«der arbeitsmarkt» 04/2006

Das süsse Imperium

Die Schweizer lieben ihre Schoggi, fast 1,5 Milliarden Franken setzte die Branche allein im vergangenen Jahr um. Doch um sich auf dem Weltmarkt behaupten zu können, brauchen die hiesigen Hersteller neue Rezepte.

Wie wichtig den Schweizern ihre Schokoladeindustrie ist, zeigte sich vor vier Jahren, als kurz vor Ostern bei einem Brand in einem Migros-Verteilzentrum vier Millionen Schoko-Osterhasen vernichtet wurden. Ein Grossteil der Osterproduktion von Chocolat Frey war dahingeschmolzen. Das seco erkannte die Notlage und erlaubte in Rekordzeit den Rund-um-die-Uhr-Betrieb in drei Schichten, damit bis Gründonnerstag wieder landesweit genug Osterhasen in den Regalen standen.
Ostern ohne Schoggi ist für die Schweizer undenkbar. Über 700 Gramm Schokoladeosterhasen, -küken und -eier isst jeder von uns. Allein Frey produziert jährlich «sechs Millionen Osterhasen und -geflügel und hat damit etwa 50 Prozent Marktanteil in der Schweiz», wie Christoph Schmassmann, Mitglied der Geschäftsleitung, erklärt.
Das ist eine der wenigen klaren Aussagen, die man von Seiten der Industrie erhält. Der Wettbewerb ist hart, denn der Inlandmarkt ist gesättigt. Zudem essen die Schweizer mehr Schokolade als jede andere Nation der Erde, und die Wohnbevölkerung stagniert.

283 Kilometer Toblerone pro Tag

So ist schon die einfache Frage, wer in der Schweiz wie viel Marktanteil hat, nicht schlüssig zu beantworten. Diese Zahlen werden zwar erhoben, aber unter Verschluss gehalten, als handle es sich um eine geheime Schokorezeptur. Immerhin: Chocolat Frey gibt freimütig 38 Prozent Marktanteil bei den Inlandsverkäufen an. Damit ist die Firma Marktführer in der Schweiz. Die Zahl stammt aus einer Erhebung des Marktforschungsinstituts AC Nielsen, das selbst nur Gesamtverkaufszahlen veröffentlicht. Die Nielsen-Zahlen haben allerdings einen Haken: Sie erfassen nur den Detailhandel, keine Kioskverkäufe.
Die eigentlichen Gesamtverkaufszahlen kennt einzig Chocosuisse, der gemeinsame Verband der Schokoladehersteller. Er vertritt die Interessen der 15 Schokoladehersteller und der drei wichtigsten Importeure und macht auch die Öffentlichkeitsarbeit für die Branche. Chocosuisse behält die Marktanteile jedoch ebenfalls für sich und beruft sich auf Datenschutzgründe. Franz Schmid, Direktor von Chocosuisse und offizielles Sprachrohr der Schokoladehersteller, will nur so viel sagen: «Die grössten Schweizer Schokoladehersteller nach Verkäufen in alphabetischer Reihenfolge sind Chocolat Frey, Halba, Kraft, Lindt und Nestlé.» Schweizer Diskretion par excellence.
Kaum mehr Transparenz herrscht beim Export. Die im Ausland bekannteste Schweizer Schokolade ist die Toblerone. Das hätte sich Theodor Tobler kaum träumen lassen, als er 1908 zusammen mit seinem Cousin Milchschokolade mit Honig- und Mandelnougat verrührte und zu matterhornförmigen Riegeln goss. Toblerone gehört heute zu Kraft Foods Schweiz in Bern und beliefert 70 Länder direkt. Es gibt kaum ein Duty-free-Geschäft, in dem keine Toblerone erhältlich ist. Alle Toblerone auf der Welt kommt heute aus Bern. 300 Mitarbeitende produzieren dort den ganzen Tag lang nichts als dreieckige Schokoladeriegel, täglich 283 Kilometer. Nur sechs Prozent davon werden in der Schweiz abgesetzt. Und somit haben wir den Export-Schweizer-Meister: Laut Kraft Foods ist knapp die Hälfte aller Schweizer Schokolade im Ausland Toblerone.
Gar der grösste Schokoladehersteller der Welt ist nach eigenen Angaben Barry Callebaut. Nach Zahlen von 2004 von der ICCO, der International Cocoa Organization, verarbeiten nur zwei US-amerikanische Firmen, ADM aus Illinois und Cargill aus Minnesota, mehr Kakao als Barry Callebaut mit seinen 400000 Tonnen. Allerdings stellen diese daraus nur teilweise eigene Schokolade her, zur Hauptsache machen sie Halbfertigprodukte für andere Produzenten.
Barry Callebaut kennt man hierzulande kaum. Dennoch: Der Hauptsitz liegt in der Schweiz. Knapp 300 der weltweit über 8500 Mitarbeiter arbeiten hier. Die Firma produziert in über 30 Werken in gut 20 Ländern, hat ihre grösste Fabrik in Belgien und verarbeitet über 400000 Tonnen Kakaobohnen pro Jahr. Alprose, die bei Coop im Regal liegt, stammt von Barry Callebaut. Sonst aber produziert der Schokoladegigant in der Schweiz unsichtbar für den Konsumenten für andere Hersteller, Chocolatiers und Patissiers.
Gaby Tschofen von Barry Callebaut erklärt sogar: «In jedem vierten Schokoladeprodukt auf der Welt ist Barry Callebaut drin.» Nebenbei gehören dem Unternehmen so bekannte Marken wie Van Houten oder Stollwerck in Deutschland, die Alpia- und Sarotti-Schokolade herstellt. Aber eben: Ein Hauptsitz in der Schweiz macht noch keine «Schweizer Schokolade». Mit diesem Herkunftsvermerk dürfen nur Schokoladeerzeugnisse bezeichnet werden, die ausschliesslich an hiesigen Produktionsstätten hergestellt wurden.
Insgesamt wurden in der Schweiz im vergangenen Jahr 160000 Tonnen Schokolade produziert. Die Schweizer sind anerkanntermassen Weltmeister im Schokoladeessen. 11,6 Kilogramm pro Person oder 68979 Tonnen verdrückten sie allein 2005. Einen gewissen Beitrag zu diesem Rekord leisten wohl auch die Touristen. Bei Chocosuisse schätzt man, dass etwa 1,5 der 11,6 Kilo im Reisegepäck der Touristen landen. 43 Prozent ihrer Jahresproduktion assen die Schweizer selbst. Das brachte der Industrie einen Umsatz von 803 Millionen Franken. Die verbleibenden 57 Prozent ihrer Produktion exportieren die Schoggifabrikanten in 130 Länder. Im Export nahm die Industrie weitere 663 Millionen ein. Die im Ausland erzielten Verkaufserlöse erscheinen im Vergleich zu den Inlandsumsätzen gering. Allein mit der «Hochpreisinsel Schweiz» lässt sich das nicht begründen. Die erzielten Verkaufserlöse sind beispielsweise um die Ausfuhrbeiträge vergünstigt. Mit diesen gleicht die Schweiz die Preisdifferenzen der teureren Schweizer Agrarrohstoffe wie Milch aus, um die Schweizer Exporteure wettbewerbsfähig zu machen.
Was steckt denn überhaupt in der Schokolade? Hauptsächlich Kakao, Kakaobutter, Zucker, Milchpulver und etwas Vanillin oder, im Edelfalle, echte Vanille. Die Rohstoffe machen nur etwa ein Viertel des Ladenpreises einer Tafel Schokolade aus. Wenn eine Ernte schlecht ausfällt, steigen die Preise. Grösster Preistreiber im Moment sind keineswegs Kakaobohnen, sondern Haselnüsse. 80 Prozent der Welternte stammen aus der Türkei. Dort kam es im vergangenen Jahr zu einer Dürre, die viele Sträucher nachhaltig schädigte. Der Preis schoss von 638 Franken pro 100 Kilo auf fast das Doppelte.

Wettbewerbsnachteil aufgrund der Zuckerpreise

Milchpulvermangel wiederum herrscht in der Schweiz nicht gerade. Der Staat tut den Bauern zuliebe, was er kann, damit möglichst nur Schweizer Milch in die Schoggi kommt. 100 Kilo Milchpulver kosten etwa 650 Franken. Jeder Hersteller darf höchstens zwanzig Prozent seines Bedarfes mit billigerem Import-Vollmilchpulver decken. Verwendet er ausschliesslich inländisches, erhält er 67 Franken pro 100 Kilogramm zurückerstattet. So versucht Bern, dafür zu sorgen, dass sich die Einfuhr nicht lohnt. «Am Ende sitzen die Schokoladefabrikanten da und rechnen und in Bern sitzen sie und rechnen und der Import lohnt sich jeweils gerade knapp nicht», meint Marianne Wüthrich Gross vom Supply Chain Management bei Chocolat Frey schmunzelnd.
Ein wichtiger Schokoladegrundstoff ist Zucker. Viel wichtiger noch als Kakao. 2004 wurden hierzulande 25000 Tonnen Kakao, 23000 Tonnen Kakaobutter und 17000 Tonnen Milchpulver verarbeitet. Hauptbestandteil der Schokolade aber war Zucker mit 60000 Tonnen. Und jetzt wird es kompliziert. Chocosuisse-Direktor Franz Schmid erklärt die aktuelle Situation so: «Seit Februar 2005 gibt es gestützt auf das revidierte Freihandelsabkommen mit der EU keine Ausfuhrbeiträge und keine Zölle mehr für den in verarbeiteten Landwirtschaftsprodukten eingesetzten Zucker. Das machte so lange nichts, wie der Zuckerpreis in der EU und der Schweiz in etwa gleich hoch war, was bisher der Fall war. Da aber der für den Schweizer Zuckermarkt massgebliche Weltmarktpreis in den letzten drei Monaten um über 50 Prozent gestiegen ist und der EU-Zuckerpreis seit kurzem sinkt, haben die Schweizer plötzlich einen beachtlichen Wettbewerbsnachteil. Dieser liegt je 100 kg Zucker derzeit bei rund 25 Franken.» Chocosuisse verlangt nun eine Zollbegünstigung für den Zucker, der für Verarbeitungsprodukte benötigt wird. Niemand weiss, ob und wann das gelingt.
Der für den Geschmack wichtigste Bestandteil der Schokolade schliesslich, die Kakaobohnen, wird an der Börse gehandelt. Es gibt Kakao-Futures und -Optionen, Begriffe, die man das sonst eher mit Aktien verbindet. Es ist ein spekulatives Geschäft. Wenn eine Ernte schlecht ausfällt, schiessen die Preise in die Höhe. Die meisten Firmen beziehen ihren Kakao über Händler, nur wenige beziehen ihn direkt.

Zu hell für den Konsumentengeschmack

Direktbezug macht vor allem bei hochwertigen, seltenen Sorten Sinn. 90 Prozent des Kakaos sind Forastero-Sorten, billiger Konsumkakao. Die hochwertigen Criollo-Bohnen machen nur 10 Prozent der Welternte aus. Seit einigen Jahren werden sie immer gefragter, weil dunkle Schokolade immer beliebter wird. Dort wirkt sich der Geschmack der Bohnen viel stärker aus als in der Milchschokolade, die mit wenigen Ausnahmen nur günstigen Forastero-Kakao enthält.
80 Prozent der Schweizer Produktion sind Milchschokolade. Böse Zungen behaupten, die Schweiz habe den Trend zu dunkler Schokolade verschlafen. Wollen die schweizerischen Produzenten das Feld nicht völlig der italienischen und französischen Konkurrenz überlassen, die traditionell hochwertige dunkle Schokoladen herstellt, müssen sie mehr dunkle Sorten anbieten.
Alle von uns befragten Schweizer Hersteller nahmen in den letzten Jahren vermehrt dunkle Schokoladen ins Sortiment auf. Wer darin teuren Criollo-Kakao verarbeitet, weist auf der Packung stolz darauf hin. Die anderen vermerken immerhin möglichst auffällig den hohen Kakao-Anteil. Die Geschmacksunterschiede sind enorm. Zudem gibt es einen Trend zu Herkunftsschokoladen, die dann nur Kakao aus beispielsweise Ecuador, Venezuela oder Ghana enthalten. Wohlgemerkt: Die Herkunft des Kakaos macht zwar durchaus einen geschmacklichen Unterschied. Welten liegen jedoch zwischen Criollo und Forastero. Wo nicht extra angegeben, sind auch keine Criollo-Bohnen drin, zurzeit noch in sehr vielen dunklen Schokoladen. Die Verbraucher werden langsam sensibler für die Qualitätsunterschiede.
Die Nachfrage nach dunkler Schokolade steigt und steigt, bei Lindt und Sprüngli zum Beispiel laut Sprecherin Sylvia Kälin «jedes Jahr im zweistelligen Prozentbereich». Doch hochwertige Bohnen sind ein rares Gut. Eine neue Kakaoplantage kann nach fünf Jahren zum ersten Mal beerntet werden. Wie also der steigende Bedarf nach Criollo gedeckt wird, weiss deshalb niemand so genau. Ob die Mengen an Criollo, die weltweit angeblich verarbeitet werden, auch tatsächlich existieren, dürfe man bezweifeln, heisst es häufig hinter vorgehaltener Hand.

Nötige Innovationen bei Qualität und Quantität

Sehr um die Qualität der Kakaosorten bemüht ist man beispielsweise in Schwyz bei Felchlin. Die Firma macht mit knapp 100 Mitarbeitern 40 Millionen Franken Umsatz pro Jahr. Felchlin- Schokolade entdeckt man nicht im Supermarktregal. Aber gegessen hat sie wohl fast jeder Schweizer bereits. Denn Felchlin beliefert Konditoren und Confiseure, die die Schokolade zu eigenen Tafeln umschmelzen oder Pralinés daraus herstellen. Kein einziger Schweizer Confiseur stellt seine Schokolade von Grund auf selbst her, alle kaufen Couverturen von den verschiedenen Herstellern.
Felchlin bezieht seine hochwertigen Kakaos direkt von den Produzenten. Ein einziger Einkäufer reist durch die Anbaugebiete und hält die Kontakte zu den Kooperativen. Geschäftsführer Christian Aschwanden erklärt: «Das ist für uns wesentlich teurer, da wir Versicherung und Transport selbst übernehmen. Dafür können wir den Preis nach Qualität bezahlen, das motiviert die Kooperativen, uns das Beste anzubieten.» Als Felchlin 1995 begann, hochwertige dunkle Sorten herzustellen, zog man einen Weinfachmann bei. Mit dessen Hilfe wurden Muster aus Kakaoplantagen degustiert und beschrieben. So entstand eine umfangreiche Liste mit hunderten von verschiedenen Aromen, die die verschiedenen Bohnen charakterisieren. Damit bringt man bei Felchlin den Confiseuren, die sich zur Fortbildung anmelden, noch heute das Schmecken bei.
Selbst Wildkakao wird bei Felchlin verarbeitet, etwas, das es auf dem Weltmarkt praktisch gar nicht zu kaufen gibt. Bolivianische Bauern sammeln die wildwachsenden Bohnen, 20 bis 30 Tonnen pro Jahr. Die grossen Schokoladefirmen zeigten kein Interesse, da sie die kleinen Bohnen auf ihren Maschinen gar nicht mehr verarbeiten können. In Schwyz jedoch stehen noch Gerätschaften aus der Zeit der Manufakturen, die man von Hand so lange justieren kann, bis sie mit den kleinen Bohnen zurechtkommen.
Bei Felchlin scheint mancherorts fast die Zeit stehen geblieben zu sein. Dort gibt es noch hundertjährige Conchen (siehe Kasten Seite 13), in denen die Schokolademasse bis zu 72 Stunden lang bewegt wird. So lange, bis sich das erwünschte Aroma gebildet und die Masse einen zarten Schmelz erhalten hat. «Die alten Conchen fassen 200 Kilogramm, unsere modernen Conchen ein bis zwei Tonnen. Als wir eine neue bestellen wollten, bekamen wir unter grossen Mühen eine für drei Tonnen. Kleinere Maschinen werden gar nicht mehr hergestellt», so Aschwanden. Die Industrie setzt auf Masse. Die alten Conchen sind dennoch stets im Einsatz, nicht zuletzt, so Aschwanden, «wegen der Japaner». Diese legten grossen Wert auf Tradition und wollten nur Schokolade aus den alten Maschinen beziehen.
Der Wettbewerb ist hart, und Zeit und Energie sind Geld. Während Hersteller wie Felchlin ihre Nische in der Qualität finden, versuchen die anderen, über grössere Mengen oder rationellere Verfahren so profitabel wie möglich zu sein. Dabei ist der Erfindungsgeist gross. So hat Lindt das hauseigene LSCP-Verfahren (Lindt & Sprüngli Chocolate Process) entwickelt. Unerwünschte Aromabestandteile werden nicht erst beim Conchieren reduziert. Stattdessen entzieht man bereits dem Kakaokernbruch durch besondere Reaktionslösungen unerwünschte Stoffe. So genügt es, manche Milchschokoladen zwei Stunden, dunkle Schokoladen ohne Milchanteil acht Stunden zu conchieren. Immerhin: Auch bei Lindt gibt es Spezialrezepturen, die bis zu 30 Stunden conchiert werden.

Forschung für ein angenehmes Schmelzverhalten

Chocolat Frey wiederum hat ihre eigene Sparmethode: Die Bohnen werden schon vor dem Rösten geschält. Das sei ökonomischer. Allerdings kann man sich fragen, ob beim Rösten nicht Geschmackskomponenten verloren gehen. Christoph Schmassmann beruhigt: «Die Schale, welche 12 bis 14 Prozent des Gewichtes ausmacht, kann ohnehin nicht verwendet werden. Warum also Energie und Röstkapazität aufwenden, bevor man sie entfernt und wegschmeisst? Auf die Aromaentwicklung beim Rösten hat die Schale keinen Einfluss.» Das vielleicht nicht. Aber die Schale schützt den Kern davor, beim Rösten Schaden zu nehmen, sagen andere.
Beim Versuch, die Schokoladeherstellung rationeller zu machen, können Firmen von einem Forschungsprojekt der ETH Zürich profitieren, das auch einige Hersteller finanziell unterstützen. Denn letztendlich möchten alle ihre Produkte schneller und billiger herstellen, sofern die Qualität nicht leidet. Daran arbeitet der Professor für Lebensmittelverfahrenstechnik, Erich Windhab, mit seinem Team. Doktorandin Yvonne Mehrle zum Beispiel versucht, das Kühlverfahren für Schokolade zu beschleunigen. Bisher muss Schokolade durch einen 50 Meter langen Kühltunnel geschickt werden, bis sie auskristallisiert ist und verpackt werden kann. Nebenbei macht Mehrle einem Todfeind der Schokolade das Leben schwer, dem Fettreif. Das ist der weisse Belag, der sich vor allem bei gefüllter Schokolade bildet, wenn ihr irgendwann einmal zu warm geworden ist.
Wenn flüssige Schokolade in ihre endgültige Form gegossen wird und auskühlt, kann die Kakaobutter beim Aushärten in einer von sechs Formen auskristallisieren. Mehrle erklärt: «Erwünscht sind davon nur die Beta-V-Kristalle. Denn sie ergeben die ideale Bruchfestigkeit, Haltbarkeit, Glanz und ein angenehmes Schmelzverhalten im Mund.» Bisher werden die erwünschten Kristalle durch aufwändiges kontrolliertes Erwärmen und Abkühlen der Schokolademasse, Temperieren genannt, erzeugt. Mehrle arbeitet mit einem neuen, einfacheren Verfahren. Sie «impft» die Schokolademasse mit stabilen Beta-VI-Kristallkeimen aus Kakaobutter. Diese Kristalle dienen sozusagen als Muster für die anderen Kristalle. Um sie herum bildet die abkühlende Kakaobutter von selbst die angestrebte Beta-V-Kristallstruktur. Durch die
perfekte Kristallisation tritt der von den Herstellern gefürchtete Fettreif kaum noch auf. Mehrle: «Besonders nützlich ist, dass mit dieser Methode auch Schokoladefüllungen vorkristallisiert werden können, was nur schwer möglich war. Manche Fette darin blieben flüssig und wanderten schnell an die Oberfläche.» Die Folge: Fettreif. Die Haltbarkeit gefüllter Schokoladen verlängert sich durch das neue Verfahren stark. Erste Firmen setzen den Scherkristallisator bereits industriell ein.
Innovativ müssen Forschung wie auch die Hersteller sein. Denn der Konsument langweilt sich schnell. Zwischen einem halben und zwei Jahren braucht ein neues Produkt, bis es marktreif ist. Alle Hersteller versuchen, Trends aufzuspüren und ständig Neuheiten vorzustellen. Seien es neue Pralinéfüllungen, eine neue Schoggihasenform oder gar Ohren ganz ohne Hasen wie bei Chocolat Frey, die mit dieser Art Neuerungen auf 250 Innovationen allein im vergangenen Jahr kam. Die meisten dieser Kreationen landen ohne grosses Marketinggetöse im Migros-
Regal und verschwinden stillschweigend wieder, wenn sie nicht gefragt sind.

Designerschoggi in Hochglanzverpackung

Aber ohne Werbung geht es kaum. Die Schokoladeregale bei den grossen Ketten Migros und Coop sind gefüllt mit Eigenmarken wie Frey oder Halba. Wer sonst in den grossen Ketten seine Ware auflegen will, muss sich in die Regale einkaufen. Und das lohnt sich nur, wenn dann auch genug Kunden zugreifen.
So nahm etwa Camille Bloch im vergangenen Jahr eine neue Mousse-Linie auch gleich zum Anlass, in 75 Jahren Firmengeschichte erstmals unter dem Firmennamen aufzutreten. Dafür leistete man sich sogar eine Serie TV-Spots. Bisher traf man die Firma nur unter ihren Marken Ragusa und Torino an. Künftige neue Marken sollen unter dem Firmennamen auftreten.
Marketinggetöse im ganz grossen Stil betreibt Nestlé. Ex-Expo-Chefin Nelly Wenger ist seit Januar 2005 Chefin von Nestlé Schweiz mit 1,3 Milliarden Umsatz. Ein kleiner Teil ihres Imperiums ist Cailler. Nun präsentierte sie den Medien vor einigen Wochen ihren ersten grossen Coup. Nein, nicht etwa meterweise neue Schokoladelinien oder wenigstens neue Rezepturen. Die gibt es zwar auch, davon zwei vom Starkoch Ferran Adrià. Aber vor allem gibt es dies: eine neue Verpackung. Stararchitekt Jean Nouvel designte die Schokoladetafeln, bei manchen verlaufen die Rippen nun rautenförmig, andere ähneln Filmstreifen. Und natürlich werden Cailler-Tafeln nicht mehr in Papier eingewickelt, das mit Alpen, Bienenwaben und Milcheimern bedruckt ist. Die sagenhaften Neuerungen beschreibt Nestlé so: «Bei den Verpackungen herrschen durchsichtige Materialien, Glanz und Brillanz vor. Das Betrachten der glänzenden Oberfläche, auf der sich ein Teil der Welt spiegelt, ist auch ein Akt der Selbsterkenntnis und der Wahrnehmung der uns umgebenden Realität.» Und Nelly Wenger schwärmt: «Wir lancieren unter der Marke ‹Cailler of Switzerland› ein ganz neues Schokoladeimperium.»
Es ist vor allem der Versuch, Aufmerksamkeit zu wecken. Wenger: «Der Nahrungsmittelsektor ist rückläufig und die Konzentrationsbewegungen in der Distribution werden sich fortsetzen. Es wird nicht genügen, Reformen fortzuführen, um nachhaltiges Wachstum zu garantieren. Es wird unumgänglich sein, im Bereich der Marken auf rigorose Innovationen zu setzen.» In diesem Fall auf neue Hüllen und Starglamour.

Kampf um die Aufmerksamkeit asiatischer Konsumenten

Wie sieht nun die Zukunft der Schweizer Schokoladeindustrie aus? Sie liegt eindeutig im Export, grosse Hoffnungen ruhen auf Asien. Zurzeit isst jeder Chinese nur gerade 20 Gramm reinen Kakao jährlich, während die Europäer immerhin auf durchschnittlich zwei Kilo kommen. Doch der Konsum in Asien soll laut den Marktforschern um bis zu 25 Prozent pro Jahr wachsen, wenn auch von einem sehr tiefen Niveau aus.
Das ist die erfreuliche Seite der Medaille: Wer es rechtzeitig schafft, in Asien einen Fuss oder besser einen Schokoriegel in die Tür zu bekommen, muss sich offenbar nicht sorgen.
Die Kehrseite ist folgende: Der wichtigste Kakaoproduzent ist die Elfenbeinküste.
1,3 Mio. Tonnen Kakaobohnen werden dort im Jahr produziert. Das sind 38,7 Prozent der Welternte. Seit 2002 herrscht Bürgerkrieg. Kakao ist die wichtigste Devisenquelle und finanziert somit auch die Kriegsführung der Regierung. Nun brauchen Kakaobäume viel Wasser und Pflege. Wegen der Unruhen wird der Transport schwierig und teuer, immer mehr Plantagen liegen brach. Die Anbaufläche sank seit Ausbruch des Krieges um ein Zehntel jährlich. Dieser Rückgang lässt sich nicht so schnell auffangen. Denn selbst wenn andere Länder massiv neue Bäume
anpflanzen, tragen diese erstmals nach fünf Jahren Früchte. Womöglich ist also nicht
die Nachfrage nach Schokolade das Hauptproblem, sondern das Beschaffen der Rohstoffe.
Auch dafür braucht die Schokoladeindustrie womöglich bald neue Rezepte.
Zur PDF-Version: