«der arbeitsmarkt» 05/2005

Den Teufel beim Namen nennen

Die Wirtschaft stottert, die Sparschraube wird angezogen und diejenigen, die sich glücklich schätzen, einen Job zu haben, geraten immer stärker unter Stress. Ein einfaches Erklärungsmodell – aber so simpel ist es nicht. Eine Website soll helfen.

«Heute ist wieder ein Stress!» – niemand, der diesen Stossseufzer nicht kennt. Ab und zu «Stress» empfinden die meisten als Herausforderung. Krank macht Stress jedoch, wenn er zum Dauerproblem wird. «Positiven Stress gibt es nicht. Dieser Ausdruck verniedlicht. Hier sollte man schlicht von ‹Herausforderung› reden», betont Psychologe Hans Bernhard, der Stressberatung in Firmen durchführt. Noch immer müssen Stressexperten dagegen kämpfen, dass so genannter «positiver Stress» und krank machender Stress wegen der landläufigen gleichen Bezeichnung in einen Topf geworfen werden.
Die Auswirkungen von Stress sind fatal und werden oft unterschätzt. «Drei Viertel der Patienten im Wartezimmer eines Hausarztes sind reine Stresspatienten», ist Hans Bernhard überzeugt. Der eine klage über Kopfschmerzen, der andere über Kreislauf- oder Herzprobleme. Stress als wahre Ursache sei schwer nachzuweisen. EU-Studien zeigen, dass 50 bis 60 Prozent aller verlorenen Arbeitstage mit Stressproblemen in Zusammenhang stehen. Bereits 1999 konnte eine Studie nachweisen, dass die Hälfte der 147 Millionen europäischen Arbeitnehmer unter erheb-lichem Druck steht. Danach durfte ein Viertel nicht mitentscheiden, wie die eigene Arbeit eingeteilt werden soll, die Hälfte klagte über kurze, repetitive Arbeitsschritte.
Allein die Schweizer Wirtschaft verliert jährlich 4,2 Milliarden Franken durch die negativen Wirkungen von Stress. Das errechnete das Staatssekretariat für Wirtschaft seco in einer Studie im Jahr 2000. Mittlerweile liegt die Summe höher, ist Bernhard überzeugt. Eine der Konsequenzen aus dieser Studie war, dass eine von Bernhard geleitete Beratergruppe beauftragt wurde, eine Internetplattform zu Stressprävention und -abbau zu schaffen. Unter der Adresse www.stressnostress.ch ist sie nun online.
Besonders am Herzen liegt den Machern der Teil der Site, der Informationen speziell für Führungskräfte anbietet. Denn hier tut ein Bewusstseinswandel Not. Hans Bernhard: «Stress ist keine ausschliessliche Privat-
angelegenheit, auch wenn einem das im Berufsleben oft suggeriert wird.» Wer über Stress klagt, wird gerne als unfähig abgestempelt, sich seine Arbeit richtig einzuteilen. Bernhard sieht das aus seiner Berufspraxis heraus ganz anders: «Stress ist auch Führungssache. Es ist nicht damit getan, betroffene Mitarbeiter mal eben zwei Tage in ein Antistress-Seminar zu schicken, wie das noch vielfach der Fall ist, und die Sache damit als erledigt zu betrachten. Oft müssen auch die Aufgaben und das Arbeits-umfeld verändert werden, um die Ursachen tatsächlich zu beheben.»
Die Site soll zeigen, wie schon mit einfachen Mitteln viel erreicht werden kann. Denn die wesentlichen Stressfaktoren liegen gewöhnlich nicht einfach in der Menge der Arbeit oder beim einzelnen Mitarbeiter, der etwa wenig belastungsfähig ist, sondern auch in der Arbeit selbst und im Umfeld.
Eine Person empfindet Stress, wenn die an sie gestellten Anforderungen und die persönlichen Möglichkeiten und Ressourcen ins Ungleichgewicht geraten. So kann für die Mitarbeitenden Stress entstehen, wenn sie ihre Arbeit nicht selbständig genug gestalten können oder die Arbeitsteilung zu hoch ist. Zu hohe Anforderungen sind ein ebenso grosser Stressfaktor wie zu niedrige. Mitarbeitende, die nicht über Veränderungen informiert werden, keine Anerkennung bekommen oder nicht in ihrer Entwicklung gefördert werden, empfinden dies vielfach ebenfalls als Stress. Firmenkultur und Management-Tätigkeiten spielen eine wichtige Rolle beim Entstehen von Stress. So sehr das auf der Hand liegen mag – in den Köpfen ist diese Erkenntnis noch nicht angekommen.
Die Betriebe bemerken Personalfluktuation, hohe Fehlzeiten oder steigende Betriebsunfallzahlen. Dazu kommen oft eine schlechte Arbeitsmoral der Beschäftigten, mangelnde Innovation oder schlechte Produktivität. Aber um Stress als grundlegende Ursache hinter diesen Phänomenen zu erkennen, dauert es lang. Mit der Website stressnostress sollen Führungskräfte dafür sensibilisiert werden. So soll der Fragebogen auf Seite 17 Bewusstsein schaffen, ob hinter Problemen bei Arbeitsabläufen und Arbeitsmoral, die dem Chef auffallen, nicht schlicht Stress und somit ungeeignete Organisationsprozesse oder auch Führungsmängel stecken könnten. Viele Führungskräfte haben noch Schwierigkeiten, umzudenken. Bernhard: « Oft haben sie Angst, dass sie von den Leuten weniger verlangen können, wenn der Stresspegel sinken soll. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Leistung steigt, wenn die Mitarbeitenden sich wohl fühlen und richtig gefordert werden.»

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