«der arbeitsmarkt» 12/2005

Der periphere Pol und die progressiven Professoren

Gegen Süden, Westen und Osten grenzt das Puschlav an Italien. Von der restlichen Schweiz durch ein Bergmassiv abgeschnitten, wird das Tal hierzulande höchstens als Ferienziel oder Schmuggelnest wahrgenommen. Nun werden dort Ideen entwickelt, die für die gesamte Alpenregion Modellcharakter haben.

«Die Wachstumsträger sind nun einmal die urbanen Gebiete. Gewisse Täler sollte man verwildern lassen.» Professor René L.Frey vom Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel spricht sich für
eine neue Einteilung der Schweiz aus, die den veränderten Rahmenbedingungen im globalisierten Dorf Rechnung trägt. Seit der Veröffentlichung einer Studie der «Avenir Suisse» mit dem Titel «Baustelle Föderalismus» im Frühling dieses Jahres wird die Debatte intensiv geführt. Umso gespannter wird jetzt die
Botschaft des Bundesrates zum Gesetz für eine Neue Regionalpolitik (NRP) erwartet, die noch heuer dem
Parlament unterbreitet werden soll. Das Unterland eine Metropole, die Alpen das Erholungsgebiet? Die Idee ist bestechend, einfach. Zumal «Avenir Suisse» berechnet hat, dass durch die Neueinteilung «der gesamte regionale Umverteilungsapparat praktisch ersatzlos» gestrichen werden könne – mit Sparpotenzial!
Einer, der mit solchen Visionen nicht viel anfangen kann, ist Cassiano Luminati. Seit 2001 leitet er den
«Polo Poschiavo», ein Kompetenzzentrum inmitten einer potenziell zukünftigen Brache, das vor zehn Jahren als Pilotprojekt gestartet wurde und in den letzten Jahren verschiedene Innovationspreise gewonnen hat. Soeben ist er aus dem Wallis zurückgekehrt, wo sein neustes Projekt den ersten Preis im Wettbewerb «Zukunft in den Alpen» der Internationalen Alpenschutzkommission (CIPRA) erhalten hat: «Wir waren das erste von 571 Projekten, alle innovativ, alle aus den Alpen, die meisten aus Tälern, die wir den neuen Ideologien zufolge verlassen sollten. Doch weder SF DRS noch das Tessiner Fernsehen haben etwas darüber berichtet. Gleichzeitig sind die Zeitungen voll von Interviews mit diesen grossen Professoren, die unwidersprochen behaupten können, wir seien nicht innovativ und deshalb umzusiedeln. Wenn man nicht in den Medien ist, existiert man einfach nicht.»
Fürwahr: Laut einer Studie des Tessiner Sprachobservatoriums betreffen lediglich 4,5 Prozent der Nachrichten von sechs grösseren Schweizer Tageszeitungen das Italienische im Allgemeinen. Obwohl jede zehnte
Person in der Schweiz italienischer Muttersprache ist. Sechs von zehn Artikeln betreffen Italien, die restlichen vier das Tessin, kaum einer das italienische Südbünden. Italienisch wird vor allem genutzt, um Texte bunter, süffiger zu machen. So erstaunt es nicht, dass das Puschlav nördlich der Alpen fast durchwegs als Ferienziel bekannt ist, höchstens noch als ehemaliges Schmuggelnest.

Mit neuen Arbeitsplätzen die Abwanderung stoppen

Wer mit der Rhätischen Bahn (RhB) von den Schweizer Zentren aus ins Val Poschiavo fährt, darf es nicht eilig
haben. Seit einem Jahrhundert schlängelt sich der Zug langsam, aber stetig über Bündner Berge und Täler Richtung Süden: ein technisches Wunderwerk, das nach dem Willen von Bundesrat und Kanton Graubünden in die Liste der Unesco als Weltkulturerbe aufgenommen werden soll. Aus der Gletscherwelt des Berninapasses
gelangt die Kleine Rote – so der trendige Name der RhB heute – ins mediterran angehauchte V-Tal, das in drei Himmelsrichtungen an Italien grenzt.
Von Norden aus gesehen, böte sich das Puschlav als Erholungsgebiet oder Naturpark geradezu an. Das südlichste der 150 Bündner Täler gehört politisch zur Schweiz, obwohl es durch Kultur, Sprache und Geografie Italien näher liegt. Kastanienhaine, Weinhandlungen und die typisch norditalienische Bauweise prägen das Bild. Angekommene fühlen sich in eine andere Welt versetzt: unverfälscht, im Einklang mit der Natur. Nach dem Unwetter von 1987 mussten bedeutende Teile der Ortschaften wieder aufgebaut werden. Nun erstrahlen sie in neuem Glanz, wobei akribisch darauf geachtet wurde, ihre ursprüngliche Italianità zu erhalten.
80 Prozent der Ferienreisenden im Puschlav kommen aus der deutschsprachigen Schweiz. Mit einem Konzept versuchte der dortige Tourismusverein 1995, diese Ressource noch besser zu nutzen. Er setzte auf die
Ursprünglichkeit der Region und die Qualität der Produkte. «Eine kleine Welt für sich» sollte vermehrt
Gäste aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Italien und den Benelux-Staaten anlocken. Doch die Rechnung ging nicht auf: Die Übernachtungen sind trotz der Kampagne von 120000 auf 100000 zurückgegangen.
Um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen, wandern seit Menschengedenken vor allem junge
Menschen aus den Alpentälern aus. Rudolf Schiess, Ressortleiter Regional- und Raumordnungspolitik des seco, bestätigt: «Dazu kommt, dass vor allem qualifizierte Personen keine Arbeit in der Peripherie finden und so zum Brain-Drain beitragen. Wir haben gesehen, dass die aktuellen Instrumente, die vor allem die regionale Infrastruktur fördern, nicht mehr genügen, um diese Tendenz umzudrehen. In Zukunft wollen wir
Projekte finanzieren, die Arbeitsplätze schaffen.»
Diese Idee stammt aus dem Puschlav und soll nun ins neue Gesetz über die Regionalpolitik des Bundes einfliessen, das nächstes Jahr in den eidgenössischen Räten diskutiert wird. In den Unterlagen des seco findet sich denn auch das «Progetto Poschiavo» als Vorbild. 1996 als Kompetenzzentrum für Fernausbildung entstanden, beschränkte sich das Projekt vorerst auf die Erarbeitung computergestützter Fernkurse, die sich an die Bedürfnisse der ansässigen Bevölkerung und Unternehmen richten (Kasten «Kompetenz-Pool»). Luminati meint, dass dank der daraus resultierenden frühen Glasfaserverkabelung des Tales durch die Swisscom inzwischen 80 Prozent der Talbevölkerung Zugang zum Internet haben. Danilo Nussio, Initiant des «Progetto Poschiavo», rechnet damit, dass jede 60. Person im Tal von den Kursen profitiert hat, die zur Hälfte vom Amt für Berufsbildung des Kantons Graubünden finanziert werden.
Als das Pilotprojekt in «Polo Poschiavo» umbenannt, also institutionalisiert wurde, wagte Nussio den Schritt in die Selbständigkeit und gründete «ecomunicare», eine Multimediafirma, die immer mehr zu einer eigentlichen Marketingagentur wurde. «Als erstes eigenständiges Produkt erarbeiteten wir den Kurs ‹evado› – ich reisse aus –, der 2002 den E-Learning-Preis der Schweizerischen Vereinigung für Erwachsenenbildung (SVEB) gewonnen hat. Evado heisst der Kurs,
weil er wie eine Befreiung ist. Er ermöglicht Einzelpersonen und Firmen, ihre Ideen und Produkte dank dem Netz auch ausserhalb des Tales zu tragen. Hier musst du etwas tun, wenn du aus dem Tal ausreissen, mit der Welt kommunizieren willst.»

Verstärkte Zusammenarbeit mit der Lombardei ist längst fällig

Heute beschäftigt «ecomunicare» acht hoch qualifizierte Personen im Teilzeitpensum und arbeitet noch immer eng mit dem «Polo Poschiavo» zusammen. Dieser hat sich als Weiterbildungszentrum etabliert und seine Tätigkeiten fachlich wie geografisch ausgeweitet. Das Kompetenzzentrum hat sich als Networker über die ganze Alpenregion etabliert. Den Sprung über die Grenze schaffte es dank der Beteiligung an sieben Interreg-III-Projekten, die hauptsächlich von der Europäischen Union finanziert werden. «Das war eine riesige Chance», meint Luminati. «Das Puschlav hat den grossen Vorteil, dass es wie eine Kommunikationsbrücke funktionieren kann, weil wir verschiedene Sprachen und Mentalitäten kennen. Zudem ist Mailand ja nur gut
zwei Stunden von hier entfernt.»
Eine Brücke zu Italien: Der Name Poschiavo stammt vermutlich vom lateinischen Post clave, was so viel wie der Schlüssel zum Po heisst. Seit der Römerzeit gilt der Berninapass als wichtige Nord-Süd-Verbindung durch die Alpen. Mal dem Bistum Chur, mal demjenigen von Como zugeschlagen, wurde das Tal erst 1749 endgültig vom Veltlin getrennt. Dank einer spezifischen Klausel im Schweizerischen Zollgesetz profitierte die Talbevölkerung im letzten Jahrhundert vom Schmuggel mit Italien. Erst danach schlief der Kontakt mit Italien weitgehend ein. Dank den Interreg-III-Projekten wird dieser wieder belebt.
Zu Recht: Gegen Norden erreicht ein um das Puschlav gezogener Kreis von 150 Kilometer Radius gerade noch Chur und umfasst etwa 200000 Einwohner. Gegen Süden umfasst derselbe Kreis hingegen Städte wie Mailand, Bergamo und Brescia, also umgerechnet etwa neun Millionen Personen – mehr als die Schweiz.
Luminati ist überzeugt: «Noch herrscht im Tal die Schweizer Identität vor. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Grenze auch mental verschwindet. Die Lombardei hat ein viel grösseres Wirtschaftswachstum als die Schweiz. Wir haben dafür ein viel grösseres Know-how, insbesondere bezüglich der neuen Technologien. Das gilt es, für beide Seiten besser zu nutzen.»

Kompetenzzentrum für zukunftsträchtige Ideen

Das Puschlav: ein Erholungsgebiet, höchstens noch als Wasser- oder Energielieferant tauglich, wie unlängst das Wochenmagazin «Facts» sinnierte? Auch dazu ist dem umtriebigen Direktor und Tourismusverantwortlichen Luminati etwas eingefallen: «Seit 100 Jahren ist das Puschlav eine Produktions- und Austauschstätte für elektrische Energie. Auf Initiative eines italienischen Forschers aus Lecco und in Zusammenarbeit mit Rhätia Energie haben wir das Projekt eines Kompetenzzentrums für erneuerbare Energie lanciert und soeben einen ersten Vortrag erfolgreich durchgeführt, der eine Reihe von Gesprächen und Analysen zu dessen Machbarkeit einleitete.»
Eingeladen war Professor Jeremy Rifkin, Präsident der Foundation of Economic Trends in Washington und
Autor verschiedener Bücher. Gekommen waren über 200 Personen, Ansässige genauso wie Interessierte aus dem benachbarten Veltlin und von weit her Gereiste. Rifkin sieht das bevorstehende Ende des Ölzeitalters kommen und vermutet darin eine grosse Chance für die Alpen. Das Hydrogen-Auto, dessen Prototyp von
General Motors in Zusammenarbeit mit Fiat sowie schwedischen und deutschen Ingenieuren bereits heute funktioniert, werde demnächst, analog dem World Wide Web, die Welt erobern. Die Alpen seien gemäss
Rifkin zu dessen Einführung prädestiniert: «Ihr habt das Geld. Ihr seid führend in der Chemie, dem Ingenieurwesen, den Banken, dem Bau, den Versicherungen, der Weltallforschung und der Nahrungsmittelindustrie. Und ihr habt die wichtigste erneuerbare Energie zur Realisation dieses ehrgeizigen Projekts: Wasser.»
Noch ist zu früh, um vorauszusagen, ob und wie das Ansinnen gelingt. Nächstes Jahr wird der «Polo
Poschiavo» weitere Anlässe organisieren: zum Kyoto-Protokoll, zur Nutzung von Biomasse, zur Recherche zu hochwertig verbrennbaren Zellen und zu thermo-elektrischen Materialien. Danach geht es um die Evaluation der bisherigen Diskussionen. Erst dann wird entschieden, ob der eingeschlagene Weg eine Chance zur Realisierung des Vorhabens bietet. Eines ist dennoch heute schon klar: Im Zeitalter des Internets kann jedes Dorf einen Innovationspol bilden. In den Worten von Luminati: «Wenn du einmal die Kommunikationsbarrieren überwunden hast, findest du im Puschlav nicht nur bestens ausgebaute Infrastruktur, sondern eine
extrem hohe Lebensqualität.»

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