«der arbeitsmarkt» 10/2011

Aus Abfall Arbeitsplätze schaffen

Mit buchplanet.ch ging letztes Jahr eines der ersten Buchantiquariate der Schweiz online. Diese und weitere zukunftweisenden Ideen brachten die Stiftung Tosam seit der Gründung voran. Heute bieten die acht angegliederten Betriebe rund 190 Stellen in 40 verschiedenen Funktionen im zweiten Arbeitsmarkt.

Ein sonniger Tag im appenzellischen Herisau. In rascher Folge nehmen Autos die Einfahrt zur Entsorgungsstelle des WinWin-Marktes. Im Betrieb der Stiftung Tosam herrscht reges Treiben: Männer verschiedener Altersklassen und Herkunft nehmen Abfall und andere Güter entgegen, sortieren das Material, entsorgen es fachgerecht oder leiten es, wenn möglich, zum Verkauf in die angegliederten Secondhand-Läden weiter. Zehn Tonnen werden pro Tag durchschnittlich angeliefert. Seit zwei Jahren gehört Sahit Sadiku zum Team, seinen vorherigen Job in einer Fabrik verlor er wegen Umstrukturierungen. «Die Arbeit im WinWin-Markt macht mir Spass, auch wenn ab und zu Hektik aufkommt», erzählt der 45-Jährige. «Für mich ist es wichtig, überhaupt einer Beschäftigung nachgehen zu können, auch wenn man hier nicht viel verdient.»

Ein Bauernhof als Ausgangspunkt

Was heute ein Netz von acht Betrieben mit etwa 190 Stellen im alternativen Arbeitsmarkt umfasst, begann vor knapp 30 Jahren mit der Übernahme eines kleinen Bauernhofs. «Nach meiner kaufmännischen Ausbildung und ein paar Jahren in Zürich und Zug hatte ich Heimweh nach dem Appenzellerland und das Bedürfnis, einen neuen Weg zu beschreiten», erzählt Martin Grob, Gründer und Geschäftsleiter der Stiftung Tosam. So kehrte er Anfang der 1980er Jahre zurück in die Ostschweiz, wo er mit Unterstützung seiner Verwandtschaft ein landwirtschaftliches Anwesen in Ausserrhoden erwarb, den Hof Baldenwil. 1989 gründete Grob die Stiftung mit dem ersten angegliederten Betrieb. Hof, Gerätschaften, Tiere und sein Privatvermögen spendete er dazu als Stiftungskapital.

Der Umgang mit sozial Randständigen habe ihm schon immer am Herzen gelegen, früh setzte er sich beispielsweise für entsprechende Projekte in der Jugendarbeit ein. Kurz nach der Hofübernahme meldeten sich bei Martin Grob Menschen, die unter Drogenproblemen litten und fern von städtischen Drogenszenen im landwirtschaftlichen Umfeld den Entzug schaffen wollten. «Daraufhin lebten meine Frau und ich mit unseren Kindern und vier zusätzlichen Bewohnern als Grossfamilie auf dem Bauernhof», erzählt Grob. Um die Kosten zu decken, verkauften sie Flohmarktartikel an diversen Märkten.

Das Engagement des heute 57-Jährigen fand bald grossen Anklang in der Bevölkerung, und Sympathisanten gaben ihm an Flohmärkten immer mehr Waren ab. Schliesslich gründete Grob im sanktgallischen Degersheim das erste zur Stiftung gehörende Brockenhaus. «Anfang der 90er-Jahre wurde die Rezession spürbar, weswegen sich immer häufiger Arbeitslose und Ausgesteuerte auf Stellensuche an mich wandten», erinnert sich Grob. «Im Brockenhaus war es mir erstmals möglich, sozial Benachteiligten eine Arbeit zu bieten. Dadurch erweiterte sich unser Fokus von den angebotenen Therapieplätzen zu Stellen im alternativen Arbeitsmarkt.» Bald nach der Eröffnung des Brockenhauses fragte die Gemeinde Degersheim an, ob die Stiftung die Führung der Entsorgungsstelle übernehmen wolle. Was damals im kleinen Rahmen begann, bildet heute einen der Schwerpunkte der Tosam-Betriebe.

Recycling mit Zukunft

Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der Stiftung folgte 2002 mit der Übernahme der Entsorgungsstelle in Herisau. «Aus den Erfahrungen in Degersheim erarbeiteten wir ein Konzept für die Gestaltung des Herisauer Betriebes, das sozialen, ökologischen und ökonomischen Grundsätzen entsprach», erläutert Grob. «Daraus entstand schliesslich der WinWin-Markt, der neben der Entsorgungsstelle verschiedene Secondhand-Läden, eine Geschenkboutique und auch ein Café umfasst.»

Heute bietet allein der WinWin-Markt 84 Stellen im zweiten Arbeitsmarkt. Diese besetzen grösstenteils IV-Bezüger, Ausgesteuerte und Asylbewerber, aber auch Schulabgänger ohne Lehre sind darunter. «Ich habe sehr viel Freude an meiner Tätigkeit und am Umgang mit den Kunden hier», erzählt die 21-jährige Andreia Morgado Soeima, die eine verkürzte Detailhandelsausbildung in den Betrieben der Stiftung absolviert. «Im nächsten Jahr werde ich hoffentlich die Lehrabschlussprüfung bestehen. Danach würde ich am liebsten im Bereich Kleider oder Schuhe arbeiten.» Auch die schulische Ausbildung der Lehrlinge erfolgt grösstenteils intern; Lehrlinge mit regulärer Ausbildungsdauer besuchen die Gewerbeschule St. Gallen.

Um die Stiftung Tosam mit den angegliederten Betrieben erfolgreich führen zu können, setzt Martin Grob seit der Gründung auf innovative Ideen. Eine davon stammt aus seiner Leidenschaft fürs Lesen. «Bei den Entsorgungsfachstellen und auch bei von uns ausgeführten Wohnungsauflösungen bekommen wir riesige Mengen an Büchern. Lange Zeit war es nicht möglich, den Grossteil dieser Werke zu verkaufen», erzählt Grob. «Mein Herz blutete, wenn es nötig war, Bücher aus Recyclinggründen zu zerreissen.» Auch in diesem Fall führte ein Problem zu einer Erfolgsgeschichte: Im Jahr 2009 eröffnete die Stiftung mit der Secondhand-Buchhandlung «Buch WinWin» in Gossau einen weiteren Betrieb. Daneben wurde im vergangenen Jahr das erste Online-Antiquariat der Schweiz lanciert. Im Angebot stehen fast 20 000 Bücher, die an Kunden in der ganzen Schweiz verschickt werden. «Mit der Gründung des Buchplaneten gelang es uns, auch Arbeitsplätze für Computerbegeisterte zu schaffen. Sechs Menschen konnten so eine auf sie zugeschnittene Arbeit finden», freut sich Grob. «Die Stiftung erhält nicht für jede Person staatliche Unterstützungsgelder. Dies ist für uns aber kein Hinderungsgrund, jemanden anzustellen. Viel wichtiger ist, dass jede Person eine Arbeit hat, die ihr auch zusagt und entspricht.»

Tücken des Erfolgs

Der Erfolg stellt die Stiftung Tosam vor neue Herausforderungen. Da die Entsorgungsstelle weit über Herisau hinaus bekannt ist, kommen auch zahlreiche Kunden aus St. Gallen und der Bodenseeregion. Montags und samstags ist dadurch der Einsatz von Verkehrseinweisern nötig. Selbst die Einrichtung einer Entsorgungsstelle in der Nachbargemeinde Gossau konnte den Ansturm kaum verringern. «Zurzeit suchen wir nach einer Möglichkeit, die Entsorgungsstelle zu vergrössern oder an einen anderen Ort zu verlegen», so Martin Grob. «Da sich die Suche jedoch schwierig gestaltet, müssen wir die Hektik weiterhin auf wenig Platz meistern.» Und der Stiftungsgründer fügt an: «Mich erstaunt immer wieder, wie gross Motivation und Einsatzfreude der Mitarbeitenden dabei sind.» www.tosam.ch

«Ein eindrückliches Lebenswerk»

Mit der Entsorgungsstelle übernahm die Stiftung Tosam vor neun Jahren eine wichtige Aufgabe der Gemeinde Herisau. Die Leistung der Institution gehe aber weit darüber hinaus, sagt Gemeinderat Thomas Bruppacher, Vorsteher des Ressorts Soziales.

Welchen Wert hat die Arbeit der Stiftung Tosam für Herisau?

Praktisch alles, was an Hausmüll anfällt, kann innerhalb kundenfreundlicher Öffnungszeiten zum WinWin-Markt gebracht werden. Dort wird es zu günstigen Konditionen getrennt und recycelt oder wiederverkauft. Dies schafft einen klaren Mehrwert für die Gemeinde und wird auch sehr geschätzt.

Daneben ergibt sich für mich als Vorsteher des Ressorts Soziales die Möglichkeit, unsere Klienten – beispielsweise Asylbewerber oder Sozialhilfebezüger – in ein festes Arbeitsverhältnis zu führen. Mit Winvita, der Einkaufsmöglichkeit für Armutsbetroffene, werden zudem sozial schwächer gestellte Personen unterstützt. Dieser Betrieb ist bedürfnisgerecht aufgebaut, da fast ausschliesslich Schulabgänger ohne Lehrstelle im Einsatz stehen. Sie üben dadurch eine sinnvolle Tätigkeit aus mit viel Nähe zum ersten Arbeitsmarkt.

Wie unterstützt die Gemeinde die Institution?

Bei einem Einsatz in einem der Tosam-Betriebe refinanzieren wir die von uns zugeteilten Personen. Anstatt Sozialhilfe zu beziehen, verdienen Tosam-Angestellte also einen Lohn, auch wenn dieser sehr klein ausfällt. Durch die bisherige Zusammenarbeit ist uns die Stiftung ein willkommener Partner.

Wie erklären Sie sich den Erfolg der Stiftung?

Durch die Teilnahme am hiesigen Wochenmarkt und auch durch den guten Service an der Entsorgungsstelle ist die Stiftung Tosam in der Öffentlichkeit auf positive Weise präsent. Zudem ist Geschäftsführer Martin Grob nahe bei den Kunden und bei seinen Mitarbeitenden, und man weiss mittlerweile, dass seine Projekte seriös sind.

Der Aufbau der Stiftung und die Schaffung von über 190 Stellen im zweiten Arbeitsmarkt sind ein Lebenswerk – es ist erstaunlich, wie viel Martin Grob geschaffen hat.

Zur PDF-Version: