«der arbeitsmarkt» 11/2014TEXT: paola pittonFOTO: Simone Gloor
Projekt Bergwald

«Das schöne Gefühl, offline zu sein»

Jedes Jahr engagieren sich viele hundert Menschen unentgeltlich für die Schweizer Bergwälder. Besuch im Entlebuch, wo Freiwillige eine Woche lang Bäume fällen, Zäune flicken und Wege schaufeln. Ihr Lohn ist nebst der Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau die Abgeschiedenheit.

«Nicht auf der unteren Seite stehen!», ruft Thomas Löffel in den Steilhang. Die Frau in Wanderschuhen und mit einer Axt in der Hand steigt bergaufwärts über den gefällten Baum. Jetzt kann nichts mehr passieren, sollte er ins Rutschen kommen. Eine zweite, jüngere Frau taucht aus dem Dickicht aus Himbeersträuchern, Farn und Tannen auf. Gemeinsam haben sie die Fichte gefällt und alle Äste abgehackt. Projektleiter Thomas Löffel nickt anerkennend. Der Förster ist für die Sicherheit der 17 Freiwilligen verantwortlich, die er eine Woche lang auf 1500 Metern Höhe anleitet. An diesem Vormittag fällt eine der drei Gruppen im Hang ob Escholzmatt im Entlebuch Bäume.

Der Hang ist eine von vier Flächen aus zwei bis vier Hektaren, die die Stiftung Bergwaldprojekt in ihrer «Obhut» hat. «Wir erledigen Arbeiten, für welche der Staatsforstbetrieb kaum Zeit hat», sagt Thomas Löffel. Seit sieben Jahren leitet der 39-Jährige die beiden Freiwilligenwochen. Im Frühsommer tauscht er sich kurz mit dem Staatsförster aus, was ansteht. «Wir haben ziemlich freie Hand.»

Zweimal für je eine Woche arbeiten hier Männer und Frauen jeden Alters und Berufs. Projektwochen wie jene im Entlebuch organisiert die Stiftung Bergwaldprojekt in der Deutschschweiz und der Romandie seit 1987 jährlich, mittlerweile an über 30 Orten.

Fällen

Viele der Freiwilligen reisten von weit her ins luzernische Biosphärengebiet an, viele sind nicht zum ersten Mal an einem Bergwaldprojekt dabei. Zum Beispiel Katja Heubach. Die 32-Jährige aus Leipzig machte bei zwei ähnlichen Projekten in Deutschland mit, nach Einsätzen in Elm (GL) und Oberwil (GR) wählte sie heuer zum dritten Mal die Schweiz. «Es ist herzerfrischend hier», sagt sie, gesunde Bräune im Gesicht, Säge in der Hand.

Die Schweizer gingen die Arbeit entspannter an, das gefalle ihr. Als Biologin wisse sie zwar einiges über die Natur, aber im Berufsalltag habe sie mehr mit Politik zu tun. «Mir fehlt das Praktische, und ich will meine Verbindung zum Wald stärken.» Und ihre Konsumhaltung überdenken. «Wie viel Wasser brauche ich, und wie viel verbrauche ich?», frage sie sich. Nach jedem Freiwilligeneinsatz halte das Bewusstsein länger an: wertzuschätzen, was sie hat, und zu wissen, dass sie vieles davon nicht braucht. Zum Beispiel, erreichbar zu sein. «Offline sein – ein schönes Gefühl.» Als «superkompetent» schätzt sie die Leute hinter dem Projekt ein. Nebst Thomas Löffel nehmen sich zwei Gruppenleiter Zeit, präzise anzuleiten. «Wer keine Kenntnisse hat, ist spätestens Mitte Woche fähig, einen Baum zu fällen», sagt Katja Heubach.

Sie macht sich daran, eine armdicke Fichte zu sägen. Thomas Löffel hat den Baum vorher mit Leuchtfarbe markiert. Ausgesuchte Bäume sollen in die Dicke gehen und stabiler werden. Dafür brauchen sie Platz. Konkurrenten müssen weichen. «Bei kleineren Bäumen entscheiden die Freiwilligen, welche weg sollen. Sie übernehmen Verantwortung.»

Den Sägen und Äxten zum Opfer fallen vor allem Fichten. Davon gibt es zu viele. Das Problem geht ins 17.  Jahrhundert zurück und ist menschengemacht: Starkes Abholzen führte zu Rutschungen und Überschwemmungen im Tal; einseitiges Aufforsten und wenig Pflegearbeit brachten einen unstabilen Wald hervor. Die vom Sturm Lothar geschwächten Bäume waren für den Borkenkäfer im heissen Sommer 2003 eine leichte Beute. Die Folgen sind bis heute sichtbar: grosse kahle Stellen, aus denen einzelne graue Stämme ragen – ein trostloses Bild inmitten der idyllischen Landschaft.

Förster Thomas Löffel zeigt Verständnis für das menschliche Unvermögen. Die Fichte sei ein sogenannter Brotbaum: «Sie wächst schnell, ihr Holz lässt sich vielseitig verarbeiten, und sie ist nicht anfällig auf Verbiss.» Sprich: Rehe, Gämsen und Hirsche beissen selten ihre Knospen ab. Dafür nehme die Fichte gerne überhand gegenüber anderen Baumarten, sei anfällig auf Borkenkäfer, und im lehmigen Boden reichten ihre Wurzeln nicht tief.

Anders Bergahorn und Weisstanne, die widerstandsfähiger gegen Sturm sind und nicht vom Borkenkäfer «gefressen» werden. «Ein guter Schutzwald ist artenreich und altersdurchmischt», fasst der Fachmann zusammen. «Er funktioniert wie eine Grossfamilie, in der verschiedene Generationen zusammenleben und sich unterstützen.» Er zeigt auf zwei beieinander wachsende junge Ahorne. Um den einen ist ein gelbes Plastikband geknotet. «Das ist ein Zukunftsbaum. Diesen werden wir erhalten, er hat das Potenzial, mehrere Jahrhunderte alt zu werden.» Der andere sieht für den Laien nicht weniger gesund aus. Er neige sich talabwärts der Sonne entgegen, wachse schräg und somit labil, erklärt der Förster. Damit ist sein Schicksal besiegelt. Wenn der Zukunftsbaum dessen wärmende und haltgebende Nähe nicht mehr braucht, wird er gefällt, um Platz und Licht zu schaffen.

«Wir verrichten diese Arbeit nicht für die Natur», stellt Thomas Löffel klar. «Wir tun sie für uns, für die Menschen im Tal. Der Bergwald ist ein Schutzwald.» Das sehen nicht alle Freiwilligen so. Er sei hier, um die Natur zu erhalten, sagt Jens Heissmeyer. «Ich habe im Internet Projekte im Freien gesucht.» Der 35-Jährige ist den weiten Weg aus Hannover angereist. Der psychologische Berater lächelt: «Ich weiss nicht, warum ich das nicht schon früher gemacht habe.»

Die Arbeit sei vielfältig. «Wenn ich Sträucher ausstreiche, hat es etwas Meditatives. Einen Weg anzulegen, ist dagegen körperlich fordernd.» Dennoch fühle er sich abends nicht erschöpft. Er steigt den Hang hoch, um der Biologin Katja Heubach zu helfen. Beiden ist die Teamarbeit ein wichtiger Teil ihres Einsatzes. «Zusammen einen grossen Baum zu fällen, von Hand ohne Motorsäge – da erlebe ich Gemeinschaft», sagt sie. «Ich entwickle ein Bewusstsein für die Mitmenschen.» Sie fühlt sich gleichberechtigt; jeder arbeitet nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Als Selbständiger geniesse er den Austausch mit Menschen mit einem ökologischen Bewusstsein, meint Jens Heissmeyer.

Aufbäumen

Mit den Freiwilligen hat Thomas Löffel in diesen zwei Wochen 240 Weisstannen gepflanzt, in Gruppen von zwölf bis vierzehn Bäumchen um alte Baumstrunke, die Wärme und Schutz bieten. Die Samen aus der Gegend hat die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Birmensdorf zu Pflänzchen herangezüchtet. «Werden sie gut gepflanzt, können sie die nächsten zwei Jahrhunderte überleben und Teil des Mischwalds sein», sagt der Förster. «Gut» bedeutet sorgfältig und ist zeitintensiv.

Angefangen bei der obersten Schicht Rohhumus, die die Freiwilligen wegschaufeln, weil sie wenig Halt und Nährstoffe bietet, bis hin zur Erde, die sie am Schluss um das Pflänzchen mit den Daumen festdrücken, um es zu verankern. Darum herum bauen sie einen Einzelschutz. «Unser Anspruch ist, die Arbeit besser zu machen als die Profis, denn wir haben Zeit.» Er könne immer wieder erklären und vormachen, wie sie zu verrichten sei. Im Winter werde sich weisen, was die geleistete Arbeit taugt.

Wie hochwertig die Ehrenamtlichen arbeiten, zeigt sich an den vor zwei Jahren gesetzten Jungtannen: Sie gedeihen. Ausbessern muss eine zweite Gruppe von Freiwilligen lediglich Teile der Umzäunung. Schnee und Wetter haben Spuren hinterlassen.

Der Weg zu ihnen führt den Hang hinauf. Die Sonne wärmt, Himbeeren leuchten aus dem Gestrüpp; sie schmecken erfrischend säuerlich. Mittendrin, kaum sichtbar, zäunt ein kniehoher, feiner Maschendraht ein Tännchen ein. Auf der Spitze trägt es wie postmoderner Weihnachtsschmuck ein leuchtend orangefarbenes Plastikteil mit kleinen Verstrebungen: der Schutz vor Verbiss. «An den Ästen sollen die Tiere ruhig nagen, so sind wir nicht», lacht Thomas Löffel. An der Spitze angeknabbert, würde der Baum aber nicht gerade weiterwachsen. Er bricht ein Zweiglein ab; es riecht nach Zitrone. «Eine Douglasie.» Weiter oben bleibt er vor einem Bergahorn stehen. «Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs», zählt er von unten die Abschnitte, wo sich der Baum verzweigt. «Sechs Jahre. Vor sechs Jahren haben wir ihn gefunden. Jedes Jahr ist er gut einen halben Meter gewachsen.» Das sei das Schöne. Der Grund, warum viele Freiwillige wiederkämen. «Sie sehen, wie ihre Arbeit Früchte trägt.»

Deshalb macht auch Albin Bürkli mit. Zwar nicht mehr 13 Wochen lang wie vor sechs Jahren, als er sein Sabbatical für das Bergwaldprojekt hergab. Jetzt verbringt der IT-Fachmann, der bei einer Zürcher Bank arbeitet, «bloss» seine sechs Wochen Ferien in verschiedenen Projekten. «Ich wollte etwas zurückgeben, ich habe ein gutes Leben.»

Der Mann mit dem sorgfältig gestutzten Bart, den blauen Augen und kurzen grauen Haaren wäre gerne Bauer geworden. Er suchte etwas in der Natur, probierte das Bergwaldprojekt aus. «Ich wurde gut aufgenommen, da bin ich geblieben.» Er absolvierte den einwöchigen Kurs zum Gruppenleiter. Manche Freiwillige muss er in ihrem Eifer bremsen, wenn sie ihre Kräfte nicht richtig einschätzen. «Auch ich muss zu mir schauen», sagt der 56-Jährige. «Doch nach zwei Wochen hier oben geht es mir nicht nur physisch gut.» Auch er schätzt die Abgeschiedenheit, die Zeit ohne Schlagzeilen. Der Weg zurück in die «Zivilisation» ist nicht ohne. «Nach dem Sabbatical brauchte ich zwei Wochen, um mich wieder im Geschäft einzuleben.»

Wegbereiter

Im Entlebuch ist der IT-Spezialist für den Wegbau zuständig. Jedes Jahr wachsen die Begehungswege, die die Freiwilligen aus der Erde hauen, um mehrere hundert Meter. Sie werden von Förstern ebenso wie von Jägern und Wanderern genutzt.

An diesem Morgen haben eine junge Frau, ein Bursche und zwei Männer am vorgesteckten Weg gegraben. Jetzt reinigen sie die erdverschmierten Holzstiele ihrer Schaufeln und Hacken mit Wasser aus einer PET-Flasche. Thomas Löffel begutachtet das Werk der letzten Tage. Ohne Eile läuft er mit dem jungen Mann den Weg ab. «Hier muss er breiter werden», deutet er mit der Schaufel auf den Boden. «Wenn der Regen die Erde abträgt, wird er in wenigen Jahren zu schmal sein.» Der 23-jährige Grünflächenmanager nickt. Er ist aus Belgien angereist, den zweiten Sommer in Folge ins Entlebuch. Nach Einsätzen in Deutschland haben ihn die Schweizer Berge hierher gelockt. Auch die junge Frau, eine Medizinstudentin aus Deutschland, räumt ein, dass ihr das Projekt ermögliche, die hiesige Bergwelt kennenzulernen.

Der frisch ausgehobene Waldboden glänzt feucht, gleichmässig abfallend schlängelt sich der Weg durch den Hang, hört mittendrin auf, Markierungspfosten deuten den weiteren Verlauf an. Thomas Löffel geht einen imaginären Pfad, setzt einen Pfosten neu: die Arbeit für den morgigen Tag. «Man muss den Weg ablaufen, um zu spüren, wo er entlanggehen soll.»

Bergwaldvirus

Am Mittagstisch vor der Hürnli-Hütte sitzt die Universitätsbibliothekarin neben der Studentin und dem Aussendienstmitarbeiter. Heute Nachmittag führt sie der Staatsförster auf eine Exkursion. Die Frauen und Männer langen auf den Platten mit hiesigem Käse und lokaler Lamawurst zu, trinken Kräutertee. Sie lassen sich die dickflüssige Minestrone und das frisch gebackene Brot schmecken, das die beiden Köche an den Holztisch gebracht haben. Das Ehepaar ist seit sechs Jahren dabei, angesteckt vom «Bergwaldvirus». Zunächst belieferte es das Bergwaldprojekt auf der Rigi mit Produkten aus der eigenen Bäckerei. Seit ihrer Pensionierung kommen beide für zwei Wochen ins Entlebuch, bezahlt sind sie für eine Stelle.

Am Vormittag verarbeitete Theres Bachmann die Milch, die ihr Thomas Löffel von einem Bauernhof im Tal gebrachte hatte, zu Jogurt. Ehemann Hans flocht derweil in der dunklen Küchenstube Zopfbrote und ritzte Ruchbrot mit dem Messer ein, bevor er es – eine Stirnlampe auf dem Kopf – in den Holzofen verschwinden liess. «Wieso?», wiederholt er, als sei die Frage unverständlich. Wieso er am Projekt mitmache? «Aus Plausch.» Hans Bachmann zuckt die Schultern und lacht. «Uns gefällt das Hüttenleben», ergänzt seine Frau.

An einem Tag wie diesem, wo am Morgen der Nebel im Tal hängt, während hier oben Eiger, Mönch und Jungfrau in der Sonne glänzen, ist das wenig verwunderlich. Was aber, wenn es regnet? «Die Leute verlieren nicht so schnell die Motivation», sagt Thomas Löffel. «Ein bis zwei Tage schlechtes Wetter gehören dazu, um die Vielfalt der Natur zu erleben.» Das Programm ändert er bei strömendem Regen, lässt aus Sicherheitsgründen nicht an exponierten Hängen arbeiten. Unfälle sind selten. Laien hätten Respekt vor der Arbeit mit Sichel, Axt und Säge.

Mindestens ebenso sehr wie den Wald pflegen will das Projekt Menschen für den Bergwald sensibilisieren. Natürlich könnte er, statt hier zu arbeiten, Vorträge darüber halten, sagt Thomas Löffel. «Aber es ist etwas anderes, wenn man beim Wegebauen sieht, aus welchen Schichten der Boden besteht, oder das Holz eines frisch gefällten Baumes riecht. Die eigene Erfahrung bleibt.»

Stiftung Bergwaldprojekt
Ziel Die ersten Bergwaldprojektwochen organisierten zwei Förster 1987 in Malans (GR). Die Stiftung will den Wald in Berggebieten erhalten und pflegen, damit er vor Lawinen, Steinschlag und Hochwasser schützt. Sie führt Projektwochen an über 30 Orten in der Schweiz, in Liechtenstein und im Montafon (A) durch.
Freiwilligenarbeit 2013 leisteten knapp 2000 Menschen über 10 000 Arbeitstage im Bergwald. Die Stiftung bietet auch kürzere Einsätze für Firmen und Schüler an.
Ausland Die Stiftung unterstützt Projekte in der Ukraine und in Katalonien (E) finanziell und materiell. Deutschland und Österreich haben nach dem Vorbild der Schweizer Stiftung gleichnamige Vereine gegründet.

 

Zur PDF-Version: