«der arbeitsmarkt» 04/2006

«Die RAV sind eine Non-Profit-Organisation»

Vor zwei Monaten kritisierte der Unternehmer Otto Ineichen im
Gespräch mit dem «arbeitsmarkt» die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren hart. Nun antwortet ihm Kurt Simon, Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt im Kanton Luzern, und betont: Wer die RAV mit den privaten Stellenvermittlern gleichsetzt, vergleicht nicht Äpfel mit Birnen, sondern Äpfel mit Ananas.

der arbeitsmarkt: Wir erhielten auf unser Interview mit Otto Ineichen Reaktionen, die mit der Bitte versehen waren, nicht veröffentlicht zu werden. Grassiert bei den Arbeitsmarktbehörden die Angst, an die Öffentlichkeit zu treten?
Kurt Simon: Überhaupt nicht, wir haben nichts zu verstecken. Nur wollen wir nicht reagieren, sondern aktiv informieren. Die Arbeitslosigkeit beschäftigt die Leute. Sie beginnen sich zu fragen: «Was machen eigentlich die RAV?» Man weiss nicht genau, wie wir arbeiten, und manche Leute kommen sogar zum Trugschluss, dass die RAV schuld sind, dass es Arbeitslose gibt. Dieses Bild muss korrigiert werden. Darum bin ich froh, dass Herr Ineichen die RAV thematisiert. Seine Vorwürfe sind zum Teil aber happig und ich bin froh, darauf sachlich antworten zu können. Wir streben eine aktive und konstruktive Information und Öffentlichkeitsarbeit an. 
Fühlten Sie sich von Ineichens Kritik angegriffen?
Ich fühle mich grundsätzlich nicht betroffen. Mein Anliegen ist, klarzustellen, wo die Unterschiede zwischen den RAV und den privaten Stellenvermittlern liegen. Da werden immer unsinnige Vergleiche gemacht: Schaut doch die privaten Stellenvermittler an, die sind doch viel effizienter als die RAV. Das ist einfach falsch, wenn man unsere Ausgangslage, unsere Möglichkeiten und unsere Grenzen betrachtet. 
Was unterscheidet denn die RAV von den privaten Stellenvermittlern?
Die RAV wurden eingeführt, weil man den Arbeitslosen nicht einfach nur Geld zahlen wollte. Es gibt Leute, die brauchen nicht nur finanzielle Hilfe, sondern zusätzlich Beratung und Betreuung. Ich weiss aus meiner Erfahrung, dass sich die privaten Stellenvermittler nicht um diese Menschen kümmern. Ich habe damals viele Dossiers von Stellensuchenden einfach zurückgeschickt. Das waren alles Dossiers, bei denen ich das Gefühl hatte, sie nicht «verkaufen» zu können. Wir, die RAV, sind jetzt aber die Stelle, die sich um alle Stellensuchenden kümmern muss. Das ist sinnvoll, aber dadurch können wir nicht gleich arbeiten und auch nicht denselben Erfolg vorweisen wie die Privaten. Das muss man wissen. Wenn man die RAV mit den privaten Stellenvermittlern vergleicht, dann vergleicht man nicht Äpfel mit Birnen, sondern Äpfel mit Ananas. Die RAV sind eine Non-Profit-Organisation, die privaten Stellenvermittler sind kommerzielle Unternehmen.
Wie helfen die RAV neben ihrer Vermittlungstätigkeit?
Wir versuchen, jene Leute, die weniger gute Voraussetzungen haben, arbeitsmarktfähig zu machen – unter anderem mit arbeitsmarktlichen Massnahmen. Ein privater Stellenvermittler macht dahingehend nichts. Da müssen sie perfekt  vermittelbar sein, damit der Vermittler sie verkaufen will. Wenn sie auf dem Arbeitsmarkt nur schwer zu verkaufen sind, lässt er sie fallen. 
Es bestehen also auch bezüglich des Aufwands Unterschiede?
Ja. Der private Stellenvermittler führt mit jedem Stellensuchenden ein einziges Gespräch. Dann legt er ihn in seiner Kartei ab und versucht, ihn so schnell wie möglich zu vermitteln. Wir führen aufgrund des Gesetzes mit jedem Stellensuchenden im Schnitt ein Gespräch pro Monat. Und was macht ein privater Vermittler, der einen Stellensuchenden nach einem halben Jahr oder einem Jahr nicht vermitteln kann? Er schickt das Dossier zurück. Wir können das nicht. Wir betreuen die Leute zwei Jahre lang. Wir haben also einen viel grösseren Betreuungs-, Beratungs- und Administrationsaufwand als ein privater Vermittler. Wir haben viel weniger Zeit, um aktiv zu verkaufen. Die Voraussetzungen sind also sehr unterschiedlich. 
Kann man denn die Wirkung vergleichen?
Überhaupt nicht. Ich sage das mal etwas deutlich: Wir haben gute, stellenlose Fachleute auf den RAV, die vielleicht noch andere als berufliche Probleme haben. Viele unserer Stellensuchenden kommen deshalb mit den Privaten gar nicht ins Gespräch. Wenn Herr Ineichen oder der Gesetzgeber von uns verlangten, dass wir gleich arbeiten wie die privaten Stellenvermittler, dann machen wir das sofort. Aber dann suchen wir uns die Bewerber auch aus, führen noch ein oder zwei Gespräche mit ihnen und schicken  sie, wenn wir sie nicht vermitteln können, danach zurück. Wir machen aus unseren fünf RAV im Kanton Luzern bei Bedarf in einem halben Jahr fünf Top-Beratungsunternehmen. Das könnten wir auch! 
Herr Ineichen spielt die RAV der Kantone gegeneinander aus. Im Kanton Nidwalden würde sich nach einem halben Jahr ein ganzes Team um die Leute kümmern, inklusive Beraterwechsel. Zudem verhängt Nidwalden laut Statistik am meisten Sanktionen. Wie sieht das in Luzern aus? Ist man da auch so streng? 
Wir nehmen nach acht Monaten einen Beraterwechsel vor, damit sich keine Routine einschleicht. Das ist unsere Politik. Wir betrachten die Stellensuchenden, die zu uns kommen, als Kunden. Wir wollen mit ihnen möglichst schnell, möglichst gezielt und möglichst aktiv arbeiten, damit sie schnell einen Job finden. Wir werden erst dann härter und beginnen durchzugreifen, wenn wir merken, dass jemand nicht will oder den Ernst der Lage noch nicht eingesehen hat. Zu unserer Politik gehört auch, dass unsere PB die Stellensuchenden aktiv führen müssen. Wir schauen nicht einfach zu, was die Stellensuchenden machen. Wir sind nicht grundsätzliche Hardliner, nur wenn es nötig und zum Vorteil der Stellensuchenden ist. Wer einmal sieben oder acht Monate arbeitslos ist, beginnt nervös zu werden, und es wird immer schwieriger, eine neue Stelle zu finden. Das wollen wir verhindern. 
Wie bringen Sie die Leute möglichst schnell wieder zurück an die Arbeit?
Indem wir ihnen helfen, möglichst schnell über die richtigen Bewerbungsunterlagen zu verfügen. Zusätzlich sollen sie wissen, wie sie sich auf dem Arbeitsmarkt bewegen müssen, wo sie die richtigen Stellen finden und wie sie vorgehen sollen, wenn sie ein gutes Angebot vorliegen haben. Wenn wir erkennen, dass Bedarf an einer arbeitsmarktlichen Massnahme besteht, organisieren wir sie. Wir wollen aber nicht, dass alle Stellensuchenden zwingend in eine Massnahme gehen müssen, sondern nur jene, bei denen der Berater eine Lücke sieht, die  auf diese Weise zu beheben ist. 
Woran harzt es dann?
Wir müssen uns nichts vormachen: Wenn es auf dem Markt keine Jobs gibt, dann können wir die Allerbesten sein, und es bringt doch nichts. Ohne eine Wirtschaft, die Jobs anbietet, sind die Möglichkeiten der RAV, genauso wie die der privaten Stellenvermittler, limitiert. Warum entlassen die privaten Stellenvermittler viele ihrer Angestellten in schlechten Zeiten? Weil auch sie keine Stellenangebote mehr haben. Wir sind auf die Wirtschaft angewiesen. Wir haben keine Stellen, die sonst niemand anzubieten hat. Manchmal denke ich, dass viele meinen, wenn sie selbst keine Stelle fänden, werde ihnen das RAV sicher eine anbieten. Das ist nicht möglich, das ist absolut falsch. 
Was bieten Sie denn, wenn es nicht immer Stellen sind?
In erster Linie bieten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Natürlich vermitteln wir auch. Aber unsere Politik ist die, dass wir uns speziell um die Personen  kümmern, die aus irgendwelchen Gründen selbst oder bei den Privaten keine Chance haben. Das können sehr gute Leute sein, die sich zum Beispiel einfach nicht zu verkaufen wissen. Auf der anderen Seite versuchen wir, dort Stellenangebote zu machen, wo die Privaten das nicht tun, weil es nicht rentiert. Wir haben seit zehn Monaten  die Beratungsstelle Jugend und Beruf in Emmen. Dort kümmern wir uns um Lehrabbrecher und Schulabgänger. Wir vermitteln ihnen Schnupperlehren und Schnuppertage und sogar Lehrstellen. Das macht kein privater Vermittler, weil es nicht rentiert. 
Otto Ineichen engagiert sich beim Projekt ARGE REAP. Könnte man ihm vorwerfen, dass er dort einfach die guten Risiken abschöpft?
Das ist so. Ich möchte dazu aber sagen, dass die Herren von der ARGE REAP zwei ganz flotte Unternehmer sind und ihr Projekt eine konstruktive Sache ist. Wir begrüssen ihre Aktivität. Aber was Herr Ineichen im Interview abstreitet, dass sie nämlich nur die guten Risiken haben, das ist natürlich so. Die ARGE REAP wählt nur jene Ausgesteuerten aus, für die sie auf dem Arbeitsmarkt noch eine Chance sieht. Die ARGE REAP ist ein kommerzielles Unternehmen. Ich unterstütze absolut, was sie  machen, aber ich bin dagegen, dass man sie noch staatlich unterstützt. Und wie gesagt, sie picken die guten Risiken heraus. Das ist kein Vorwurf, das ist eine Tatsache. 
 
Die ARGE REAP arbeitet ausschliesslich mit Ausgesteuerten. Kann man da überhaupt von guten Risiken reden?
Das stimmt natürlich. Man kann sich fragen: Warum kann die ARGE REAP Ausgesteuerte vermitteln, wenn es die RAV nicht konnten? Aber da muss ich wieder sagen: Wir können uns nicht in jedem Fall so intensiv um Stellensuchende kümmern, wie es  die ARGE REAP kann. Die ARGE betreut die Vermittelten noch während der Probezeit. Dafür müssten wir auf den RAV unseren Personalbestand verdoppeln. Ich mache der ARGE REAP keinen Vorwurf. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis mit ihr, aber man kann uns nicht miteinander vergleichen. Das 
wäre derselbe falsche Vergleich wie mit den privaten Stellenvermittlern.
Warum werden diese Leute überhaupt  ausgesteuert, wenn sie danach gut vermittelbar sind?
Gut vermittelbar sind sie im Vergleich zu den anderen Ausgesteuerten und Sozialhilfebezügern. Wenn einer ausgesteuert wird, dann heisst das nicht, dass die RAV schlecht gearbeitet haben. Die RAV sind aus den bereits mehrfach erwähnten Gründen nicht immer in der Lage, sich so intensiv wie gewünscht und nötig um alle Stellensuchenden zu kümmern.
Die Nachhaltigkeit der ARGE REAP ist noch nicht erwiesen. 
Das stimmt. Ob die ARGE REAP Erfolg hat, das werden wir nach einem oder zwei Jahren sehen. Ich wünsche ihr das natürlich. Es darf einfach nicht so weit kommen, dass man Ausgesteuerte für ein Jahr beschäftigt, nur damit sie bei uns wieder anspruchsberechtigt werden. Ich will das der ARGE REAP nicht vorwerfen, nur muss sie dafür sorgen, dass das ihre Auftraggeber auch so sehen.
Otto Ineichen führt den Vermittlungserfolg der ARGE an und wirft den RAV vor, ineffizient zu sein.
Es ist falsch, wenn Herr Ineichen uns vorwirft, dass wir passiv und ineffizient seien und nur mit Routine statt Kreativität arbeiteten. Bevor ich jemandem solche Vorwürfe mache, würde ich hingehen und mich informieren, um diese Vorwürfe auch begründen zu können. Herr Ineichen war nie bei mir oder bei uns auf einem RAV. Für mich sind das deshalb völlig haltlose Vorwürfe. Das ist für mich Stimmungsmache. Ich lade Herrn Ineichen jederzeit gerne ein, um ihm zu 
zeigen, wie «passiv» und «ineffizient» und «routinemässig» wir arbeiten. Er wird dann feststellen können, dass dies in keiner Art und Weise zutrifft.
Der Kanton Luzern kommt doch bei Ineichen gar nicht so schlecht weg.
Ja, er lobt uns sogar. Weil das Lob nur auf einem Beispiel beruht, zeigt es aber gleichzeitig, wie oberflächlich Herr Ineichen argumentiert. Hätten wir ausnahmsweise einen Fehler gemacht, würden wir jetzt als Idioten dastehen. Wir brauchen uns aber trotz dieser Relativierung überhaupt nicht zu verstecken. Unsere RAV arbeiten sehr markt- und kundenorientiert. Unsere RAV-Leitenden und RAV-Beratenden sind Unternehmer. Dafür und für ihre tägliche Arbeit möchte ich ihnen ein Kompliment aussprechen.
Fühlen Sie sich ernst genommen von der Privatwirtschaft? 
Wir werden dann nicht ernst genommen, wenn man uns an den privaten Stellenvermittlern misst. Wenn wir aber den Arbeitgebern erklären, was wir machen und was wir können, und was wir eben auch nicht können, dann werden wir sehr ernst genommen. Wir machen im Kanton Luzern seit einem Jahr mit allen RAV-Angestellten eine intensive Schulung über den Kontakt mit 
Arbeitgebern. Jeder Berater besucht Arbeitgeber und informiert sich über deren Bedürfnisse und sie darüber, was wir machen können und was nicht. Er muss dort die richtigen Erwartungen wecken. Wenn die Arbeitgeber über unsere Möglichkeiten Bescheid wissen, dann können sie uns gegenüber den privaten Stellenvermittlern richtig einordnen und wir erfahren eine absolute Akzeptanz. 
Otto Ineichen wirft den RAV auch vor, dass sie Arbeitslosen zum Teil raten, sich vor der Aussteuerung bei der IV zu melden. 
Wenn das eine grundsätzliche Politik wäre, dann wäre sie falsch. Das machen wir bei uns aber nicht. Trotzdem kann es im Einzelfall aus psychischen oder physischen Gründen richtig sein. Da pauschalisiert Herr Ineichen wieder, und das ist schade.
Wo pauschalisiert er noch?
Er erweckt den Eindruck, dass jeder, der einen Job will, auch einen findet. Das möchte ich entschieden zurückweisen. Das ist falsch und respektlos gegenüber 200000 Stellensuchenden. Und es ist gesellschaftspolitisch eine sehr ungeschickte Aussage. Wir haben auch in der Schweiz die Gefahr, dass der Graben zwischen Arm und Reich immer breiter wird. Mit solchen Argumenten schürt er diese Tendenz natürlich. Er würde besser das Gegenteil machen!
Er sagt auch, dass man zur Not zwei Wochen Gratisarbeit in Kauf nehmen müsse, um einen Job zu bekommen.
Ich weiss nicht, was für ein Bild Herr Ineichen von Arbeitslosen hat. Das sind Menschen  wie er und ich. Sie  haben nichts verbrochen. Warum soll man sie in dieser Situation dermassen respekt- und würdelos behandeln? Es ist mir ein Rätsel, wie ein Volksvertreter so etwas fordern kann. 
Ineichen schlägt vor, die RAV-PB auf Provision arbeiten zu lassen, um die Vermittlungsquote zu erhöhen. 
Wenn wir mit den gleichen Voraussetzungen und Möglichkeiten wie die privaten Stellenvermittler arbeiten können: sofort! Aber stellen Sie sich vor, unsere PB würden heute auf Provisionsbasis arbeiten. Sie würden sich nur noch um jene kümmern, die sie vermitteln könnten. Es ginge ja immerhin um ihren Lohn. Solange wir den heutigen Auftrag haben, uns um alle Stellensuchenden zu kümmern, ist das ein völlig falscher Ansatz. 
Otto Ineichen kritisiert auch, dass die Arbeitslosen selber zu wenig flexibel seien. Er erwähnt das Beispiel eines Mannes mit jahrelanger Büroerfahrung, der im Tiefkühllager wieder angefangen hat.
Das finde ich gut, dass er das macht. Der Punkt ist nur, dass das ein Einzelfall sein wird. Die Erfahrung zeigt, dass die Arbeitgeber nicht bereit sind, jemanden einzustellen, der einen ganz anderen Job machen will. Sie wollen zum Beispiel auch niemanden einstellen, der bereit wäre, auf einer tieferen Hierarchiestufe einzusteigen. Sie nehmen an, dass er nur vorübergehend kommt, weitersucht und bald wieder geht. Ich würde diese Flexibilität der Arbeitgeber begrüssen und  wäre sehr froh, wenn Otto Ineichen dies bei den Arbeitgebern fördern würde.
Sie spielen den Ball also zurück.
Man kann sich durchaus fragen, was die RAV eigentlich erreichen können, wenn die Wirtschaft gewisse Arbeitnehmer nicht mehr anstellt. Das ist eine Frage, die uns die Gesellschaftspolitik in den nächsten Jahren beantworten muss. Die Wirtschaft bietet immer weniger Arbeit. Die Firmen wachsen und machen Gewinne, aber dafür braucht es nicht zwingend mehr Personal. Es gibt immer mehr Arbeitnehmer, die man in der Wirtschaft nicht mehr benötigt. Was machen wir mit ihnen? Diese Frage wird uns in den nächsten Jahren meiner Meinung nach stark beschäftigen. 
Wäre es sinnvoller, diesen Leuten ein Grundeinkommen zu zahlen?
Diese Diskussion muss irgendwann geführt werden. Als Alternative gäbe es auch 
eine negative Einkommenssteuer, aber die wäre an einen Erwerb gebunden. Das Grundeinkommen ist eine sehr überlegenswerte Idee: Natürlich müssen wir Missbräuche bekämpfen, aber wir müssen aufhören, bedürftige Menschen einfach pauschal als Scheininvalide und Arbeitsfaule zu stigmatisieren. Wir müssen dafür sorgen, dass sie ein Einkommen erhalten und damit ein anständiges Leben führen können. Deshalb würde ich es unterstützen, solche neuen Modelle zu diskutieren. 
Können wir nicht einfach darauf warten, dass sich die wirtschaftliche Situation wieder verbessert?
Wir warten alle auf Wachstum und meinen, dass dann die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Aber schauen sie mal vierzig Jahre zurück. Seither hatten wir immenses Wachstum, doch gleichzeitig noch nie so viele Arbeitslose. Warum sagt man also, dass Wachstum Arbeitslosigkeit vermindert? Ich bin dieser Ansicht  gegenüber sehr skeptisch. Laut Umfragen bereitet die Arbeitslosigkeit den Menschen am meisten Sorgen. Das wird uns noch viele Jahre beschäftigen, und deshalb müssen wir neue Ansätze finden. Das könnte auch die Arbeit der RAV völlig verändern. Vielleicht reden wir dann nicht mehr ausschliesslich von Integration in den Arbeitsmarkt, vielleicht haben wir dann noch andere Aufgaben.
Braucht es neue Ansätze bei der Verteilung oder bei der Wahrnehmung der Arbeit?
Beides. Entweder müssen wir die Erwerbsarbeit anders definieren – es gibt sehr viel Arbeit, die freiwillig gemacht wird; wir könnten sagen, die wäre uns eigentlich ein Entgelt wert. Oder wir müssen akzeptieren, dass wir nicht mehr alle Leute beschäftigen können, dann aber jene, die nicht beschäftigt werden können, nicht mehr stigmatisieren. Und man muss ihnen ein Einkommen geben. Mir ist ein Einkommen lieber als Taggelder oder wirtschaftliche Sozialhilfe. Da habe ich doch immer ein schlechtes Gewissen. Wir müssen uns überlegen, was wir mit diesen Menschen  machen, welche auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt sind. Wir müssen aufpassen, dass wir sie nicht einfach ausgrenzen, weil wir sie nicht beschäftigen können. Ich erwarte, dass man das gesellschaftspolitisch demnächst diskutieren wird. 
Auch die verlangten Arbeitsbemühungen kommen bei Ineichen nicht gut weg, und dass sich dadurch die Bewerbungen in den Firmen stapeln.
Das ist ein heikler Punkt. Laut Gesetz braucht es Arbeitsbemühungen, und das ist auch gut so. Was ich falsch finde, ist, wenn man querbeet von jedem Stellensuchenden eine bestimmte Anzahl Bewerbungen verlangt. Das machen wir aber nicht so im Kanton Luzern. Unsere Politik ist, dass der Berater im Kontakt mit dem Stellensuchenden je nach individueller Situation die Anzahl der verlangten Arbeitsbemühungen festlegt. Wenn man Quantität statt Qualität verlangt, ist das falsch. Es kann nicht gut sein, wenn man sich sinnlos bewirbt, nur um auf zehn Arbeitsbemühungen zu kommen. Da würden wir uns unglaubwürdig machen.
Ineichen forderte im Interview mit dem «arbeitsmarkt» mehrfach, man solle im Rahmen der Flexibilität zu schlechteren Konditionen arbeiten.
Ich finde, dass man auch vom Lohn her flexibel sein muss. Aber ich bin dagegen, wenn man Arbeitslose auf diesem Weg ausnützen will. Sei es für Gratisarbeit oder für unfaire Löhne. Dass ein Stellensuchender unter Umständen auch Lohnzugeständnisse machen muss, scheint mir selbstverständlich. Aber es ist ebenso selbstverständlich, dass dem Grenzen gesetzt sind. Flexibilität ja, aber anständig. Es gäbe sicher Arbeitgeber, die alle vierzehn Tage jemanden gratis anstellen würden. Wir müssen die Arbeitslosen manchmal auch vor Ausnützung schützen. 
Herr Ineichen kritisiert mangelnde Bereitschaft Berns, nationale Lösungen durchzusetzen.
Das seco misst den Output, also die Wirkung, schreibt uns jedoch nicht vor, wie wir sie erreichen. Vielleicht könnte das seco beratend und beeinflussend mehr machen. Ich wehre mich aber dagegen, für alles eine schweizweite Lösung zu suchen. Die notwendigen Rahmenbedingungen haben wir. Es gibt das Arbeitslosenversicherungsgesetz, zudem Kreisschreiben und andere Instrumente des seco. Damit sind die Rahmenbedingungen klar gesetzt.
Ist nicht auch ein Problem, dass die RAV den falschen Namen tragen?
Ja, das ist ein falscher oder zumindest unglücklicher Name. Regionales Arbeitsvermittlungszentrum suggeriert, dass wir vermitteln. Das tun wir auch, aber ich muss daran erinnern, dass wir das nicht gleich intensiv können wie die privaten Stellenvermittler. Wir haben einen anderen Job. Ich bin aber absolut dafür, dass wir vermitteln, aber der Name verleitet zu falschen Schlüssen. Wenn einer das RAV nicht kennt und stellenlos wird, kann es sein, dass er deshalb mit falschen Erwartungen kommt. 
Geht es darum, den Namen anzupassen oder die Vermittlungstätigkeit auszubauen?
Die Vermittlungstätigkeit kann man schon ausbauen, aber wir wollen und dürfen die Privatwirtschaft nicht konkurrenzieren. Stellen Sie sich vor, wir würden wie ein privater Stellenvermittler funktionieren: Dann kämen die Arbeitgeber nur noch zu uns, weil sie unsere Leistung gratis bekommen. Es darf nach meinem staatspolitischen Verständnis nicht sein, dass die RAV eine funktionierende Privatwirtschaft konkurrenzieren. Wir müssen die Privatwirtschaft ergänzen. Und schliesslich möchte ich Herrn Ineichen noch Folgendes sagen: Wenn er von uns verlangt, dass wir gleich funktionieren wie die privaten Stellenvermittler, dann konkurrenzieren wir vom Staat aus eine funktionierende Privatwirtschaft. Ich habe immer geglaubt, Herr Ineichen wolle möglichst wenig Staat. Dann müsste er aber nicht mit den RAV die privaten Stellenvermittler konkurrenzieren! Wir könnten das nämlich schon, das möchte ich deutlich gesagt haben.
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