«der arbeitsmarkt» 04/2015TEXT: Annekatrin KapsFOTO: Simone Gloor
Existenzsicherung

Der Ersatzpfeil im Köcher

Schauspieler hangeln sich oft von einem Engagement zum nächsten. Wenn sie denn eines haben. Wie sie und andere Kulturschaffende dennoch ihren Lebensunterhalt bestreiten können, vermittelt ein Qualifizierungsprogramm in Zürich.

«Wir müssen die Ideen nicht suchen, sie entstehen im Austausch hier automatisch»,sagt der Regisseur Wolfgang Beuschel. Er leitet das Programm für stellensuchende Kulturschaffende «RATS im Kulturmarkt». Davon profitieren momentan mehrere Schauspieler, ein Opernsänger, eine Tänzerin, eine Illustratorin und ein Videofachmann. In einem drei- bis sechsmonatigen Projekt realisieren sie ihre Ideen, mit dem Ziel, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Die buntgemischte Gruppe nutzt eines der nach Berufssparten geordneten Angebote. Vom Kultur- über den Veranstaltungsbereich bis hin zur Gastronomie bietet das RATS, dessen Name vom ersten Theaterprojekt «Regionaler Ausschuss Ten Sing» kommt, berufliche und persönliche Unterstützung.

Im quirligen Kreis 3 in Zürich steht das altehrwürdige Zwinglihaus, in dessen Räumen vierzig Stellensuchende einen Arbeitsplatz auf Zeit finden. Auf einem kleinen Tisch des mit Theaterplakaten dekorierten Büros des Coachs stapeln sich Audio-CDs, Demo-Tapes und Flyer. «Diese Arbeitsproben haben die Teilnehmenden alle hier produziert», erklärt Wolfgang Beuschel. Er schaut sich jede einzelne Homepage genau an, ist diese doch bei Kulturschaffenden sozusagen die Visitenkarte. Sprechproben, Videoclips und Lebenslauf müssen stimmen, weiss der Auftrittskompetenz unterrichtende Hochschuldozent. Dazu gehört auch, dass sich die Bewerbenden mit Stellenbörsen und Agenturen vernetzen. Allein um das Portfolio à jour zu bekommen, braucht es drei Monate. Die Teilnehmenden können dafür verschiedene Kurse von Projektmanagement über Präsentationstraining bis hin zur Layoutgestaltung InDesign besuchen. Dafür werden sie von einem eigenen Coach unterstützt, während Wolfgang Beuschel für die künstlerischen Projekte die Inputs gibt. «Ich verstehe mich als Begleiter, stelle mein Wissen den Teilnehmenden zur Verfügung.»

Das Ziel sei dabei, eine Mehrwegestrategie zu entwickeln. Auch beim Schauspiel könnten die wenigsten Darsteller allein davon leben. Das gelingt nur wenigen, prominenten Schauspielern in der überschaubaren Branche. Die Quereinsteigerin Ivonne Engel hat diese Erfahrung ebenfalls gemacht. Die studierte Betriebswirtin arbeitete mehrere Jahre im Personalbereich diverser Firmen. 2011 machte sie ihren Kindheitstraum wahr und liess sich an einer privaten Schauspielschule in Zürich ausbilden. Ihre Vollzeitstelle als Personalrecruiterin musste die 34-Jährige während des Schauspielstudiums aufgeben. Danach fand sie nur befristete Teilzeitstellen.

Bühnenerfahrung kann die Newcomerin noch nicht vorweisen, doch jetzt habe sie von sich eine Audio-CD mit Sprechproben und in Kürze eine Demo-DVD mit Spielszenen, die sie auf ihre Website stellen kann. Der Austausch mit den anderen Teilnehmenden betrifft manchmal nur Detailinformationen, «wie beispielsweise der Regisseur eines Castings tickt». Doch diese Zusatzinformationen hätte sie sonst nirgends erhalten, ist Ivonne Engel überzeugt. Die gebürtige Deutsche schätzt die vielen Rückmeldungen ihrer Coachs und ihrer Projektkollegen, etwa «ich hätte eine gute Erzählstimme und wäre als Vorleserin gut geeignet». Das Feedback des Schauspielcoachs nützt ihr auch bei Absagen. «Ich fühle mich manchmal unsicher, doch der Austausch hilft mir, diese zu gewichten.»

Erfolgreiche Mehrwegestrategie

Für einen Zweitjob sieht der Bereichsleiter der Kulturschaffenden noch viele andere Möglichkeiten. «Manche haben die Begabung, Dinge zu vermitteln» und kennen als Schauspieler die publikumswirksamen Möglichkeiten. Auftrittskompetenz ist bei Lehrern gefragt, aber auch für Manager wichtig, unterstreicht Wolfgang Beuschel. Nicht von ungefähr unterrichten oft Theaterpädagogen diese Methode. 

Durch den Projektleiter auf diese Idee gebracht, absolvierten zwei seiner ehemaligen Teilnehmerinnen eine diesbezügliche Weiterbildung. Heute sind sie Arbeitskolleginnen, die gleich Wolfgang Beuschel an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften unterrichten. Mit ihrer ursprünglichen Ausbildung als Schauspielerin einerseits, im anderen Fall als Regisseurin haben beide ein existenzsicherndes Auskommen gefunden. Die Weiterbildung als Stimm- oder Sprechlehrer und die Ausbildung als Deutschlehrer halfen einem anderen Schauspieler, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Heute arbeitet er als Sprecher für Film und Fernsehen, als Sprechlehrer und unterrichtet Deutsch für Ausländer.  

Auch Marco Brunner (Name geändert) will seine Schauspielausbildung als zweites Standbein nutzen. Der gelernte Maschinenmechaniker bildete sich zum Verkaufskoordinator weiter und war bei verschiedenen KMU tätig. Parallel dazu studierte er an einer Schauspielschule in Zürich. Da er zeitgleich in seinem Erstberuf arbeitete, konnte er nur in kürzeren Werbeproduktionen mitwirken. Im Februar 2014 verlor er seine Stelle infolge Umstrukturierungen.

Nun ist der Badener dabei, seine Ideen zu kanalisieren. Ob als Sprecher für Werbung, Moderator bei Radio beziehungsweise Fernsehen oder als Motivationsspeaker auf Seminaren, er kann sich nun vieles vorstellen. Für die Videos auf seiner Website übte er Dialoge und Szenen und erhielt mit den neu erstellten Arbeitsproben deutlich mehr Einladungen zu Castings. Die Analyse des Marktes und andere Tipps seines Coachs helfen ihm herauszufinden, «wie ich mich als Künstler am besten verkaufe», sagt Marco Brunner. Hilfreich ist für ihn dabei auch sein verbessertes Eigenmarketing.

Über hundert stellenlose Kulturschaffende hat Wolfgang Beuschel seit 2004 am Kulturmarkt begleitet. «Zu uns kommen Menschen in einer Phase der Belastung, manche davon sind depressiv verstimmt. Der Open Space in der Gruppe motiviert sie enorm», erklärt der Projektleiter, der Arbeitslosigkeit dreimal am eigenen Leib erlebt hat. In diesem «offenen Raum» verbringen die Teilnehmenden Zeit miteinander und tauschen sich aus. Der Informationsfluss und die Kreativität seien hier sogar grösser als in Weiterbildungskursen, erläutert der Erwachsenenbildner. Das Gefühl des Nicht-mehr-allein-Seins führe bei den meisten dazu, dass sie Perspektiven sehen, um ihren Weg weiterzugehen. «Das Schlimmste ist doch, wenn Menschen Dinge tun müssen, die sie eigentlich gar nicht wollen», ist Wolfgang Beuschel überzeugt. Nicht von ungefähr interessieren ihn als Schauspieler am meisten Rollen, welche die Frage verhandeln, wozu Menschen fähig sind. Wie beispielsweise die des geldgierigen Kaufmanns Shylock in Shakespeares «Kaufmann von Venedig».

Unter seiner Ägide und durch den regen Austausch untereinander entwickeln die verschiedenen Kulturschaffenden kleinere Soloprojekte, die sie als Werkproben in ihrem Dossier verwenden können. Manche der Konzepte entstehen auch in gegenseitiger Zusammenarbeit. Der Schauspieler Thomas Troll wurde von einem Opernsänger immer wieder mit Ideen zu einem Mozart-Abend bestürmt. Der 64-Jährige hatte sich bis dahin für Oper nicht interessiert. Doch die Begeisterung war ansteckend. Gemeinsam realisieren sie eine Soirée, bei der Thomas Troll als Leser der Mozart-Briefe durch das Stück führen soll.

Hochgelobtes Theaterprojekt

Ein gemeinsames Projekt aller Teilnehmenden ist die jährliche künstlerische Eigenproduktion des Kulturmarktes. Dabei arbeiten die Kulturschaffenden mit den anderen Stellensuchenden des Gastro- und Veranstaltungsbereiches zusammen. Die Veranstaltungstechniker sorgen für Ton und Licht, die Marketingfachleute kümmern sich ums Budget, für die Öffentlichkeitsarbeit sind die Kommunikationsexperten gefragt. Grafiker und Fotografen liefern dafür die optische Umsetzung. Fürs leibliche Wohl sind die Gastronomen im hauseigenen Restaurant bemüht.

Die letztjährige Vorstellung, ein Abend über den Sprachakrobatiker Ernst Jandl, der in Kooperation mit Primarschülern und Musikern des Ensembles TaG Winterthur entstand, begeisterte nicht nur den Kritiker der «NZZ».

Oft sind es jedoch andere Auftritte, die den Schauspielenden eine Perspektive weisen. Banken schulen ihre Mitarbeitenden im Umgang mit der Klientel, die Rollen der Kundschaft übernehmen Schauspieler. Für Ärzte und Pflegende verkörpern sie Patienten. Diese Rollenspiele sind eine Arbeitsmöglichkeit in der eher kleinen Theaterbranche. In der es zudem einen starken Konkurrenzkampf gibt, denn jedes Jahr kommen rund dreissig Darsteller frisch von der Ausbildung dazu. «Nirgendwo gibt es härtere Bedingungen als in der Kunst, weil viel weniger finanzielle Mittel als in der Wirtschaft vorhanden sind», meint Wolfgang Beuschel.

Thomas Troll ist dennoch optimistisch. Der Aargauer kann auf eine lange Schauspielkarriere auf deutschen und amerikanischen Bühnen zurückblicken und fühlt sich mit seinem frisch überarbeiteten Portfolio gut gerüstet. Mit seinen Erfahrungen als Steward und Chef de Train beim City-Night-Line habe er noch «einen Ersatzpfeil im Köcher». Er möchte für die SBB Seminare anbieten, um die Mitarbeitenden in der Kommunikation und im Konfliktmanagement zu schulen, illustriert Thomas Troll seine Geschäftsidee. Auf diese Möglichkeit habe ihn Wolfgang Beuschel aufmerksam gemacht, allein wäre er auf diesen eigentlich naheliegenden Gedanken nicht gekommen.

Existenzsicherung im Vordergrund

983 arbeitslose Kulturschaffende registrierte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) 2014. Berücksichtigt sind dabei Theaterberufe, Tonkünstler und Darstellende. Trotz des an den Theatern herrschenden Spardrucks sind die Zahlen in den letzten drei Jahren relativ konstant geblieben. Die Dunkelziffer dürfte allerdings höher liegen, können viele Kulturschaffende doch keine lückenlose Anstellung in den letzten 24 Monaten vorweisen, ohne die sie keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben.

Die RAV-Beratenden, die als angestrebte Wiedereingliederung die Teilnahme an den mehrmonatigen Qualifizierungsprojekten vermitteln, seien über den Kulturmarkt unterschiedlich gut informiert, sagt Wolfgang Beuschel. Viele von ihnen förderten ihre stellenlose Klientel. «In den letzten Jahren interessiert es immer mehr, dass die Leute ihre Arbeit gern machen und diese existenzsichernd ist», beurteilt er die Lage. Doch gebe es auch einige, die Kulturarbeit für eine brotlose Kunst hielten und Ratschläge erteilten wie: «Dann gehen Sie doch zur Migros an die Kasse, dann verdienen Sie etwas.»

Dabei jobben nicht wenige Kulturschaffende als Taxifahrer oder Putzkräfte. Doch das hält der Projektcoach für den falschen Weg. Einerseits können sie eine hochwertige Ausbildung vorweisen und nehmen andererseits weniger Qualifizierten die Arbeit weg. Das Qualifizierungsprogramm kann eine Vermittlungsrate von 45 Prozent vorweisen. Für viele sind danach die Weichen neu gestellt, nicht zuletzt lässt auch der Austausch untereinander den Ideenquell sprudeln. Thomas Troll kann es empfehlen: «Wir beflügeln uns hier alle gegenseitig, ich bin Feuer und Flamme für dieses Haus.»

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