«der arbeitsmarkt» 12/2006

«Dem Wissen Beine machen»

In ihrem neuen Buch «Noch voll dabei» zeigt die Soziologin Margret Bürgisser, dass Menschen auch im Alter ein aktives und erfülltes Leben führen können und dass ihr Engagement für die Gesellschaft eine bedeutende Ressource darstellen kann. «der arbeitsmarkt» hat sich mit der Autorin über ihr Buch und die Chancen des Älterwerdens unterhalten.

der arbeitsmarkt: Kürzlich ist Ihr neues Buch mit dem Titel «Noch voll dabei. Wie Menschen im Alter aktiv bleiben» herausgekommen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestossen?
Margret Bürgisser: Wenn ich eine Argumentation höre, die in den Medien oder der Öffentlichkeit ständig wiederholt wird, die mir aber in der Konsequenz lähmend und entmutigend erscheint, dann ärgert mich das. Katastrophenszenarien, wie jenes von der Überalterung, dienen vor allem dazu, Aufmerksamkeit zu erzeugen, aber damit erschöpft es sich oft schon. Wenn ich zusätzlich den Eindruck habe, es habe noch niemand dieses Thema aus einer anderen Sichtweise bearbeitet, dann gibt mir das einen Kick und ich sage mir: Da mache ich jetzt etwas, das die Leute motiviert.

Um so einen Beitrag zu leisten, der die Diskussion weiterbringen soll?

Ich bin von Beruf Soziologin. Es ist meine Tätigkeit, Analysen zu machen, die zu Schlussfolgerungen führen, die wiederum eine Grundlage für konstruktive Veränderungen darstellen. So war denn auch diese Diskussion über die demographische Überalterung der Ausgangspunkt für ein neues Buch. Die Lebenserwartung ist heute doppelt so hoch wie vor 120 Jahren, das ist doch ein Geschenk! Ja, sollen jetzt alle älteren Leute den Kopf in den Sand stecken und sagen: «Um Himmels willen, es gibt mich noch!» Ich finde, die älteren Leute sollen sich doch freuen können, dass sie alt werden dürfen. Diese ganze Diskussion, dass die Alten den Jungen etwas wegnehmen würden, finde ich sehr problematisch. Dabei steht immer der Aspekt des Verteilkampfes im Vordergrund, anstatt einmal darüber zu diskutieren, wie man neue oder brachliegende Ressourcen generieren könnte. Da braucht es eine kreative Diskussion.

Kann die Soziologie konstruktive Ansätze beisteuern?

Ja. Ich kenne gute psychologische und soziologische Werke über das Älterwerden. Aber die bewegen sich mehrheitlich auf einem sprachlichen Niveau, wo sie nur Experten erreichen. Das sind Bücher für ein Fachpublikum. Deshalb habe ich ein Buch für interessierte Laien geschrieben: für Leute, die in irgendeiner Form mit älteren Menschen zu tun haben, auch für Politiker, die sich orientieren wollen. In erster Linie soll es aber Leute ansprechen, die in der zweiten oder dritten Lebensphase sind und sich damit auseinandersetzen möchten, was es heisst, älter zu werden. Mein Motto lautet: «Dem Wissen Beine machen», damit es aus den Gefilden der Wissenschaft den Weg zu einer breiteren Leserschaft findet.

Obwohl die Lebenserwartung ständig steigt und auch eine ständige «Verjüngung» des Alters stattfindet, ist es längst noch nicht selbstverständlich, dass die Menschen im Alter aktiv bleiben. Denken Sie, dass das vor allem strukturelle, gesellschaftliche Gründe hat oder eher psychologische, individuelle?

Ich glaube, dass es beides ist. Es geht dabei um Prägungen, die bis in die Kindheit zurückreichen. Für Leute, die von früh auf stark fremdbestimmt waren und durch die Erwerbsarbeitszeit hindurch fremdbestimmt geblieben sind, ist die Chance geringer, dass sie nach der Pensionierung plötzlich den Knopf auftun. Dies alles muss man ja lernen, und auch hier gilt: «Was Hänschen gelernt hat, kann Hans noch besser.» So viel zur individuellen Ebene, aber die Gesellschaft ist natürlich auch in die Verantwortung eingebunden. Denn es spielt eine grosse Rolle, wie stark die Schulen Kinder und Jugendliche fördern und ob an den Arbeitsplätzen Freiräume vorhanden sind, die man mitgestalten kann. Da wird die Grundlage dafür gelegt, ob jemand mit 60 oder 65 immer noch Lust hat, etwas Eigenes zu gestalten.

Was halten Sie von den Vorschlägen von Bundesrat Pascal Couchepin für die Heraufsetzung des Rentenalters?

Ich bin nicht Ökonomin und möchte mich da nicht aufs Glatteis begeben, deshalb antworte ich Ihnen mit der Argumentation der Ökonomieprofessorin Heidi Schelbert. Sie meint, man sollte nicht von einer Erhöhung des Rentenalters sprechen, solange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft seien, die Frauen in der Schweiz konsequenter in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie sei überzeugt, dass sich dieses Problem quasi von allein lösen würde, durch einen verstärkten Einbezug der Frauen. Diese Suppe müsse nicht so heiss gegessen werden, wie sie jetzt gekocht werde.

Dann sehen Sie Chancen eher in der Flexibilisierung des Rentenalters und nicht in einer neuen Altersgrenze?

Ja. Ich bin für eine generelle Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, nicht nur für Rentner, sondern auch für die Jungen, die noch in Ausbildung sind, für Eltern – Männer wie Frauen –, die Zeit für die Familie haben möchten, für Menschen, die reduziert leistungsfähig sind, weil sie zum Beispiel gesundheitliche Probleme haben.

Was halten Sie von der in diesem Jahr gegründeten «Initiative Grundeinkommen», die unter anderem eine allgemeine Flexibilisierung ermöglichen möchte?

Das ist ja eine alte Diskussion. Ich denke, das garantierte Grundeinkommen hat im Moment politisch gesehen keine Chance, aber es ist grundsätzlich ein interessanter Ansatz. Die Frage ist, wie man dieses Grundeinkommen bemessen würde. Statt überall mit Renten und mit Zuschüssen Löcher zu stopfen, einmal zu sagen, der Staat versteht seine Aufgabe so, dass die Existenzsicherung aller als selbstverständlich vorausgesetzt wird, finde ich eine spannende Überlegung. Vor allem wenn wir ergänzend davon ausgehen, dass jeder bereit wäre, freiwillig einen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft zu leisten. Das klingt zwar sehr idealistisch, aber ich glaube daran, dass man Menschen mit Idealen motivieren kann, vor allem über die Wertschätzung. Ich mag einfach nicht glauben, dass Leute nur über das Geld zu steuern sind.

Sie betonen ja auch in Ihrem Buch, dass gerade für ältere Menschen die Wertschätzung ein zentraler Faktor für ein Engagement ist.

Wobei mir wichtig ist, dass eine Mobilisierung von älteren Leuten auf freiwilliger Basis geschehen müsste. Ich habe mein Buch nicht geschrieben, um Herrn Couchepin zu unterstützen, sondern um einen Beitrag zur Diskussion zu leisten, die er mit seinem Vorschlag lanciert hat. Aber ich denke, man müsste verstärkt sichtbar machen, was für gesellschaftliche Aufgaben im Freiwilligenbereich zu lösen sind. Da gibt es viele Aufgaben, die man auf professioneller Basis in Zukunft gar nicht mehr lösen kann, weil es nicht mehr finanzierbar ist.

In Ihrem Buch zitieren Sie einen Fachmann, der einen institutionalisierten Sozialeinsatz im Alter vorschlägt. Wie stehen Sie zu solchen Ideen?

Das finde ich problematisch. Ich finde die Vorstellung befremdend, es würde ein Amt eingerichtet, bei dem man quasi mit dem Seniorengesellschaftsbüchlein vortraben müsste, um einen Stempel zu bekommen. Das wäre meines Erachtens eine Entwicklung in die falsche Richtung. Als positives Beispiel sehe ich die Migros, die jetzt ein Pilotprojekt namens «Innovage» lanciert hat. Sie organisiert in drei Städten Ausbildungen, in denen Leute im Pensionierungsalter, die eine hohe Qualifikation haben, weitergebildet werden, damit sie im Freiwilligenbereich zukünftig Engagements übernehmen können. Ich halte das für einen Erfolg versprechenden, zukunftsträchtigen Ansatz. Man muss die Leute betreuen, die Projekte evaluieren, weiterentwickeln und bekannt machen. Vor allem aber muss man diesen Leuten immer wieder zeigen, dass sie Leistungen erbringen, die geschätzt werden.

Es muss also auch eine Veränderung der allgemeinen Einstellung gegenüber diesen Leistungen stattfinden?

Ja. Gerade auch in Bezug auf das Denken, dass nur Erwerbsarbeit wichtig, Freiwilligenarbeit, Familienarbeit oder politische Arbeit hingegen zweitrangig seien. Nur weil das eine mit Geld honoriert wird, ist das für mich nicht a priori wichtigere Arbeit.

Was wäre Ihre Vision für den Umgang mit dem Älterwerden in der Schweiz?

Man sollte diese Diskussion weniger stereotyp führen als bis anhin. Man sollte nicht pauschalisierend von den «alten Leuten» oder dem «Alter» sprechen, sondern vom «Älterwerden». Bei steigender Lebenserwartung kann das eine lange Phase sein. Man kann mit 60 leistungsfähiger sein als mit 50, weil man nicht mehr so eingespannt ist und stärker aus den eigenen Impulsen schöpfen kann. Aber ich bin mir auch bewusst, dass ab 80 Jahren gesundheitliche Gebresten und Einschränkungen zunehmen, das möchte ich nicht schönreden. Man darf in dieser Frage einfach nicht alle über einen Leisten schlagen. Was es braucht, sind massgeschneiderte Lösungen.

Besteht nicht auch die Gefahr, dass bei diesem Thema der Altersaktivität einem «Jugendlichkeitskult» das Wort geredet wird und existenzielle Fragen über Alter und Tod verdrängt werden?

Doch. Es läuft – zumindest bei gut betuchten Rentnern und in der Werbung – vielfach in die Richtung einer Konsumhaltung gegenüber Sachen und Erlebnissen, die man sich kaufen kann, die man sich leisten kann. Man geht wellnessen, man geht reisen, man geht gut essen und konsumiert kulturell. Man möchte zeigen: Wir können es uns noch leisten, wir gehören noch dazu. Wenn man betont so lebt, verpasst man eine Chance des Alters, die darin besteht, sein «Eigenes» zu finden und zu leben, sei das eine Tätigkeit oder sonst ein Engagement. Es ist dabei nicht so wichtig, was es ist, sondern dass man mit Herzblut dranbleibt, sich noch Ziele setzt und sich auch noch fordern lässt. Dann geht man einen guten Weg auf das Lebensende zu, denn man ist erfüllt. Vielleicht kann man dann auch eher loslassen, wenn das Leben zu Ende ist.
Wie sehen Sie Ihr eigenes Alter? Denken Sie daran, mit 64 in den Ruhestand zu
gehen?

Nein, das denke ich nicht. Ich werde zwar kaum mit 70 noch voll arbeiten, aber so ein fliessender Übergang und Ausklang, das wäre mein Ideal.

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