Veröffentlicht am 18.12.2014TEXT: Christian Schmid
Fachkräftemangel

«Die Probleme sind hausgemacht»

Weitherum beklagt die Wirtschaft Fachkräftemangel. Im Gesundheitswesen fehlen Hunderte Ärzte und Pflegefachleute – andererseits gibt es immer mehr, vor allem ältere, aber gut ausgebildete und erfahrene Arbeitnehmende, die keine Stelle mehr finden. Was läuft hier falsch? Gespräch mit Arbeitsmarkt- und Bildungsspezialist Rudolf Strahm.

Herr Strahm, Sie sind in einem Alter, in dem sich viele zur Ruhe setzen oder längst zur Ruhe gesetzt haben. Sie aber sind so aktiv wie eh und je und engagieren sich vor allem im Bildungsbereich. Was treibt Sie an?

Ich engagiere mich nur noch für Anliegen, die mir wirklich wichtig sind. Bereits in den 90er-Jahren befasste ich mich mit Bildungsfragen und gestaltete im Parlament die Berufsbildungsreform aktiv mit. Als Preisüberwacher musste ich dann schweigen und durfte mich nur noch zu Marktordnungsfragen äussern. Nach der Pensionierung habe ich mein altes Thema, die Berufsbildung, wieder aufgenommen.

Mit dem Privileg, freier sprechen zu können?

Ja, ich habe jetzt die Narrenfreiheit des Veteranen und kann mich freier äussern – auch zu Dingen, die ich im Wirtschafts- und Bildungsdepartement gesehen habe, dem ich als Preisüberwacher angegliedert war. Und ich habe heute natürlich auch etwas mehr Distanz zur «Berner Mechanik».

Stichwort Fachkräftemangel. Wird dieses Problem von Arbeitgeberseite dramatisiert – vielleicht sogar absichtlich –, oder ist es tatsächlich gravierend?

Das Schlagwort vom Fachkräftemangel ist herbeibemüht und auch missbraucht worden, namentlich im Zusammenhang mit der Abstimmung über die Personenfreizügigkeit. Rational und von ideologischem und parteipolitischem Ballast befreit, stelle ich fest, dass wir bei den Fachkräften tatsächlich ein Mangelproblem haben. Das heisst aber nicht, dass wir zu wenig Akademiker haben, sondern einen spezifischen Mangel im Gesundheitsbereich bei Ärzten und Pflegepersonal sowie in den so genannten MINT-Berufen, also solchen, die mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik zu tun haben. Diese Mängel sind aber hausgemacht. Deshalb müssen wir das Problem rational und aus bildungspolitischer Optik betrachten: Wo sind die Mängel? Was haben wir falsch gemacht? Was müssen wir ändern?

Täuscht der Eindruck, dass es manchmal ganz praktisch sein kann, sich einfach auf den Fachkräftemangel zu berufen?

Die Personenfreizügigkeit hat zwei Seiten. Sie hat den Spitälern, der Wirtschaft allgemein ermöglicht, ohne viel Aufwand Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren. Das ist der Vorteil. Aber damit wurde das Problem zugedeckt, dass wir selber zu wenig Leute in den Mangelberufen ausbilden. Dank oder «leid» der Personenfreizügigkeit wurde das Problem lange nicht erkannt. Das ist der negative Aspekt. Erst seit dem 9. Februar – dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative – werden wieder ernsthaft Möglichkeiten debattiert, um diesen Missstand zu beheben.

Was sehen Sie als Lösungsstrategien?

Das Bildungssystem darf nicht sich selbst überlassen werden. Das heisst zum Beispiel: Wir müssen mehr Mediziner ausbilden und den Numerus clausus aufheben. Die medizinischen Fakultäten sollten zudem Auflagen erhalten, damit sie mehr Hausärzte ausbilden und nicht nur Spezialisten. Von selbst werden sie das nicht tun. Denn es ist für Mediziner natürlich attraktiver, in Spezialgebieten zu forschen und zu publizieren als im medizinischen Feld-Wald-und-Wiesen-Bereich.

Das ist die Angebotsseite. Wie steht es bei der Nachfrage?

2012 wollten rund 4000 Jugendliche mit Maturitätsabschluss Medizin studieren. In der Schweiz werden aber nur 1100 Studienplätze angeboten. Es ist also genügend Nachfrage nach einem Medizinstudium vorhanden, aber das Angebot ist zu klein. Im gleichen Jahr hat die Schweiz 1200 Mediziner aus dem Ausland geholt. Es handelt sich hier schlicht um eine Fehlsteuerung im System.

Dasselbe gilt für die Pflegeberufe: Die Spitäler haben es jahrelang versäumt, genügend Personal auszubilden, und damit den Fachkräftemangel selbst verschuldet. Erst in den letzten zwei bis drei Jahren haben sie nun die Zahl der Ausbildungsplätze auf 6000 verdoppelt – eine Zahl, die schon immer nötig gewesen wäre, um die Nachfrage zu decken. Auch hier ist das Problem nicht, dass zu wenig Junge einen Pflegeberuf erlernen wollen. Im Gegenteil: Letztes Jahr haben 4500 Jugendliche keine Lehrstelle im Gesundheitsbereich gefunden.

Soweit zum Gesundheitsbereich. Bei den MINT-Berufen klagt die Wirtschaft ebenfalls über Fachkräftemangel. Wie sehen Sie die Problematik hier?

Der Mangel an Ingenieuren, Informatikern, Mathematikern ist tatsächlich ein weiteres Problem. Grundsätzlich fehlt es nicht an Universitätsabgängern. Das Problem ist ein anderes. Derzeit studieren rund 44 000 junge Menschen Geistes- und Sozialwissenschaften, aber nur halb so viele belegen exakte und naturwissenschaftliche Fächer. Grund dafür ist die Sprachlastigkeit der Gymnasien. Das heisst, dass viele eher technisch begabte und interessierte Jugendliche – es betrifft überwiegend männliche – die Gymi-Prüfung nicht schaffen, wenn sie nicht gleichzeitig auch sprachlich begabt sind. Hier wird eine Negativselektion betrieben von mathematisch, technisch und naturwissenschaftlich orientierten Jugendlichen. Das Problem ist also ebenfalls hausgemacht.

Problem Rekrutierung: Eine erste Selektion wird heute oftmals per Computer vorgenommen oder von ausgelagerten Personalabteilungen in Billiglohnländern. Besteht damit nicht die Gefahr, dass an sich geeignete Schweizer Bewerber aus dem Selektionsprozess herausfallen, weil sie nicht die «richtigen» Diplome vorweisen können?

Die KMU-Wirtschaft weiss noch sehr wohl, was eine Schweizer Lehre wert ist. Anders sieht es in grossen, international ausgerichteten Konzernen aus: Hier sind heute 45 Prozent der Topmanager Ausländer, die unser Berufsbildungssystem nicht kennen. Auch die Personalverantwortlichen sind oft Ausländer, die im Hinterkopf die Idee haben, es brauche überall Akademiker. Für sie ist eine Fachkraft jemand, der über einen Bachelor, einen Master oder einen Doktortitel verfügt. Damit fallen Leute mit mindestens ebenbürtigen, wenn nicht sogar besseren Schweizer Ausbildungen aus dem Rennen, weil ihnen der geforderte Titel fehlt.

Würde es denn reichen, die nichtakademischen Ausbildungswege titelmässig aufzuwerten – zum Beispiel zum Professional Bachelor oder Master –, oder ist dies nur Kosmetik?

Nein, keineswegs: Die Absolventen einer höheren schweizerischen Berufsbildung erhalten nur mit einer Titeläquivalenz gleiche Chancen wie ausländische Bewerber. Zweitens wäre ein vereinheitlichter, berufsübergreifender Titel im Arbeitsmarkt auch ein Plus bezüglich Reputation und Anerkennung des praxisorientierten Ausbildungswegs der höheren Berufsbildungsstufen. An der Uni haben wir diese fachübergreifenden Titel – Bachelor und Master –, bei der Berufslehre ebenfalls – EFZ und EBA. Aber bei der höheren Berufsbildung gibt es 500 unterschiedliche Diplome. Das stiftet Verwirrung. Die akademische Welt hat einfach noch nicht begriffen, dass die höhere Berufsbildung entscheidend ist für die Schweizer KMU. Wie auch in Österreich sind es standespolitische Interessen, die hier eine Lösung bislang verhindert haben.

Nun geht es aber nicht nur um standespolitische Interessen, sondern auch um Prestige: Für viele Auszubildende und ihre Eltern gilt eine akademische Ausbildung als erstrebenswerter als eine höhere Berufsbildung.

Das ist richtig. Die Universitäten sind aber durch die nichtakademischen Ausbildungsgänge an Fachhochschulen und Höheren Fachschulen unter Druck geraten. Sie haben mit Standesdünkel darauf reagiert, indem sie den akademischen zum Königsweg unter den Ausbildungen erklärten. Das hat Herrschaftscharakter und überträgt sich zum Teil auf die Eltern. Denn viele Eltern kennen das Berufsbildungssystem nicht genügend und glauben, dass eine Lehre in eine Sackgasse führt. Das war zu meiner Zeit noch so, heute aber haben wir ein durchlässiges System nach dem Prinzip «Kein Abschluss ohne Anschluss». Das ist vielen nicht bewusst.

Ein anderes Problem: Viele, auch gut ausgebildete Arbeitnehmer finden heute keine Stelle mehr, wenn sie mit über 50 ihren Arbeitsplatz verloren haben. Dies trotz Fachkräftemangel. Was läuft hier falsch?

Das ist hauptsächlich eine Folge der Personenfreizügigkeit. Es ist einfacher und billiger, junge, gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, als einen über 50-jährigen Inländer einzustellen. Diese Problematik zeigt sich übrigens unabhängig vom Bildungsniveau. Sie betrifft gut Ausgebildete, selbständig Erwerbende und Kader genauso wie weniger Qualifizierte, Handwerker oder Bauern. Wenn dem Problem bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dann deshalb, weil die Arbeitslosenquote bei den über 50-Jährigen nicht höher ist als in anderen Altersklassen. Aber: Viele werden von der Arbeitslosenstatistik gar nicht mehr erfasst, weil sie ausgesteuert sind, bei der IV oder dem Sozialamt oder sich irgendwie anders durchschlagen. 

Dann wäre eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit für diese Altersgruppe – die ja auch überdurchschnittlich der Masseneinwanderungsinitiative zugestimmt hat – eine Wohltat.

So einfach ist es nicht. Ich war ja auch kein Befürworter der Blocher-Initiative. Aber die Initiative und vor allem ihre Annahme haben Fragen und Antworten provoziert, die zuvor verdrängt worden sind. So hat beispielsweise der Präsident des Verbandes der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie in letzter Zeit wiederholt gesagt, wir müssten die 50- bis 60-Jährigen wieder in den Arbeitsprozess zurückholen. Es freut mich, dass aus der Schweizer Industrie nun solche Töne kommen.

Von jetzt auf gleich wird sich die Situation aber nicht ändern. Was kann ein arbeitssuchender über 50-Jähriger heute tun?

Vom System her braucht es einen sanften Inländervorrang. Das heisst, dass ein solcher Vorrang jeweils pro Branche vereinbart wird. Ausserdem könnte festgelegt werden, dass Unternehmen eine gewisse Anzahl an Ausbildungsplätzen anbieten müssen, um Fachkräfte im Ausland rekrutieren zu dürfen. In Zug beispielsweise gibt es 100 Rohstofffirmen. Davon bildet gerade mal eine einzige einen Lehrling aus. Es müssten also Vereinbarungen getroffen werden. Aber dazu ist eine hohe Verhandlungskompetenz notwendig – und die ist heute in Bundesbern nicht vorhanden.

Würde die EU einen solchen Inländervorrang schlucken?

Der Inländervorrang ist nach dem Lehrbuch nicht EU-kompatibel. Aber diesen praktizieren manche EU-Länder zumindest informell auch. In Finnland beispielsweise steht in den Stellenausschreibungen, dass der Bewerber Finnisch beherrschen muss. Da hat kaum ein Ausländer Chancen. Ich behaupte – und das sage ich auch den Bundesräten –, dass wir durch eine Wiedereinführung des Inländervorranges das Kontingentsproblem entschärfen oder sogar lösen könnten. Auch wenn ich für die Personenfreizügigkeit bin, so bekämpfe ich den Missstand, dass die ganze Migration heute nur noch durch Arbeitgeberinteressen gesteuert wird. Das ist ein neoliberales Konzept, das sowohl kulturelle Fragen als auch Ausbildungsdifferenzen negiert.

Wer muss nun was tun, um die angesprochenen Probleme zu lösen? Fangen wir bei der Wirtschaft an: Was sind ihre Hausaufgaben?

Sie muss eine Wertschätzung gegenüber der Berufsbildung entwickeln und aufbauen. Und sie muss sich eine gewisse Verpflichtung auferlegen, sich prioritär auf dem Schweizer Arbeitsmarkt einzudecken und nicht einfach den billigsten Weg der Rekrutierung im Ausland zu beschreiten. Das bedeutet auch grössere Investitionen in die Aus- und Weiterbildung des Personals. Die KMU-Wirtschaft macht das, die Dienstleistungswirtschaft und die ausländischen Konzerne in der Schweiz haben das aber vernachlässigt.

Die Aufgaben der Politik?

Der Schlüssel liegt im WBF, dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Als die Bildung in diesem Departement zusammengeführt wurde, geschah dies mit der Absicht, das Bildungssystem stärker aus der Optik des Arbeitsmarktes zu steuern. Das ist bislang nicht geschehen. Ich meine nicht, dass den Universitäten vorzuschreiben ist, welche Vorlesungen sie anbieten dürfen. Aber es können mit Leistungsaufträgen Vorgaben gemacht werden. Der Kanton Waadt hat zum Beispiel von seiner Universität verlangt, die Hälfte der Medizinstudenten zu Allgemeinmedizinern auszubilden. Die Uni Lausanne hat natürlich aufbegehrt und sich auf die Universitätsautonomie berufen. Aber: Die Ausbildung wird zu hundert Prozent vom Steuerzahler finanziert. Und der hat doch ein Anrecht, zu sagen: Ich will für dieses Geld ausgebildete Fachkräfte und nicht nur humboldtsche Geisteswissenschaftler.

Die Universitäten fallen aber bis auf die ETH nicht in die Kompetenz des Bundes.

Auch wenn die Universitäten kantonal sind, so hat der Bund gleichwohl eine Steuerungsfunktion. Es müssten nun Arbeitsgruppen gebildet werden, um beispielsweise im Gesundheitsbereich eine 10-Jahres-Vereinbarung zu treffen, was die Ausbildung von Medizinern und Pflegefachkräften betrifft. Dasselbe gilt für die MINT-Berufe. Aber leider fehlt im Moment die bildungspolitische Führung. Bern überlässt das System sich selbst und rechtfertigt dies mit der Universitätsautonomie oder der Gefahr einer staatlichen Fehlsteuerung. Wird das System aber sich selbst überlassen, entwickelt es sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei. Und dann züchten wir eine «Generation P» – Praktikum da, Praktikum dort, aber keine Aussicht auf Festanstellung.

Viele Probleme, die der Lösung harren. Wenn Sie das alles anschauen, wie optimistisch sind Sie für die Zukunft?

Ich habe jetzt viele Mängel unseres Systems genannt, aber insgesamt steht die Schweiz mit ihrem dualen Berufsbildungssystem und den vergleichsweise starken Hochschulen gut da in Bezug auf die Arbeitslosenquote, die Employability der Jungen, die Integration der Ausländer. Nehmen wir Frankreich oder Spanien: Diese Länder stecken längst in der Akademisierungsfalle. In der Schweiz ist das nur sektoriell der Fall. Ich bin insgesamt durchaus optimistisch, was den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft in der Schweiz betrifft. 

Rudolf Strahm, 71, im Emmental aufgewachsen, diplomierter Chemiker, studierter Ökonom und emeritierter Politiker. Von 1991 bis 2004 für die SP im Nationalrat, von 2004 bis 2008 Preisüberwacher. Autor zahlreicher Bücher, Kolumnist und Lehrbeauftragter.
Jüngstes Buch: «Die Akademisierungsfalle – Warum nicht alle an die Uni müssen»

 

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