Fakultäten und entlasten die Kirchen so von der Ausbildung ihres Nachwuchses.
Immer wieder wird den Kirchen vorgeworfen, sie investierten zu viel in «Steine statt in Menschen». KAB-Vertreter Thomas Wallimann findet es gerade bei kleineren Vorhaben «unglaublich», wie rasch eine neue
Kirchentreppe genehmigt werde, während man um einige tausend Franken für eine Fachstelle kämpfen müsse. «Bauten gelten offenbar als berechenbarer als Menschen», sagt er. In Deutschland steckt die Kirche jeden vierten Euro in kirchliche Bauten. In der Schweiz mag der Anteil geringer sein, Neubauten gibt es kaum mehr. Aber Fachleute räumen ein, dass der Unterhalt der historisch oft bedeutsamen Gebäude teuer ist. Manchmal zu teuer: Aus Geldmangel wurden in den letzten Jahren zahlreiche Kirchengebäude für eine weltliche Nutzung umfunktioniert. Aufsehen erregte der im April dieses Jahres genehmigte Verkauf der Kirche St.Leonhard im Zentrum von St.Gallen. Die Kirche soll in ein Kulturzentrum umgebaut werden.

Gott sei Dank existieren Freiwillige und Spenden

Trotz Schrumpfkur, föderalistischen Hemmschuhen und betriebswirtschaftlichen Unsinnigkeiten: Den Teufel an die Wand zu malen und das Ende der Landeskirchen einzuläuten, wie dies einige Pessimisten tun, wäre verfrüht. Denn die Kirchen verfügen über einige Stärken. So erwirtschaften sie einen respektablen Teil ihrer Einnahmen selbst: etwa durch Dienstleistungen für den Staat wie Asylbetreuung, Schulen und Jugendarbeit, sowie durch Verkäufe von Produkten, die Vermietung von Räumlichkeiten, Kapitalanlagen, Spenden und Legate.
Eine gesamtschweizerische Erhebung über diese Beiträge existiert nicht, sie dürften aber erheblich sein. 1995 spendeten die Gläubigen des Kantons Zürich 27 Millionen Franken an die reformierten Kirchgemeinden. Die Hilfswerke Caritas, HEKS, Brot für alle und Fastenopfer nehmen jährlich rund 200 Millionen Franken ein, einen ansehnlichen Teil aus privaten Spenden. Im Jahr 2003 trieb ein fast schon verzweifelter Aufruf der katholischen Kirche die Gläubigen dazu, 1,6 Millionen Franken zu spenden. Bei einer landesweiten Kollekte kommt nach Angaben der RKZ auf katholischer Seite bis zu eine halbe Million Franken zusammen.
Als «das grosse Kapital der Kirchen» bezeichnet Nicolas Mori die Freiwilligenarbeit an der Basis. Für die reformierte Kirche Zürich leisten 25000 Freiwillige jährlich über eine Million unbezahlte Arbeitsstunden. Laut Studien kommt auf jede bezahlte eine freiwillige Arbeitsstunde. Zahlreiche «Passivmitglieder» begnügen sich hingegen damit, in wenigen, aber wichtigen Momenten des Lebens die Rituale der Kirchen in Anspruch
nehmen zu können. Für den Rest des Jahres übertragen sie den Kirchen die Aufgabe, sich der Ökonomisierung der Gesellschaft entgegenzustemmen und sich der Schwächeren anzunehmen. Aus werbetechnischer Sicht haben die christlichen Kirchen einen weiteren grossen Vorteil: Ihr Produkt, das Wort Gottes, behauptet sich seit fast 2000 Jahren unverändert im Markt, ihr Markenzeichen «Kreuz» hat einen Bekanntheitsgrad von gegen 100 Prozent.

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