«der arbeitsmarkt» 03/2015TEXT: Annekatrin KapsFOTO: Stefan Zürrer
Ankleiderin

Die Faszination des reibungslosen Zusammenspiels

Der Ankleidedienst gehört zu den Theaterberufen, die kaum jemand kennt. Sagt Colleen Dunkel, die sich der Kostümpflege am Theater Basel verschrieben hat. Warum Vertrauen ebenso wichtig wie die Schönheit der Kleider ist, zeigt der Blick hinter die Kulissen beim Probenbesuch.

Den Bischof im goldglänzenden Gewand drückt die kegelförmige Mitra im Nacken. Obwohl der Hüne mit gepflegtem Vollbart und Brille höchstens Ende zwanzig ist, kann er die überdimensionierte Kopfbedeckung nicht allein absetzen. Colleen Dunkel assistiert ihm geduldig. Das Übergewand zieht sie dem Hilflosen sogar gemeinsam mit ihrem Arbeitskollegen David Bloch aus. Das ist nicht weiter ungewöhnlich hier im Schauspielhaus des Theaters Basel. Der junge Mann ist einer der Statisten, die in «Fellinicittà oder eine ½ Stunde Glück» katholische Würdenträger spielen. Die blauen und roten LED-Lämpchen auf der Mütze sind batteriebetrieben, die knallbunten Lämpchen des Überwurfs funktionieren nur bei Stromanschluss. Schwer trägt der Bischof, der mit bürgerlichem Namen Fabian Degen heisst, an der Verkabelung. 

Vorsichtig entwirrt die Ankleiderin Colleen Dunkel die Kabel und hängt das Gewand auf eine Schneiderpuppe. Blaues Licht fällt von Neonröhren an der hohen Decke im Bühnennebenraum. Eine mannshohe Hochzeitstorte und ein Servicewagen mit Suppenterrinen versperren den schmalen Durchgang. Nonnen mit riesigen weissen Hauben, eine Braut in Tüllkleid und meterlangem Schleier und ein jugendlicher, blassgepuderter Casanova mit Rokokoperücke warten auf ihren Einsatz.

Heute ist die sogenannte AMA, die erste Probe, wo «alle mit allen» zusammenkommen. Drei Schauspieler, vier Musiker und siebzehn Statisten muss der Regisseur samt Requisiten, Kostümbild und Technik unter einen Hut kriegen. Beim Thema Hut kommen die Ankleider ins Spiel, denn bei der Aufführung muss es nicht nur schnell gehen, sondern jedes Kleidungsstück muss parat sein. «Beim Theater hat vieles mit Vertrauen zu tun, die Schauspieler müssen sich auf uns Ankleider verlassen können», sagt die Amerikanerin in ihrem charmanten Akzent. Das gelte ebenso für die Techniker, Bühnenbildner, Kostümbildner und alle anderen, die den bunten Kosmos der Bühnenwelt täglich neu erschaffen. 

Kontrolle als A und O 

Eine dezente Erwartung liegt in der Luft. Für elf Uhr ist die Probe angesetzt, doch Colleen Dunkels Arbeit begann früher. Viertel vor neun ist sie gekommen, zwei Waschmaschinen mit den Kleidern der gestrigen Abendvorstellung sind bereits durchgelaufen. Die Kostüme der Schauspieler liegen längst in den Garderoben parat. Routiniert kontrolliert die 43-Jährige, ob alle Ärmel richtig herum und die Reissverschlüsse oder Knöpfe je nach Regiewunsch geöffnet oder geschlossen sind. Jeder Handgriff muss sitzen, damit alles reibungslos läuft und nichts kaputtgehen kann. Danach deponiert sie die übrigen Kleidungsstücke auf der Bühne an den vereinbarten Orten. Die Kleider müssen in der exakten Reihenfolge jedes Mal am gleichen Platz sein.
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ine halbe Stunde vor der Vorstellung überprüft sie bei regulären Aufführungen die Mitwirkenden, ob wirklich jedes Detail richtig ist. Die Zwischenzeit bis zum Spielbeginn ist wichtig, damit Ruhe einkehrt und sich die Darstellenden sammeln können. 

Missgeschicke gibt es trotzdem immer mal wieder. Wie etwa beim weissen Raumanzug, der zu allem Übel auch noch von einem grossen deutschen Theater für eine andere Produktion ausgeborgt war. Niemand wusste schlussendlich, wer den Kaffeebecher hinter der Bühne stehen gelassen hatte. Was in dem Moment auch unwichtig war, denn in Windeseile musste Colleen Dunkel die Flecken mit weissem Pflaster abkleben und einen zusätzlichen Überwurf improvisieren. Die Flecken aus dem empfindlichen Material wieder rauszubekommen, dauerte dann wesentlich länger. Im Publikum hat das Malheur übrigens keiner bemerkt. 

Nun gilt es, den Bischof wieder anzuziehen; sorgfältig helfen die beiden Ankleidenden mit dem Umhang. Colleen Dunkel verstaut die Kabel und steckt die Schlaufen des Überwurfs mit Sicherheitsklammern fest. Bei der Aufführung wird sie mit zwei Ankleiderinnen allein sein. Ihr Arbeitskollege David Bloch ist heute dabei, damit er sie in Notfällen vertreten kann. Die beiden Teamverantwortlichen haben die Schauspiele der Saison unter sich aufgeteilt und organisieren den Einsatzplan der fünf anderen Teilzeitkräfte. Momentan betreut Colleen Dunkel zwei der Premierenstücke, eins wird noch dazukommen. Der Kontakt zum Theater Basel ergab sich bei einer zufälligen Begegnung mit ihrer jetzigen Chefin. Colleen Dunkel begann als Aushilfe im Ankleidedienst der Oper. Nach zwei Spielzeiten wurde die Stelle als Co-Leiterin der Schauspielgarderobe ausgeschrieben. Seit 2012 führt sie zusammen mit David Bloch das Team. 

Nähzeug und Pflaster immer dabei 

«Nein, ein Frauenberuf ist es nicht wirklich», meint die passionierte Schneiderin, die schon als Zwölfjährige für das Bed & Breakfast ihrer Mutter alle Gardinen der Gästezimmer nähte. Am Theater Basel überwiegen trotzdem die Frauen in dieser Berufssparte. In einer Hüfttasche hat Colleen Dunkel Nadel und Faden deponiert, mehrere Sicherheitsnadeln sind aussen festgesteckt. Am Handgelenk trägt sie eine Rolle Gaffer-Tape, das Abdeckpflaster braucht sie genauso oft wie die Nadeln. 

Eine halbe Stunde ist seit Probenbeginn vergangen; da es gerade nichts zu tun gibt, will sie in ihr Atelier zurück. Auf dem Weg dorthin trifft sie den Regieassistenten. Sie gehen über die Treppe ins Theaterfoyer, überlegen dort, wie die Kostüme verteilt sein müssen. Bei «Fellinicittà» dürfen sich auch die maximal 64 Zuschauer verkleiden. Genauso wie für die Mitwirkenden haben die Ankleider dafür eine Liste mit den Kostümfotos erhalten. «Noch sind wir alle ein bisschen cool, morgen mit Publikum wird das anders sein», sagt Colleen Dunkel und lacht. Zur Hauptprobe werden allerdings Theaterleute die Zuschauer sein, die Premiere folgt drei Tage später. 

Zügig läuft sie die zwei Etagen abwärts in das Atelier, um festzustellen, dass wohl jedermann in der Unterbühne ist. Von dort scheint auch die Musik zu kommen, also steigt sie wieder eine Treppe höher. Ein rot-grün ausgeleuchteter Tunnel führt von der Unterbühne ins Grosse Haus, die andere Spielstätte des Theaters Basel. Dorthin werden die Zuschauer während des Stücks geführt. «‹Fellinicittà› baut eine ganze Welt auf, im Sinne eines Erlebnistheaters», meint Colleen Dunkel. 

Sie stellt fest, dass ihre Dienste im Augenblick nicht mehr benötigt werden, und geht zurück ins Atelier. Im Waschraum steht links und rechts vom Lavabo je eine Waschmaschine mit Tumbler. Routiniert hängt sie ein Oberhemd nach dem anderen auf Bügel, wäscht von Hand Strumpfhosen und schwarze BHs aus. Mit der hauseigenen Spezialmischung – ein Drittel Wodka und zwei Drittel Wasser – besprüht sie die Kleider, welche nur dezent riechen und auslüften müssen. Jeder Kleiderständer ist mit dem Namen des Theaterstücks oder der Kategorie wie beispielsweise Jugendfundus beschriftet. Sie stehen in Nischen oder auf dem Gang, von dem auch das Atelier abgeht. 

Soweit ihre Kostüme das zuliessen, seien die Statisten sehr selbständig, erklärt die Ankleiderin, während sie versiert die Kleiderständer bestückt und verräumt. Die Schauspieler dagegen hätten manchmal nur dreissig Sekunden Zeit zum Umziehen. «Sie arbeiten sehr hart und brauchen ihre Konzentration.» Ihre Arbeit sei eine Dienstleistung, man müsse sich deshalb zurücknehmen können. Weiss sie von einer Aktrice, dass sie ein Handtuch in der Garderobe wünscht oder ein Darsteller eine Kanne Kaffee, versucht sie das zu ermöglichen. Liegen die Nerven vor der Vorstellung blank, und einer schreit nach seiner Krawatte, nimmt es keiner der Ankleider persönlich, «dann suchen wir die Krawatte». 

Tempo ist nicht alles 

In «Arturo Ui» hat sie mit ihrem Abendteam 34 Umzüge in anderthalb Stunden zu bewerkstelligen. Einige Rollen sind Doppelrollen, zum Teil behalten die Akteure Kleidungsstücke an, wenn sie nicht sichtbar sind. Manchmal beharren sie auf dem falschen Kleidungsstück, dann «muss ich nicht nur sicher sein, welches das richtige ist, sondern mich auch durchsetzen». Im Halbdunkel neben der Bühne ist das nicht immer einfach. Regieanweisungen, die beispielsweise einen Schuh links, den anderen rechts der Bühne wünschen, sind eine zusätzliche Herausforderung. 

In der Garderobe schlüpft eine Nonne durch eine der offenstehenden Türen. Die Statistin braucht Hilfe beim Kostüm. Am Rücken ist ein Schlitz unter dem Umhang verborgen, Colleen Dunkel soll ihn mit Sicherheitsnadeln feststecken. Kurze Zeit später ruft eine Stimme über Lautsprecher alle zur Bühne. Colleen Dunkel eilt die Treppen hoch. Im Bühnennebenraum wartend, wippt sie zur Musik und beobachtet die Szene. Der hinter einer Festtagstafel stehende Bischof versucht unauffällig, sein Stromkabel einzustecken. Als ihm das gelungen ist, will der Überwurf trotzdem nicht leuchten, ein Techniker nimmt sich der Sache an. 

Nicht nur für das reibungslose Zusammenspiel braucht es die Premierenwoche, die von der AMA eingeläutet wird. Drei bis vier Tage vorher bekommen die Ankleider die Kostüme, bei empfindlicheren Materialien machen sie eine Waschprobe. «Ob Torf, Fett, Schminke oder Spaghettisauce, wenn ich weiss, was während des Stücks draufkommt, teste ich, wie es wieder rausgeht.» Bei einem weissen Hemd könne sie im schlimmsten Fall ein neues nehmen, für einen grauen Anzug für 1000 Franken ist das keine Option. Als Fleckenexpertin bekommt sie fast alles raus; entscheidend dabei ist das Wissen, um was für einen Fleck es sich handelt. 

Die Kostümabläufe können sich bei dieser ersten Probe von Szene zu Szene ändern. «Wenn der Leopardenmantel weg ist, kann er fünf Minuten später wieder drin sein», erklärt Colleen Dunkel im Bühnenjargon. Der Schauspieler, welcher bei Dürrenmatts «Der Richter und sein Henker» allein zehn Kostümwechsel hatte, bekam eine eigene Ankleiderin, erinnert sie sich. Je nach Produktion arbeitet sie mit einer oder mehreren Ankleiderinnen. Teilzeitkräfte und Studentinnen, dazu eine gute Mischung aus alt und jung «machen uns zu einem glücklichen Team». 

Die Braut geht von der Bühne ab, reicht Colleen Dunkel den Schleier. Diese faltet ihn sorgfältig mit David Bloch zusammen, dann notiert sie den Ort, wo er versorgt ist, und die Minute der Spielzeit. Eine Weile schaut sie noch der Komödie zu, dann reisst sich die Ankleiderin los und geht zurück in ihr Reich im zweiten Untergeschoss. 

Im Theater gebe es immer etwas zu tun, sagt sie, während sie im Eiltempo Oberhemden bügelt. «Wir haben schon die komischsten Sachen geplättet, Strumpfhosen beispielsweise, wenn sie dadurch weniger sichtbar waren.» Das Bügelbrett gibt gurgelnde Geräusche von sich, wenn es den Stoff ansaugt. «Wer auf dem bügelt, will nie wieder was anderes», warnt David Bloch vor dem Ferrari unter den Plättbrettern. Colleen Dunkel schwärmt von Theaterkleidern aus den Sechzigern oder Stoffen, die nicht nur wunderschön aussehen, sondern sich auch gut anfühlen. Die alten Stoffe sind oft brüchig, doch finde man sie in dieser Qualität nicht mehr. «Wenn ich die Materialien kenne, bin ich auch schneller beim Bügeln und Verräumen», sagt die Ankleiderin, die eine Art haptisches Gedächtnis für die Kostüme der Spielzeit entwickelt. 

Kreativer Traumberuf 

Waschen, bügeln, reinigen, zusammensuchen und aufräumen – wird das nicht irgendwann langweilig? Colleen Dunkel lächelt und nimmt sich Zeit für die Antwort. Kreativ sei ihr Beruf und einfach schön, wenn alles funktioniere. Dass die Kostüme noch so picobello wie zur Premiere sind oder zumindest auch von den besten Plätzen so wahrgenommen werden, ist ihr Ansporn. «Ich mag die Spannung und den Adrenalinschub, wenn ich ganz schnell eine Lösung finden muss», sagt sie mit leisem Stolz. Das Literaturstudium, die Semester Theaterwissenschaft, ihr Faible für Stoffe und Kostümarbeit – die verschiedenen Sachen, die sie im Leben gemacht habe, könne sie dafür nutzen. 

Das Verwalten des Schülerfundus – die Schulen beider Basel können für ihre Aufführungen darauf zurückgreifen – gehört auch zu den Aufgaben des Ankleidedienstes. Meistens arbeitet Colleen Dunkel von 14 Uhr bis 11 Uhr abends. Bei manchen Stücken wird es auch Mitternacht, bis alles aufgeräumt ist. Vier Vorstellungen brauche sie, bis «jedes Detail richtig drin im Kopf ist». 

Dann gebe es noch die Auftritte, «die mich jedes Mal berühren, eine einzelne Szene kann immer wieder anders sein und bis zur Dernière wachsen». In «Anna Karenina» sah sie sich den Monolog des Sohnes, der auf seine Mutter wartete, immer wieder an. Um sich die Zeit zu vertreiben, sei der erwachsene Schauspieler dabei auf der Bühne wie auf einer Rutschbahn umhergeschlittert. Vor allem seine Stimme fand sie, neben dem «Kind spielen», faszinierend. 

Während oben die Probe weiterläuft, sind Colleen Dunkel und David Bloch unten im Atelier damit beschäftigt, ein Laken zu suchen. Akribisch gehen sie den Ablauf durch, wann es letztmals wo gebraucht wurde. Colleen Dunkel bleibt gelassen. «Bis jetzt haben wir noch alles gefunden, allerdings mitunter an den unwahrscheinlichsten Orten.» 

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