«der arbeitsmarkt» 06/2007

Der innere Störenfried

Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) kommt auch bei Erwachsenen vor. Mit der Störung sind sehr häufig Probleme im Beruf verbunden. ADS hat aber auch ein Potenzial, das den Betroffenen ein erfolgreiches schöpferisches (Arbeits-)Leben ermöglichen kann.

Ein Bewerbungsdossier kann bedeutsam sein. Darin fällt beispielsweise auf: viele Stellenwechsel mit der Begründung, der Job habe schnell gelangweilt; mehrere Laufbahnunterbrüche, um interessanten ausserberuflichen Aktivitäten nachzugehen;
Hinweise in Arbeitszeugnissen auf viel Angefangenes, das nicht zu Ende gebracht wurde, auf unsorgfältige Arbeitsweise, geringes Durchhaltevermögen oder sonstige konstante Leistungsschwächen. Zudem ist das Bewerbungsschreiben nachlässig verfasst.
Solche und ähnliche berufliche Leis-tungsprobleme, das Nichterfüllen von Erwartungen gelten als typische Erscheinungen des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms, auch Aufmerksamkeitsdefizit-Störung genannt (Kurzbezeichnung ADS; wenn das Syndrom im Verbund mit Hyperaktivität auftritt: ADHS). ADS steht mit der Intelligenz der Person in keinem Zusammenhang und kommt in allen sozialen Schichten vor.
Die Fachwelt geht gemäss heutigem Forschungsstand davon aus, dass eine genetisch bedingte neurobiologische Störung für den Symptomatikkomplex ursächlich ist. Diese angeborene und in hohem Mass vererbbare, vom Zusammenwirken mehrerer Faktoren abhängige «Anlage im Hirn» stört die Impulskontrolle und die Konzentration der Betroffenen massiv. Die Dysfunktion hat vielfältigste Auswirkungen. Diese können das Leben der Betroffenen in all seinen Bereichen und Abschnitten ernsthaft beeinträchtigen und ihnen die Alltagsbewältigung in einigen Teilaspekten sogar verunmöglichen. Für den Verlauf und die persönliche Ausprägung der Störung spielen psychosoziale Faktoren und Umweltbedingungen, wozu auch die immer höheren Anforderungen an Leistung und Produktivität in der Arbeitswelt gehören, eine wichtige Rolle.
Seit 1995 ist in der medizinischen Fachwelt bekannt, dass die Störung – sie wird seit etwa 100 Jahren erforscht und gilt weltweit als die häufigste kinderpsychiatrische Diagnose – sich nicht «auswächst»: Auch Erwachsene sind von ADS betroffen. Zahlreiche internationale Studien kommen zum Befund, dass etwa fünf Prozent aller Erwachsenen an Symptomen, die die ADS-Kriterien erfüllen, leiden. Das heisst, jede 20. erwachsene Person leidet an Erkrankungserscheinungen, die für ADS charakteristisch sind, und zwar seit längerer Zeit. Die offenbar nicht beendete Leidenszeit legt den Verdacht nahe, dass bei sehr vielen dieser Millionen von Erwachsenen die Ursache der Symptomatik medizinisch (noch) nicht abgeklärt worden, ADS als eigentlicher Verursacher des Leidens also gar nicht erkannt ist.
Warum nicht? Es gehöre in der Ärzteschaft selbst leider noch nicht zum Allgemeinwissen, dass es ADS auch bei Erwachsenen gibt, konstatieren sowohl Fachpersonen, die sich beruflich mit ADS auseinandersetzen, als auch Betroffene. Das Fatale ist: Nicht-wissen hilft nicht. Ohne ADS-Diagnose er-halten die vielen leidenden Erwachsenen auch keine adäquate, das heisst eine auf sie und ihr soziales Umfeld sowie den Schweregrad der Funktionsstörung zugeschnittene Behandlung.
Die von ADS-Betroffenen als Selbsthilfeorganisation gegründete Interessengemeinschaft Aufmerksamkeits-Defizit-Störung bei Erwachsenen (IG-ADS) setzt sich nach ihren Möglichkeiten ein, um eine breitere Öffentlichkeit für die Thematik zu sensibilisieren. Ihr zufolge äussert sich ADS bei Erwachsenen primär durch die folgenden (seit längerem bestehenden und Leiden verursachenden) Symptome:
• Störung der Aufmerksamkeit, beispielsweise Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit, Ablenkbarkeit und Mühe, Angefangenes zu Ende zu bringen.
• Impulsivität wie unüberlegtes oder riskantes Handeln, unbedachte Äusserungen, wenig Geduld, Gefühlsausbrüche, Stimmungsschwankungen.
• Hypersensibilität; dazu zählen unter anderem eine geschärfte Wahrnehmung der Umgebungsstimmung mit Einordnungsproblemen oder Abgrenzungsschwierigkeiten, geringes Selbstwertgefühl, Versagerängste.
• Unorganisiertheit: Mühe mit der Alltagsorganisation (Pünktlichkeit, Termine, Arbeitsstrukturierung, Haushalt, Finanzen).
• Hyperaktivität, innere Unruhe, die sich etwa durch Mühe mit längerem Stillsitzen äussert, durch ständiges Beschäftigen der Finger oder Bewegen der Füsse, Entspannungsprobleme, Schlafstörungen.
Nach offiziellen Klassifikationssystemen werden drei klinische ADS-Erscheinungsbilder unterschieden: der überwiegend hyperaktive Typus, der überwiegend unaufmerksame Typus, der kombinierte Typus.
Die IG-ADS hat für die Berufspraxis der drei klinischen ADS-Typen, also für alle von ADS betroffenen Erwerbstätigen, einen Workshop «ADS im Berufsalltag» entwickelt. Mit diesem Instrument können anhand von Arbeitsblättern und im Gespräch die Arbeitssituation analysiert und Probleme, die durch ADS entstanden sind, entdeckt und mögliche Lösungsansätze gefunden werden.
Aus dem Defizit kann ein Gewinn werden, wenn ADS-Betroffene eine Aufgabe, die sie wegen ihres «inneren Störenfriedes» nur zum Preis des permanenten Selbststresses bewältigen können, an eine geeignetere Person im beruflichen Umfeld delegieren können. Der Hauptgewinn ist natürlich, wenn ADS-Betroffene einen Beruf ausüben können, für den sie prädestiniert sind.
Durch lebenslange Erfahrung mit ADS selbst zu Expertinnen und Experten geworden, bestätigt die IG-ADS die von der Psychotherapeutin und Autorin Lynn Weiss in ihrem Buch «ADS im Job – Wie Sie ADS
für sich arbeiten lassen können» (Verlag Brendow) publizierte berufsspezifische Typologie:

Der aktive Entertainer: Dieser Typus mit «extrovertiertem ADS» ist kontaktfreudig, aktiv, redselig bis albern, lebt seine Gefühle aus, wird auch schnell wütend und legt seine Wünsche, Hoffnungen und Träume offen zu Tage. Wahrscheinlich ist er immer in Bewegung, wirbelt von morgens bis abends und kommt nur zur Ruhe, wenn er eingeschlafen ist.
Diese Person könnte ihre Talente am besten in einem Beruf im Verkauf oder in der Unterhaltungsbranche anwenden.

Die rastlose Träumerin: Dieser Typus hat eine grosse Sensibilität, denkt über Problemlösungen intensiv nach, äussert sich aber selten. Er ist innerlich unruhig, leicht reizbar, kann dann schmollen, sich innerlich zurückziehen, in eine Depression fallen. Nicht selten gilt er am Arbeitsplatz als Träumer, Spinner oder «abgedrehter Typ». Diese Person könnte ihre Begabungen am besten in kreativen Tätigkeiten wie Handwerk, Architektur, Erfinderin entfalten.

Die gewissenhafte Kontrolleurin: Dieser Typus mit «stark strukturiertem ADS» geht methodisch vor, ist Perfektionist und äusserst gewissenhaft. Gleichzeitig leidet er unter seiner übermässigen Abhängigkeit von (unveränderten) Strukturen und (Selbst-)Kontrolle und ebenso sehr wie die anderen Typen unter Ablenkbarkeit und Organisationsproblemen. Dieser Typus ist hypersensibel, was er vielfach hinter einer rauen Schale verbirgt, ungeduldig und impulsiv bis zur Rechthaberei.
Diese Person könnte ihr Potenzial am besten einbringen und umsetzen in Berufen wie Buchhalter, Pilotin, Ärztin, Forscher, Wissenschaftlerin.

So muss ADS nicht nur negative Auswirkungen haben. Von einer Fachstelle diagnostiziert und behandelt, ist das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom in den Griff zu bekommen. Und mit therapeutischen Massnahmen ist es den Betroffenen möglich, das ihnen innewohnende Potenzial, die eigenen Stärken zu entdecken. Diese auch einsetzen zu können, ist für den Betroffenen essenziell – und für die Gesellschaft ein Gewinn.

«ADS-Betroffene sind kreativ»

Vielfach sind die Stärken der von ADS Betroffenen unter ihrem Alltagsstress verschüttet, weiss Astrid Wälchli, Präsidentin und Beraterin der Interessengemeinschaft ADS bei Erwachsenen (IG-ADS).

Frau Wälchli, wie machen Sie einer RAV-Beraterin oder einem Personalverantwortlichen verständlich, was ADS bei Erwachsenen ist?
Astrid Wälchli: ADS ist nicht eine Behinderung im Sinne des Begriffes, sondern eine genetisch bedingte neurobiologische Erkrankung, die den Betroffenen die Be-wältigung ihres Alltags sehr erschwert.
Um die negativen Auswirkungen von ADS zu kompensieren, verbrauchen Betroffene sehr viel Energie, sie strengen sich enorm an. Und trotzdem «passiert ihnen» immer wieder etwas. Solche jahrelangen negativen Erfahrungen schädigen auch das Selbstwertgefühl: Viele ADS-Betroffene glauben nicht an sich selbst, an ihre positiven Seiten. Diese müssen sie aber auch erst mal selbst entdecken. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Betroffenen eine Abklärung machen und durch kompetente Begleitung ihre Stärken kennen lernen können. Das Potenzial, das in ADS-Betroffenen steckt, ist nämlich vielfach verschüttet unter dem Alltagsstress, den ADS ihnen verursacht.

Welches sind die häufigsten Schwierigkeiten, denen ADS-Betroffene im Arbeitsleben begegnen?
Am häufigsten höre ich von den Problemen mit der Konzentration und Ablenkbarkeit. Das Arbeiten in einem Grossraumbüro ohne Trennwände ist für die meisten Betroffenen sehr schwierig, denn sie können die verschiedenen Geräusche nur schwer ausblenden. Aber auch die Zeiteinteilung ist für viele eine Herausforderung. Besonders wenn an mehreren Projekten gearbeitet wird, braucht es eine gute Organisation, um Prioritäten zu setzen. Aber auch alle monotonen und langweiligen Arbeiten sind für die Betroffenen schwer zu erledigen. Andererseits können sie bei Arbeiten, die ihnen Spass machen oder die für sie spannend sind, sich voll konzentrieren und Höchstleistungen erbringen.

Haben Sie aus Ihrer Beratungspraxis Erkenntnisse, wie häufig Arbeitnehmende wegen ADS ihre Arbeitsstelle verlieren?
Zahlen kann ich Ihnen leider nicht liefern, aber ich höre es sehr oft, dass der Arbeitsplatz gefährdet ist, oder dass die betroffene Person bereits einmal oder mehrmals den Arbeitsplatz verloren hat. Es kommt auch vor, dass die Betroffenen selber kündigen, wenn sie sich überfordert fühlen. ADS-Betroffene werden auch häufig Mobbing-opfer. Gerade wenn bekannt ist, dass Arbeitsplätze abgebaut werden sollen, werden die Schwierigkeiten der ADS-Betroffenen durch die Kollegen noch verstärkt. Die Sensibilität der Betroffenen lässt sie das verschärfte Arbeitsklima doppelt spüren, und sie können sich nicht abgrenzen. Das beeinträchtigt ihre Arbeitsleistung zusätzlich.

Unter welchen Umständen würden Sie einer von ADS betroffenen Person raten, den Arbeitgeber ins Vertrauen zu ziehen, in welchen Fällen nicht?
Wenn die betroffene Person die Diagnose ADS erhalten hat, wird sie auch eine entsprechende Therapie erhalten. Dabei lernt sie ihre Stärken und besonderen Fähigkeiten kennen. Wenn sie nun in einem
Betrieb arbeitet, in dem die Vorgesetzten bereit sind, auch über Probleme mit den Angestellten zu reden, kann die betroffene Person mit ihrem Vorgesetzten über die Diagnose reden. Dazu sollte sie aber bereits wissen, welche Veränderungen im Arbeits-alltag eine Entlastung bringen würden und wo die eigenen Stärken sind. Die IV-Berufsberatungsstellen bieten hier ihre Hilfe an. Wenn die Betroffenen jedoch die Erfahrung gemacht haben, dass im Betrieb nur das Ergebnis und nicht der Mensch zählt, hat es in der Regel keinen Zweck, die Vorgesetzten zu informieren. In diesem Fall sollte ein Wechsel des Arbeitsplatzes in Betracht
gezogen werden.

Welche Dienstleistungen bietet die IG- ADS bei Erwachsenen an?
Unser Hauptanliegen ist, für die Betroffenen da zu sein. Bei unserem Beratungs-telefon können Betroffene, aber auch Angehörige, Arbeitgeber oder Fachpersonen anrufen. Wir geben Auskunft über Abklärungs- und Therapiemöglichkeiten. Wir sind in Kontakt mit Gesprächsgruppen für Betroffene und haben eine Literaturliste mit den aktuellen und bewährten Büchern über ADS bei Erwachsenen. Ausserdem stehen wir als Referenten für Workshops und Vorträge zur Verfügung.

Welche Mittel stehen der IG-ADS für Öffentlichkeitsarbeit, wie Aufklärungskampagnen, zur Verfügung?
Die IG-ADS finanziert sich aus den Mitgliederbeiträgen sowie aus dem Verkauf des Themenheftes. Sämtliche Arbeiten der IG-ADS werden ehrenamtlich ausgeführt. Da unsere Ressourcen beschränkt sind, treten wir zurzeit nicht selber in Aktion, sondern konzentrieren uns darauf, die Homepage aktuell zu halten und alle Anfragen zu beantworten.

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