«der arbeitsmarkt» 08/2005

Das wahre Leben hat die Filmwelt verdrängt

Mehr Überblick und weniger Kosten erhoffen
sich die städtischen Sozialdirektionen von Stellen, die unverbindlich
und anonym Auskunft über die sozialen Dienstleistungen erteilen.
Das Sozial Info Rex in Luzern zeigt, wie es funktioniert.

«Willkommen». Der Leuchtkasten über dem Eingang begrüsst die Luzerner nicht mehr zur Kinovorstellung, sondern geleitet ins Sozialzentrum Rex. Seit Anfang Oktober 2004 sind wichtige Dienstleistungen im
Sozial- und Gesundheitsbereich an der Obergrundstrasse 3 unter einem Dach vereint. Nicht nur der Name «Rex» mit dem Krönchen über dem «e» ist aus den Kinozeiten geblieben. Zwei grün-goldene Säulen weisen den Weg zum Empfang, weit offen stehen die beiden Kinopforten in Originalfassung. Links geht es zum Sozialamt, rechts zum Sozial Info Rex, der neu gegründeten sozialen Anlaufstelle. Das Betreibungsamt, die Friedensrichterin, die Anmeldestelle Wohnen im Alter, die Amtsvormundschaft sowie der Kinder- und Jugendschutz befinden sich in den oberen Stockwerken. All diese Dienstleistungen gehören zum Sozialzentrum Rex. Gemeinsam unterhalten sie den Empfang und das Sekretariat.

Unkompliziert, unverbindlich und anonym

Rund 300 Broschüren und Prospekte öffentlicher und privater Institutionen liegen im weiträumigen und hell beleuchteten Sozial Info Rex auf. Interessierte können sich selbständig über die Angebote und Fachstellen im Sozial- und Gesundheitsbereich informieren. Zwei runde weisse Tische mit schwarzen Stühlen laden zur Lektüre ein. Wer per Internet an die gesuchten Informationen gelangen will, kann an der Computerstation Halt machen. «Die Menschen kommen am liebsten vorbei», sagt Stefan Gutzwiller. Er ist Leiter des Sozial Info Rex und für das Angebot der Anlaufstelle verantwortlich.
Auf die Kundenfreundlichkeit legt er grossen Wert. «Es ist den Leuten angenehmer, sich in einem persönlichen Gespräch zu informieren. E-Mails hin und her schicken wirkt dagegen schwerfällig.» Unkompliziert, unverbindlich und anonym sind drei Kriterien, auf die es bei einer solchen Informationsstelle ankommt.
Soziale Anlaufstellen sind neue Dienstleistungsangebote der städtischen oder kantonalen Sozial- und Gesundheitsdepartemente. Die Massnahme zielt darauf ab, den Menschen den Zugang zu sozialen Leis-tungen zu erleichtern. Kürzlich hat der Bundesrat den Bericht einer Studie zur Kenntnis genommen, welche die Zugangshindernisse zu den sozialen Institutionen in der Schweiz untersuchte. Die Autoren kamen zum Schluss, dass soziale Anlaufstellen eine wirksame Orientierungshilfe für die Öffentlichkeit darstellen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat vorab festgestellt, dass unser System der sozialen Sicherheit komplex und unüberblickbar ist. Jetzt liegt es an ihr, über das weitere Vorgehen zu entscheiden.
In der Schweiz gibt es bereits 18 soziale Anlaufstellen. Die meisten Projekte sind erst in den letzten Jahren entstanden oder befinden sich im Planungsstadium. Das Angebot reicht von der Bereitstellung von
Informationen bis hin zur Bearbeitung komplexer Dossiers. In vielen Fällen ergreifen lokale Sozialämter die Initiative zum Aufbau einer Anlaufstelle. Die Sozialhilfe muss alle Aspekte der sozialen Sicherheit berücksichtigen, was sie von den übrigen Leistungsträgern unterscheidet. Sie hat daher ein besonderes Interesse, die Menschen rechtzeitig an den richtigen Ort zu weisen. Um den Anlaufstellen ein möglichst neutrales Image zu verleihen, sind diese bewusst vom Sozialamt getrennt platziert. Denn der Sozialhilfe, entwickelt aus der Armenhilfe und später der Fürsorge, haftet noch immer ein stigmatisierender Ruf an.

Kaum Fragen zu Arbeit und Wohnung

Auch das Sozial Info Rex grenzt sich räumlich bewusst vom städtischen Sozialamt ab. Der Projektgruppe war diese räumliche Trennung ein wichtiges Anliegen. Als der Stadtrat nach parlamentarischen Vorstössen grünes Licht gab, begann 2000 die Projektphase, die bis letzten Herbst dauerte. Stefan Gutzwiller war von Anfang an dabei. Zusammen mit anderen Fachleuten erarbeitete er ein Konzept, das sich an den städtischen Sozialzentren in Zürich sowie entsprechenden Modellen in Deutschland orientierte. Der Projektgruppe war klar, dass ein unüber-blickbares, riesiges Angebot an Hilfeleistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich vorhanden war. «Nicht einmal Fachleute, geschweige denn Privatpersonen, hatten den Überblick, wer wofür zuständig war. Die Gefahr bestand, dass man schnell von einer Stelle zur anderen verwiesen wurde.» Auskunft wurde manchmal doppelt oder gar nicht erteilt. Leidtragende waren die Hilfesuchenden, die von Pontius zu Pilatus
rannten, um zur nötigen Information zu gelangen. Gefragt war also eine Orientierungsstelle, die die Leute ganz gezielt an den richtigen Ort verweist. Unter dem Strich erhoffte man sich auch Einsparungen, weil man davon ausgeht, dass die Unübersichtlichkeit zusätzliche Kosten verursacht.
Seit der Eröffnung meldeten sich über 1200 Menschen beim Sozial Info Rex. Für Gutzwiller ein klares Indiz, dass die Anlaufstelle einem grossen Bedürfnis der Luzerner Stadtbevölkerung entspricht. Es erstaunt ihn, dass es in fast 80 Prozent der Fälle um finanzielle Anliegen geht. Nur eine Minderheit hat Fragen zum Thema Wohnen und Arbeit. Gross ist vermutlich die Zahl derjenigen, die sich nicht melden, obwohl sie in Schwierigkeiten stecken. Die Schwellenängste gegenüber Behörden sind beträchtlich. Gerade Menschen in finanzieller und sozialer Not zögern den Weg zum Sozial-amt möglichst lange hinaus. Gutzwiller vermutet deshalb, dass viele Menschen keine wirtschaftliche Sozialhilfe beantragen, obwohl sie Anspruch darauf hätten.

Schüsse im Sozialamt Luzern

Wie viele Menschen in der Schweiz den Schritt zum Sozialamt wagen und für eine bestimmte Zeit finanzielle Unterstützung erhalten, ist noch nicht bekannt. Das Bundesamt für Statistik baut zurzeit eine eidgenössische Sozialhilfestatistik auf. Anfang 2006 werden die ersten vollständigen Ergebnisse erwartet. Einzelne Kantone und Städte hingegen haben ihre Statistiken zur Sozialhilfe bereits veröffentlicht. So leisten grössere Städte mehr Sozialhilfe als kleinere Städte und ländliche Regionen. 2003 betrug die Sozialhilfequote der Stadt Zürich 5,1 Prozent, deutlich höher als in Luzern mit 3,4 Prozent. In allen Städten ist die Sozialhilfequote 2003 gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Der kantonale Durchschnitt fiel um einiges tiefer aus: 2003 wies der Kanton Zürich eine Sozialhilfequote von 3,2 Prozent aus, wenig mehr als der Kanton Luzern mit 2,1 Prozent.
Neben dem Staat mit seinen Institutionen handeln noch andere Akteure, Fachleute und Freiwillige, beispielsweise Netzwerke aus der Familie und der Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen, politische Parteien. Auch die privaten Hilfswerke gehören dazu. Soziale Anlaufstellen mit erweitertem Angebot wie das Sozial Info Rex versuchen die Koordination zwischen der öffentlichen und privaten Sozialhilfe zu verbessern. Je nach Bedarf führen die Mitarbeitenden des Sozial Info Rex auch bis zu drei persönliche Kurzgespräche. Ist eine längere oder spezifische Beratung nötig, werden die Personen an die zukünftigen Fachstellen verwiesen. Je nach Situation und Wunsch nimmt die Anlaufstelle gleich telefonisch mit der Fachstelle Kontakt auf und vereinbart einen Termin. Das Sozial Info Rex hat die Besucherinnen und Besucher bisher an Institutionen wie Caritas, Pro Senectute, Frauenzentrale und Beratungsstellen im Migrations- oder Suchtbereich verwiesen.
Die Triage verläuft jedoch grösstenteils passiv, also ohne direkte Kontaktaufnahme oder Terminvereinbarung mit der zuständigen Fachstelle. Ob die Leute danach hingehen, weiss Stefan Gutzwiller nicht. Dies zu kontrollieren sei nicht Aufgabe des Sozial Info Rex. In erster Linie sei die Anlaufstelle eine Auskunftsstelle. «Unsere Philosophie ist, dass sich die Leute selbständig an die Stelle wenden sollen und dies auch können. Selbständigkeit wollen wir fördern, nicht abbauen.» Was Menschen in einer Krisen- oder Entscheidungssituation brauchen, ist sich Gutzwiller sicher, sind keine längerfristigen Sozialberatungen, sondern eine aussenstehende Person, die Unterstützung leistet und auf etwas hinweist.
Die zunehmende Gewaltbereitschaft in den Verwaltungen ist ein Thema, mit dem sich Gutzwiller seit längerem auseinander setzt. Noch nie habe es so viele Sozialbezüger in der Schweiz gegeben, meint er. Bald kenne jeder jemanden, der arbeitslos oder in existenziellen Schwierigkeiten sei. In unserer Gesellschaft herrsche ein kälteres Klima, das sich auch im Sozialamt widerspiegelt. Am früheren Ort waren die Büroräume eng gewesen, schlecht belüftet und künstlich beleuchtet. Ein gereiztes Klima herrschte unter den Wartenden. Im Sozialamt in Luzern wurde auch schon geschossen.

Balance zwischen Sicherheit und Kundenfreundlichkeit

In der Planungsphase des Sozial Info Rex wurde den Sicherheitszonen deshalb besondere Bedeutung geschenkt. Während der Öffnungszeiten, die auch ausserhalb der Bürozeiten angesetzt sind, stehen jeweils mindestens zwei der sechs Mitarbeitenden für Auskünfte und Kurzberatungen zur Verfügung. Dies ist eine der Sicherheitsvorkehrungen, die bei der baulichen Umsetzung des Sozial Info Rex getroffen wurden. Kommt es zu einer aggressiven Handlung oder sonst einem Zwischenfall, kann die zweite Person einschreiten oder Hilfe organisieren. Gutzwiller ist bestrebt, eine Balance zwischen Kundenfreundlichkeit und Sicherheit zustande zu bringen: «Wir wollen uns nicht hinter Panzerglas begeben und mit Gegensprechanlagen kommunizieren. Wir suchen bewusst die Nähe zu den Kunden.» Heute versuche man mit baulichen Massnahmen und Personalschulungen den Eskalationen entgegenzuwirken. Die grossen Fenster lassen natürliches Licht in den Raum und können geöffnet werden, um frische Luft hereinzulassen. Der Kontakt nach aussen ist stets möglich. Niemand fühlt sich bedrängt oder eingesperrt.
Mit neuen Perspektiven und Informationen eingedeckt, verlassen die Besucherinnen und Besucher das Sozialzentrum Rex. «Der Hauptfilm hat noch nicht begonnen», steht auf der Rückseite des Willkommen-Leuchtkastens. Noch ist nichts verloren. Es bleibt noch Zeit, die Ratschläge in die Tat umzusetzen.

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