«der arbeitsmarkt» 12/2007

Der Warenkorb der Nation

Der Teuerungsausgleich liegt uns allen sehr am Herzen. Doch wer von uns weiss, wie dieser ermittelt wird? Dank Elena Rutishauser und Kollegen vom Bundesamt für Statistik wissen Sie in Kürze Bescheid.

Gehören Sie auch zu den Leuten, die beim Gang in den Supermarkt meist mehr oder weniger immer das Gleiche einkaufen? Und irgendwie beschleicht Sie regelmässig das Gefühl, dass Sie der Kassiererin das letzte Mal für exakt die gleichen Waren weniger Geld über das Förderband reichen mussten? Sie haben wahrscheinlich Recht. Allein im Oktober stiegen die Preise um 0,9 Prozent gegenüber dem Vormonat, im Vergleich zum Oktober 2006 sogar um 1,3 Prozent. ­Woher wir das so genau wissen? Dank Elena Rutishauser und ihren Kollegen.
Es ist der erste Dienstag im Monat. Elena Rutishauser steht mit ihrem Klemmbrett, dessen Klammer den dicken Stapel engzeilig bedruckter A4-Blätter kaum zu halten vermag, im Coop Ryfflihof in Bern. Konzentriert steht sie vor den Obst- und Gemüsekisten und notiert Preise. Orangen, Bio-Orangen, Mandarinen, Tomaten, Cherrytomaten, ­Biotomaten…
Ihr Arbeitgeber ist nicht der Detailhändler, sondern das Bundesamt für Statistik (BFS) in Neuenburg. Rutishauser erfasst ­Monat für Monat tausende von Preisen der immer gleichen Artikel in den immer gleichen Geschäften. Sie sind ein kleiner Teil des «Warenkorbs», anhand dessen das BFS den «Landesindex der Konsumentenpreise» (LIK) und somit die Teuerung errechnet.

Montags Denner, dienstags Coop und mittwochs Migros

Der Landesindex zeigt jeweils, um wie viel die gängigsten Konsumgüter gegenüber dem Vormonat oder dem Vorjahr teurer oder billiger geworden sind. Anhand der Preisentwicklung werden üblicherweise die Löhne angepasst. Und nicht zu vergessen: «Die Schweiz ist indexiert vom Keller bis zum Dachboden. Alimente und AHV-Renten steigen jährlich genau um die Teuerungsrate», erklärt Gilbert Vez, Leiter der Produktion des LIK in der Sektion Preise beim BFS.
Heute kann man die aktuelle Teuerungsrate bequem zum Veröffentlichungstermin im Internet abrufen. Bevor das so war, lief an den Stichtagen jeweils das Telefon heiss. Vez: «An solchen Tagen konnte man nicht zwei Zahlen hintereinander in den Computer eingeben, ohne dazwischen das Telefon abzunehmen.» Dabei kam es schon mal vor, dass sich erst die geschiedene Ehefrau wegen der Alimentenerhöhung nach der Teuerungs­rate erkundigte und Minuten später deren erzürnter Ex-Mann am Telefon war, der sich beschwerte, dass es ja wohl nicht sein könne, dass er künftig schon wieder mehr bezahlen müsse.
Wie wird die Teuerung also ermittelt? Zum Teil seit Jahr und Tag mit Klemmbrett und Bleistift. Das sieht dann so aus: Jeweils den ersten Montag im Monat verbringt ­Elena Rutishauser im Denner; zwei Stunden ge­nügen, um dort die Preise zu erfassen. Am Dienstag stattet sie dem Coop einen Besuch ab und am Mittwoch der Migros; dort braucht sie jeweils einen ganzen Tag. Die komplette Woche darauf steht sie, wiederum ihr Klemmbrett auf den linken Unterarm gestützt, in Kleiderläden. Das allerdings nur jedes Vierteljahr. Kleiderpreise ändern sich nicht so schnell wie die von Frischprodukten. Bei den Kleidern wird es dafür manchmal trickreich. Was tun, wenn die Jeansmarke, die letztes Mal auf der Liste stand, aus dem Sortiment gefallen ist? Wenn der Rollkragenpulli der Marke, die sie letztes Mal erfasst hat, neuerdings nicht mehr aus reiner Wolle ist, sondern einen Polyacryl-Anteil beigemischt hat? Dann muss Rutishauser so lange suchen, bis sie im Laden einen gleichwertigen Ersatz gefunden hat. Denn Wollpulli darf nur mit Wollpulli, italienische Seidenkrawatte nur mit italienischer Seiden­krawatte verglichen werden. Die Regeln für den Warenkorb sind streng. Müssen sie auch sein. Um die Teuerung so objektiv wie möglich zu ermitteln, müssen immer die gleichen Artikel erfasst werden.
Die Preise für Kleidung und Lebensmittel machen jedoch entgegen der landläufigen Meinung nur einen kleinen Teil des Warenkorbes aus. Weniger als ein Fünftel. Insgesamt nämlich «liegen» im Warenkorb 35000 Artikel, aus deren Preisen die Teuerung errechnet wird. Eine beachtliche Anzahl. Der Warenkorb soll den Konsum der privaten Haushalte in der Schweiz möglichst realitätsgenau abbilden. Darum enthält er alles Erdenkliche von Postdiensten über ­Pauschalreisen bis hin zu Energiepreisen ­(siehe Grafik in PDF-Version).

Die Preise von Frischprodukten werden monatlich erhoben

Was genau hineinkommt und wie es gewichtet wird, bestimmt eine Stichprobe. Corinne Becker, Leiterin des Bereichs Konsumentenpreise der Sektion Preise beim BFS: «Pro Jahr wählen wir 3000 Haushalte im Zufallsprinzip aus. Diese führen für uns je einen Monat lang ein detailliertes Haushaltsbuch mit sämtlichen Ausgaben.» Diese Erhebung bildet die Basis für die Gewichtung des Warenkorbes. Entsprechend diesen Haushaltserhebungen wird er laufend angepasst.
Bei der Einführung des Warenkorbes 1922 war dieser noch sehr klein. Es befanden sich gerade drei Warengruppen darin: Lebensmittel, Bekleidung sowie Brenn- und Leuchtstoffe. Erst 1926 kamen noch die Mieten hinzu. Seitdem wurde er immer wieder angepasst.
An der Zusammensetzung des Warenkorbes kann man wunderbar sehen, wie der Wohlstand von Otto Normalverbraucher stieg. So machten 1922 die Nahrungsmittel und alkoholfreien Getränke 57 Prozent des Haushaltsbudgets aus, 2007 sind es nur noch 11 Prozent. Der grösste Posten im aktuellen Warenkorb ist «Wohnen und Energie» mit einem Anteil von einem Viertel. «Den Grossteil des Warenkorbes, nämlich 56 Prozent, machen heute Dienstleistungen aus. Das geht von Versicherungen über Wohnungsmiete, Telekommunikation, Unterricht, ­Hotels bis hin zu Coiffeur und Gesundheitspflege», so Corinne Becker vom BFS. Was hat eigentlich den grössten Einfluss auf die Preisentwicklung? Becker: «Bisher waren es die Mieten. Heute sind es die Erdöl­produkte.»
Das BFS betreibt einen grossen Aufwand, um die Preise zu erheben. Neben Elena ­Rutishauser und ihren Kollegen und Kolleginnen vom BFS sind 33 regionale Preis­erheberinnen eines privaten Institutes jeden Monat drei bis vier Tage unterwegs, um die Preise zu notieren. Die Frischprodukte ­müssen beispielsweise in allen zehn Migros-Genossenschaften erhoben werden. Dazu kommen die jeweils regional wichtigen grösseren Läden.
Insgesamt werden die Preise in elf städtischen Regionen erhoben, die verschieden gewichtet sind. Die Zürcher Preise werden im Index mit 20,6 Prozent gewichtet, Bern mit 14,8 Prozent, Basel mit 14,7 Prozent, St.Gallen mit 10,3 Prozent, Lausanne mit 9,9 Prozent, Luzern mit 8,6 Prozent, Neuenburg mit 6,2 Prozent, Genf mit 5 Prozent. Dazu kommen Lugano, Sion und Chur. Insgesamt werden die Preise bei 2200 Verkaufsstellen erfasst. Bis 2004 waren auch noch Bellinzona, Zug, Winterthur, Aarau und Freiburg dabei. Da auch das BFS sparen muss, hat man diese Regionen gestrichen. Nicht unbedingt ein Nachteil, so Becker: «Wir haben festgestellt, dass die Reduktion der Regionen kaum Einfluss auf die Teuerung hat.»

Verbrauchspreisindex soll mit EU-Teuerung vergleichbar sein

Weiteres Einsparpotenzial hat das BFS auch schon gesichtet. «Künftig werden wir von der Migros die Scannerdaten direkt erhalten», so Becker. Das spart eine Menge Erhebungsarbeit vor Ort und hat den Vorteil, dass wir auch wirklich sehen können, welche Produkte sich am meisten verkaufen.» Sind die letzten technischen Probleme behoben, kann die Umsetzung im Februar 2008 starten. Wenn es sich bewährt, soll das System auch bei anderen Grossverteilern angewendet werden.
So weit zum Einsparpotenzial. Es steht auch ein grösserer neuer Budgetposten an: 2008 braucht das BFS in seiner Sektion Preise zwei neue Mitarbeitende. Der Grund: die bilateralen Verträge mit der EU. Vez: «Ab  Januar 2008 publizieren wir zusätzlich zum LIK den harmonisierten Verbrauchspreis­index. Damit wird die schweizerische Preisentwicklung auch mit der Teuerung innerhalb Europas vergleichbar.» An sich seien die Unterschiede im Vergleich zum LIK nicht sehr gross, so Vez, es handle sich eher um Gewichtungsverschiebungen als um zusätzliche Produkte.

Aldi und Lidl sind noch nicht im Korb

Wozu also die neuen Mitarbeitenden? Bisher wurden nur 20 Prozent der Preise monatlich erhoben, etwa die der Frischprodukte. Der Grossteil der Preise ändert sich nicht so häufig. Darum wurden sie nur vierteljährlich erhoben, etwa diejenigen für Mieten, Kleidung, Verkehr oder Freizeit. Für den neuen Index werden 70 Prozent der Preise monatlich erhoben. Ein erklecklicher Mehraufwand. Aber, so Becker: «Das bedeutet auch einen Qualitätsschub.»
Wie liegt die Schweizer Inflationsrate eigentlich im internationalen Vergleich? «Nicht besonders hoch», so Corinne Becker, «in Europa haben wir eine durchschnittliche Inflationsrate von 2,6 Prozent, in der Schweiz liegt sie 2007 voraussichtlich bei 0,7 Prozent.» Und wie sieht es mit der Zuverlässigkeit aus? «Wir geniessen hier in der Schweiz das absolute Vertrauen der Bevölkerung.
Die statistischen Ämter in Italien und Frank­reich haben immer wieder mit Vertrauensproblemen zu kämpfen», so Becker. In Deutschland gab es nach der Einführung des Euro ebenfalls Probleme. Die Menschen empfanden subjektiv, die Preise seien viel stärker gestiegen als vom statistischen Bundesamt nachgewiesen, die «Teuro-Debatte» brach los.
Apropos Deutschland: Wie wird es eigentlich mit den deutschen Billigketten gehandhabt? Sind Aldi- oder Lidl-Produkte schon im Warenkorb erfasst? «Da warten wir noch ab», erklärt Vez. «Erst wenn sie eine bestimmte Marktstellung erreicht haben, werden wir auch dort Preise erheben.»

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