«der arbeitsmarkt» 04/2012

Das Wohlbefinden erhöhen und Gesundheitskosten senken

Stellensuchende verursachen höhere Unfallkosten als Beschäftigte. Die Unfallversicherung Suva führt dies auf Bewegungsmangel zurück und hat darum ein Aufwärm- und Bewegungsprogramm für Arbeitslose entwickelt. Es könnte bald in Beschäftigungsprogrammen in der ganzen Schweiz Anwendung finden.

Montagmorgen, zehn vor acht in einem Gewerbeareal am Rand von Sursee. Es ist ein unfreundlicher Wintertag. Aus schwarzen Wolken fällt Nieselregen, die Luzerner Voralpen zeichnen sich erst undeutlich am Horizont ab. Im Caritas-Bauteilmarkt erscheint eine Schar Männer mittleren Alters zum Morgenappell. Es sind die Teilnehmer eines Beschäftigungsprogramms für Arbeitslose, das Caritas Luzern im Auftrag des kantonalen Arbeitsamtes durchführt: Schlosser, Velomechaniker, Lageristen und andere Handwerker. Im Bauteilmarkt nehmen sie gebrauchte Möbel, Elektrogeräte, Fahrräder und Baumaterialien in Empfang, reparieren sie bei Bedarf und bereiten sie für den Wiederverkauf im betriebseigenen Brockenhaus vor.

Heute sind alle pünktlich. «Zum Aufwärmen gehen wir rüber ins Brocki», verkündet Caritas-Mitarbeiter Thomas Stalder betont gut gelaunt. Er leitet die Abteilung Arbeitsintegration bei Caritas Sursee. Zwischen Stühlen und Tischen, die auf der Ladenfläche zum Verkauf stehen, positionieren sich die rund 15 Kursteilnehmer in einem Halbkreis um Kursleiter Hans Studer, der heute den Job des Vorturners übernimmt. «Wir halten die Arme waagrecht und kreisen sie langsam nach vorn», beginnt Studer, «gut, jetzt auf die andere Seite.» Arme, Oberkörper, Nacken und Oberschenkel werden gedehnt, der Kreislauf mit leichten Aufwärmübungen in Schwung gebracht. Die Männer machen diszipliniert mit. Helle Begeisterung spricht nicht gerade aus ihren Gesichtern, aber es ist ja auch erst acht Uhr morgens. Nach gut fünf Minuten werden sie in den Arbeitstag entlassen.

Gesundheit fördern und Kosten sparen

Das morgendliche Warm-up, das die Teilnehmer des Caritas-Beschäftigungsprogramms täglich absolvieren, geht auf eine Initiative der Schweizerischen Unfallversicherung (Suva) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) zurück. Am Anfang stand die Erkenntnis, dass Arbeitslose höhere Unfallkosten verursachen als Beschäftigte. Nicht, weil sie häufiger verunfallen, sondern weil die Heilung bei ihnen länger dauert, wie Tony Erb, Leiter des Ressorts Arbeitsmarktmassnahmen beim SECO, erklärt. Suva und SECO führen diesen Befund auf eine generell schlechtere körperliche Verfassung von Stellensuchenden zurück und suchen deshalb in einem gemeinsamen Projekt nach Mitteln, Arbeitslose dazu zu bringen, sich körperlich mehr zu betätigen.

Als eine von mehreren Massnahmen entwickelte die Suva in der Folge in Zusammenarbeit mit Caritas Luzern das Aufwärm- und Bewegungsprogramm «Bewegung bringt’s». Das Hilfswerk bietet in Sursee und Littau mehrere Beschäftigungsprogramme für Stellensuchende an. «Die Projektverantwortlichen der Suva kamen auf uns zu, weil sie wussten, dass wir mit unseren eigenen Mitarbeitenden bereits Bewegungsturnen in Arbeitspausen praktizierten. Wir waren sofort begeistert von der Idee, ähnliche Übungen auch in unsere Beschäftigungsprogramme zu integrieren», erklärt Thomas Stalder von Caritas.

Die täglichen Aufwärm- und Bewegungsübungen sollen die körperliche und geistige Fitness der Stellensuchenden steigern. Das Ziel ist, die Anfälligkeit für Krankheiten und Unfälle zu senken und die Regenerationsfähigkeit zu erhöhen. Suva und SECO würden davon in Form von Kosteneinsparungen profitieren, die Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen in Form von erhöhter Lebensqualität und besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Während einer Pilotphase von März bis September 2011 baute Caritas die Übungen in ihre Beschäftigungsprogramme ein. In Programmen handwerklicher Ausrichtung lag der Fokus auf Aufwärmübungen vor Arbeitsbeginn, in den programmübergreifenden Weiterbildungsmodulen wurden aktive Bewegungspausen durchgeführt.

Positives Fazit

Die Projektverantwortlichen bei Suva und Caritas ziehen ein durchwegs positives Fazit aus dem Pilotversuch. «Unsere Programmteilnehmer wirken beim Eintritt manchmal etwas gedrückt und unbeweglich in ihrer Körpersprache», sagt Thomas Stalder. «Durch die täglichen Bewegungsübungen werden sie mit der Zeit lockerer und selbstbewusster. Das wirkt sich natürlich auch in einem Bewerbungsgespräch positiv aus.»

Ähnliche Beobachtungen hat auch Mirjana Canjuga, Fachspezialistin Betriebliches Gesundheitsmanagement der Suva, gemacht: «Manche Leute trauen sich zu Beginn nur wenig zu. Aber schon nach einer Woche sind sie in der Lage, alle Übungen mitzumachen.» Auch die Rückmeldungen der Kursteilnehmer sind gemäss Stalder und Canjuga fast ausschliesslich positiv. «Die Leute sagen, sie würden eine Wirkung spüren und seien motiviert, mitzumachen», weiss Canjuga.

Wegen der guten Erfahrungen mit dem Bewegungsprogramm hat Caritas entschieden, dieses nach dem Ende der Pilotphase weiterzuführen. Ob das Programm auf andere arbeitsmarktliche Massnahmen und weitere Kantone ausgedehnt wird, ist noch offen. «Meine Wunschvorstellung ist, dass unser Bewegungsprogramm in allen Beschäftigungsprogrammen und Kursen für Arbeitslose in der Schweiz durchgeführt wird», sagt Mirjana Canjuga.

Zukunft noch nicht gesichert

Eine Evaluation des Pilotprojekts, die ein externes Forschungsinstitut im Laufe dieses Jahres durchführt, soll zeigen, welche Faktoren für die Umsetzbarkeit des Programms und für die Akzeptanz bei den Kursteilnehmern entscheidend sind. Zentral ist nach Ansicht von Mirjana Canjuga die Rolle der Kursleitenden, welche als Vorturner die Bewegungsübungen präsentieren: «Die Kursleiter müssen motiviert sein und sich mit dem Bewegungsprogramm identifizieren. Das überträgt sich auf die Programmteilnehmer.» Zudem sei wichtig, dass die Übungen einfach seien und sich die Teilnehmer dafür nicht umziehen müssten: «Hochleistungssportübungen würden abschrecken.»

Nicht zuletzt soll die Evaluation auch zutage bringen, ob sich das Bewegungsprogramm für die Suva und das SECO finanziell auszahlt. Mit der Durchführung des Bewegungsprogramms sind Kosten verbunden, vor allem für die Ausbildung der Vorturner. Tony Erb vom SECO geht davon aus, dass diese Kosten nicht auf die Kantone und Anbieter von Beschäftigungsprogrammen abgewälzt werden können, sondern vom SECO und von der Suva getragen würden. «Sollte sich herausstellen, dass die Kosten grösser sind als der finanzielle Nutzen für Suva und SECO, werden wir das Bewegungsprogramm kaum weiterverfolgen», so Erb. Erst wenn die Evaluationsergebnisse vorliegen, wird entschieden, ob das Bewegungsprogramm weitergeführt und wie es finanziert wird.

Selbst wenn das Fazit der Evaluation auch in finanzieller Hinsicht positiv ausfällt, steht den Projektverantwortlichen noch ein Stück Überzeugungsarbeit bevor, damit das Programm schweizweit Anwendung finden kann. Die meisten arbeitsmarktlichen Massnahmen fallen nämlich in den Zuständigkeitsbereich der Kantone. Diese müssten das Bewegungsturnen neu in den Anforderungskatalog aufnehmen, den sie den Anbietern von arbeitsmarktlichen Massnahmen stellen. Es ist anzunehmen, dass nicht alle Kursleitenden von der Idee, zusätzlich als Turnlehrer zu agieren, begeistert sein werden.

Ob alle Kursteilnehmer im Caritas-Bauteilmarkt Freude an der verordneten Bewegung haben, ist an diesem trüben Wintermorgen in Sursee nicht festzustellen. Zumindest diejenigen, die sich nach dem Aufwärmen bereit erklären, ein paar Fragen zu beantworten, scheinen jedoch vom Nutzen überzeugt. «Ich habe im Fernsehen gesehen, dass in japanischen Firmen solche Turnübungen durchgeführt werden», meint beispielsweise Velomechaniker Erwin Rölli. «Ich finde es sehr positiv, dass man so etwas auch bei uns einführt. Mir tut es gut, mich am Morgen vor der Arbeit etwas zu lockern.» Grundsätzlich positiv eingestellt ist auch Werner Ammann, Schlosser von Beruf. Einen Einwand hat er aber: «Die Übungen könnten noch etwas mehr Pepp vertragen. Mit Musik würden sie mir noch besser gefallen.»

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