«der arbeitsmarkt» 01/2007

Die Germanen in Helvetien

Den einen fällt es am Morgen noch auf, wenn sie den ersten Blick aus dem Fenster werfen: «Aha, die Schweiz!» Die andern sind schon so lange bei uns, dass sie zuerst nach dem Wetter sehen. Gallus Keel (Texte) und Simone Gloor (Fotos, siehe pdf) präsentieren sieben der rund 160000 deutschen Frauen und Männer, die in der Schweiz wohnen und an unserer Volkswirtschaft mitkurbeln.

Klaus Staymann: Von Oberhausen nach Zürich

«Der Job passt mir nicht und Zürich gefällt mir auch nicht!» Das war sein abschliessendes Urteil, als Klaus Staymann vor gut einem Jahr nach einem Vorstellungsgespräch bei Von Roll Inova nach Düsseldorf zurückflog. Heute schmunzelt er, es ist Schnee von gestern. Die Umwelttechnikfirma, die weltweit Anlagen für die thermische Abfallbehandlung hochzieht, also ganze Kehrichtverbrennungsanlagen, lockte den Manager kurzfristig mit einem lukrativeren und interessanteren Job doch noch erfolgreich in die Limmatstadt, «von der ich das erste Mal halt nur das kurze Stück zwischen hier und dem Bahnhof gesehen hatte – und dazu noch bei grauem Regenwetter». Sehr viel mehr als acht Haltestellen der Tramlinie 4 sowie die Bahnstrecke zum Flughafen kennt er auch heute noch nicht. Er gibt es lachend zu.
Staymann arbeitet seit zehn Monaten in der Schweiz. Nahezu jedes Wochenende verbringt er jedoch zusammen mit seiner Frau in Oberhausen, jeden Freitagabend jettet er nach Düsseldorf. Seine Fernbeziehung bewertet er mehrheitlich positiv, «denn in einer Ehe entwickelt sich ja gerne ein gewisser Trott, jetzt aber freuen wir uns richtig aufeinander und auf die Wochenenden». Weil dann auch die ganze Bekannten- und Freundespflege anstehe, gehe es «sehr geballt» zu und her. «Danach am Montagmorgen um halb sieben am Oberhausener Bahnhof zu stehen, im Winter, für die Fahrt zum Flughafen – das ist dann alles andere als angenehm.» Um 10.30 Uhr sitzt er in Zürich im Büro. Fünf dichte Arbeitstage stehen bevor, von denen er manche wieder im Ausland verbringt. Allein in den ersten neun Monaten hat er 110000 Bonus-Meilen zusammengeflogen, «ich bin fast mehr in der Luft als am Boden». Ist er jedoch in Zürich, schätzt er es, dass seine Wohnung nur vierhundert Meter vom Büro entfernt ist. Sie ist ihm der Hort für seine Erholung. Kochen, nein, das tut er nicht, er holt sich etwas beim Griechen. «Und höchstens einmal pro Woche nehme ich auswärts ein Bierchen.» Einen Bekanntenkreis hat er hier noch nicht, nur Berufskollegen. Staymann ist Head of Finance, Accounting und Controlling, ein Selfmademan an strategischer Stelle. Ein Wirtschaftsstudium kommt in seiner Biografie nicht vor, er hat jedoch inzwischen den Riecher, welchen Zahlen er in einem Unternehmen «wie der Teufel» hinterher sein muss. Ein Job also, in dem ihn die meisten am liebsten von hinten sehen, wie er schalkhaft hinzufügt.
Immer wieder flammt das Thema auf, ob seine berufstätige Ehefrau nachziehen solle. Er hält es nicht für ausgeschlossen, «doch zurzeit überwiegen die Nachteile aus meiner Sicht deutlich». Als er noch in Nordrhein-Westfalen arbeitete, hatten sie nur unwesentlich mehr Zeit füreinander, «ich war eigentlich werktags bloss zum Schlafen zu Hause». Der Arbeitsweg im Auto kostete ihn wöchentlich mehr als 7 Stunden und 200 Euro allein an Benzin. Im Schnitt 9 Stunden und 450 Euro braucht er heute für den Hin- und Rückflug – und kann im Flughafen und im Flieger noch Arbeit erledigen. Zu Hause in Oberhausen nochmals zu arbeiten, das verbietet er sich allerdings – bis auf die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Am liebsten ist ihm – und leider kommt es selten vor –, wenn seine Frau für das Wochenende nach Zürich kommt. Da wird dann zaghaft die Restschweiz erobert, sie waren in Zug, in Luzern. Dass Deutsche nicht gerade beliebt seien oder gar gehasst würden, wie ihm andere geschildert haben oder wie er gelesen hat, sind Schweiz-Erfahrungen, die Staymann selber nicht gemacht hat.
«Alles ging immer sehr freundlich.» Dass er von der Dame im Einwohneramt keinen Rüffel bekam, obwohl er einen Termin um drei Monate überzogen hatte, machte ihm Eindruck. «Die Stimmung ist hier grundsätzlich anders. In Deutschland sind viele sehr verängstigt – durchaus begründet natürlich bei den vielen Langzeitarbeitslosen.» In seiner Branche hingegen herrscht kräftiger Aufwind, «die Auftragsbücher sind voll. Weil hier in der Schweiz die Spezialisten fehlen, müssten wir sie in Deutschland holen, wo die meiste Konkurrenz sitzt. Aber ich krieg die nicht hier runter.» Für ein unwesentlich höheres Salär die Familie und das ganze soziale Netz zu verlassen und in die «fremdsprachige» Schweiz umzusiedeln, ist ihnen ein zu hoher Preis. Und wie ergeht es Staymann mit der schweizerischen Mund-Art? «Au, da hapert es noch ganz schön.»

Christiane Stadelbauer: von Stuttgart nach Adliswil

Seit eineinhalb Jahren ist sie jetzt hier. Für die Euroforum Handelszeitung Konferenz AG konzipiert und organisiert Christiane Stadelbauer Veranstaltungen. Als Projektleiterin im Bereich Banken und Finanzmärkte entwickelt sie die Themen und sucht nach geeigneten Referenten. Bei diesem Networking gehen ihr Deutsch, Englisch und Französisch fliessend von den Lippen, doch die Eingeborenensprache macht der Schwäbin noch einige Mühe. Im Büro in Zürich-Wollishofen mit Blick auf den «Zürichersee» plaudert die 39-Jährige aus dem Nähkästchen, also aus ihrer ureigenen Schweiz.
Christiane Stadelbauer hat in Stuttgart technisch orientierte Betriebswirtschaftslehre studiert. Mehrere Auslandaufenthalte machten sie polyglott. In Frankfurt am Main arbeitete sie fünf Jahre im Konferenz- und Kongresswesen, bis sie von starkem Reisefieber ergriffen wurde. Sie sauste neun Monate rund um die Welt. Wieder zurück, wären ihr zum Arbeiten sowohl China und Australien als auch die USA recht gewesen. Ein Schweizer Skigefährte erzählte ihr aber von Schengen und den Bilateralen und dass es jetzt für Deutsche leichter sei, in der Schweiz eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Als leidenschaftliche Skifahrerin war es schon immer ihr Traum gewesen, in der Schweiz zu leben. Leichter geworden ist es mit der Bewilligung tatsächlich, «aber man fliegt dennoch erst einmal auf den Bauch. Vor allem weil man gar nicht vermutet, dass die Schweiz ein ganz anderes System hat. Ich musste hier plötzlich mit einer neuen Fremdsprache herumhantieren. Man braucht schon ein Wörterbuch, ja, man muss Vokabeln büffeln, so wie man einst Englisch lernte. Meist aber frage ich die Leute einfach, was es heisst.» Nach eineinhalb Jahren versteht sie nun nur noch selten Bahnhof, sie hat aber weiterhin vor, einen Kurs in Schweizerdeutsch zu belegen.
Sie lacht schelmisch und möchte, was sie sagt, unbedingt als «sehr, sehr subjektiv» verstanden wissen. «Ich habe den Eindruck, dass die Zürcher oft in alten Freundschafts- und Bekanntschaftsstrukturen stecken. Wer zusammen studiert hat vor zehn Jahren, ist immer noch dick befreundet, einige haben ihre Sandkastenliebe geheiratet. Es ist schwer, als Fremder in diese gewachsenen Strukturen hineinzufinden.» Sehr höflich, freundlich und nett seien die Schweizer, «sie behandeln dich mit wesentlich mehr Respekt als die Deutschen, aber privat kommt man schwer an sie heran». Stadelbauer ist denn in der Freizeit oft bei den «expatriates» zu finden, die eine kleine Subkultur bilden und Rat wissen, wenn sie mit ihrem «paperwork» Probleme hat. Allein schon das Gesundheitswesen. «Die sagen dir: Wähle eine Krankenkasse! Und haben hundert im Angebot. Da braucht man Hilfe.»
Die Schweiz sei halt klein. Bis zur Genüge hat sie das schon gehört. «Ist das ein Komplex dem so genannten grossen Kanton gegenüber? Das haben die Schweizer doch gar nicht nötig. Wenn sie einmal die ganzen Berge aufklappen würden, da bin ich mir nicht so sicher, welches Land dann die grössere Oberfläche hätte.» Natürlich ist Stadelbauer auch schon angefeindet worden als Deutsche, aber sie sieht das eher global und tolerant. Sich anpassen oder sich für seine Eigenart wehren muss man sowohl in Hongkong als auch in Timbuktu. «In Frankfurt hat man mir auch schon gesagt, was ich als Schwäbin denn in Hessen wolle.» Fremdenhass ist das noch lange nicht.
Wer dort aufgewachsen ist, wo der Mercedes-Stern mächtiger leuchtet als der Stern von Bethlehem, erlebt es natürlich nahezu als Autoquälerei, wie die schweizerische Obrigkeit in regelrechten Jagdszenen das Automobil von allen Seiten umstellt und ihm überall die freie Fahrt raubt. Oder anders betrachtet: Christiane Stadelbauer stellt fest, dass man – also sie – hier sofort spüre, dass die Schweizer nicht von der Autoindustrie leben. «Vom Auto aus betrachtet, erlebte ich mich anfänglich in einem Überwachungsstaat. Mittlerweile weiss ich, dass die Bussen eine Geldquelle für den Staat sind. So relativieren sich die tieferen Steuern.» Sie lacht die herbe Kritik gleich wieder weg und gesteht, wie viel sie der Polizei abgeliefert hat: «In den ersten vier Monaten waren es bestimmt tausend Franken. Darunter waren aber mindestens drei rote Ampeln, die in meinen Augen schon bei Gelb blitzten.»
Es klingt nicht vorwurfsvoll, wenn die Schwäbin den hiesigen Strassenverkehr unter die Lupe nimmt. Eher ist es so, und bewirken mag das ihre vorurteilsfreie Herzlichkeit, als ob sie einfach wertvolle Erfahrungen einer Reise weitergeben möchte. Sie beobachtet nur, fast schweizerisch neutral. Und gibt Tipps. «In der Stadt sind überall diese Kästen und die blitzen schon bei 54 km/h. Die Kameras bei den Ampeln sind auch mitten in der Nacht scharf, wenn kein Mensch auf der Strasse ist und man – in Deutschland – etwas schneller fährt.» Ohne Tempomat möchte sie hier jedenfalls nicht mehr fahren müssen. Ziemlich irritiert haben sie die Parkuhren, die man am Abend füttern kann und am Morgen laufen sie weiter. Oder die Buntheit der Parkfelder: weiss, gelb, blau. «Das muss einem erst mal erklärt werden.» Schon beim stehenden Auto – beim fahrenden sowieso – machen Germanien und Helvetien nicht gemeinsame Sache. Die einen parken, die andern parkieren.
Was zügeln heisst, weiss Christiane Stadelbauer inzwischen, und auch, dass das Wohnen hier «extrem teuer» ist: «Das ist für alle Deutschen am Anfang ein richtiger Schlag.» Dafür fällt ihr positiv auf, dass die Duschen hier grösser sind. Und weil ihr dort, wie sie verrät, die besten Ideen kommen, könnte nun eine richtige Ideenflut bevorstehen. Im häuslichen Schauer hat sie vielleicht auch zum ersten Mal formuliert, wo sich ihren Beobachtungen zufolge die beiden  Kulturen am ehesten beissen. «Bezüglich dessen, was sie sagen, wünschen oder fordern, sind die Deutschen oft sehr straight, hier aber ist man weit mehr auf Konsens aus. Man bringt die Dinge nicht so zack! auf den Tisch, man versucht, diplomatischer zu sein. Damit haben viele Deutsche ihre Mühe. Umgekehrt nehmen es die Schweizer sehr persönlich, wenn man ungeschminkt einen Sachverhalt kritisiert.» 

Inge Henschel: Von Dresden nach Küssnacht am Rigi

Ihr Herz quillt über und ihr Charme wirft Funken. Sie kann es selber kaum fassen: «Es ist seit letztem März so viel Schönes geschehen. Unglaublich. Ich gebe zu, für mich ist es immer noch wie im Märchen. Wenn ich jetzt ausholen würde, es wäre eine filmreife Traumgeschichte wie von Rosamunde Pilcher.» Es begann mit einem Geschenk zu ihrem 40. Geburtstag: eine Reise in die Karibik. «Von wem, das sag ich nicht.» Eine Verwandte begleitete sie. Den Kopf leeren, zum ersten Mal so richtig fort aus Dresden, wo Inge Henschel ihr eigenes kleines Reich hatte, einen Hunde- und Katzenpflegesalon mit angegliedertem Zoofachgeschäft. 500 Quadratmeter, drei Beschäftigte, ein Lehrling. «In den letzten dreizehn Jahren – das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen – hatte ich zwei Wochen Urlaub.»
Die Insel Barbados allein schon wühlte sie auf, die Wärme, die üppige Exotik. Das Wunder aber geschah bei der Überfahrt zurück nach Italien. Die Unterhaltung auf dem Schiff war eher für reifere Gemüter, recht volkstümlich, das störte sie aber nicht, «es war eine wunderbare Atmosphäre», und vor allem war da ein Schweizer an Bord und in der Band, «ein wunderbarer Saxofonist, Klarinettist und Unterhalter», der ihr plötzlich etwas Nettes sagte. «Über meine Schuhe.» Auch die Liebe muss manchmal ganz unten anfangen. So ein Mann: Pius.
Daheim in Dresden war die Welt nun nicht mehr ganz in Ordnung. Inge Henschel war aus dem Häuschen, «und ich bin dann in die Schweiz geflogen, habe Pius besucht. Und wieder besucht. Wie aber geht das mit deinem Geschäft, Inge?», fragte sie sich besorgt. «Du kannst nicht ständig zwei Wochen weg.» Im Spätsommer entschied sie sich für «Nägel mit Köpfen, ich machte den Schnitt». Pius hatte mitgeschnitten: «Mann Inge, es gibt noch anderes als arbeiten.» Sie löste ihr Geschäft auf und tauschte die Sachsenhauptstadt gegen das schwyzerische Küssnacht am Rigi ein. «Meine Stammkunden wollten es nicht glauben, dass ich aufhöre und abhaue, aber meine Familie war begeistert. Dabei bin ich doch ein unheimliches Muttikind.»
Heute finden wir Inge Henschel in Luzern im Globus in der Papeterie. Zum allerersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine Bewerbung geschrieben, einen Lebenslauf. «Beim Bewerbungsgespräch war ich so etwas von nervös. Jetzt konnte ich meinen Lehrlingen nachfühlen, wie das ist.» Als dann der erlösende Anruf kam, an einem Freitag, da rief sie der Personalchefin überschwänglich in den Höre: «Ich könnte sie küssen, das wird das schönste Wochenende für mich.» Erst bekam sie die Zusage für den Weihnachtsverkauf, dann kam der Ausverkauf dazu und seit Februar ist sie nun fest angestellt. Ja, sie sei für den Verkauf geboren, sagt sie über sich. Man könne sie überall hinstellen, sie würde alles verkaufen, weniger gern vielleicht Lebensmittel. Man traut ihr sogar zu, dass sie rosarote Brillen unters Volk bringen könnte. «Inge, du bist die halbe Ladenmiete.» Komplimente für ihre offene und herzliche Art hat sie schon in Dresden bekommen und hört sie nun auch von den Luzernerinnen und Luzernern. «Ich sage immer, man kann die Theorie zehnmal lernen, doch entweder man hat es oder hat es nicht, es muss wirklich in einem drin stecken. Und man muss es lieben, das Verkaufen.» Sie mag das Theater, sie mag Publikum, sie hat lieber eine ganze Schlange Kunden vor sich als nur einen. Sie möchte nicht einfach «abkassieren», sondern in den rund 40 Sekunden, die man in einem Warenhaus pro Kunde rechnet, etwas erreichen mit ihm. Sie will ihn gewinnen, indem sie ihn in ein kleines, ganz persönliches Gespräch einbindet. «Thema kann das Wetter sein, was jemand trägt, die Gesundheit, die Frisur, ein Spass, eigentlich alles.»
Dass sie nicht mehr ihre eigene Herrin ist, kümmert Henschel wenig, «ich möchte nicht mehr tauschen». Alles in ihrem neuen Leben stimme, vom neuen Freundeskreis bis zum Lohn. Das junge und moderne Ambiente im Globus ist ganz nach ihrem Geschmack. Am Abend ist sie oft noch in Schuss und könnte locker zwei Stunden weitermachen, sagt sie in überschäumender Begeisterung. Ist sie auch in der Freizeit nicht zu bremsen, spöttelt Pius schon mal, er rufe bei Globus an: «Sie sollen dich abholen.» Kundinnen und Kunden bittet sie, so zu reden wie immer, «ich will es zumindest verstehen lernen – reden, na ja, das ist eine andere Geschichte». Auch ihren Kolleginnen gegenüber gibt sie voll Dampf in Sachen sprachlicher Integration. «Ihr müsst keine Rücksicht auf mich nehmen», ermuntert sie sie. Gerade erinnert sie sich an ein schönes Missverständnis. Da erkundigte sich eine Frau, wo sie Kissen finde, mit Federchen drin, Federli eben, wie es schön eidgenössisch heisst für Daunen. Wie der Esel vor dem Berg stand die Sächsin vor dem Schweizerdeutsch. Sie hatte Väterli verstanden.

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