«der arbeitsmarkt» 02/2005

Auf der Suche nach dem irdischen Paradies

Der Weg von Zürich nach Munt la Reita dauert
mit Zug und Auto fünf Stunden. Für Verena und Markus Senn waren es ganze 33 Jahre. Der Bericht von einer geglückten Suche nach einem besseren Leben.

Angefangen hat diese Geschichte zu einer Zeit, als die Jugend mit lautstarker Musik und blumenverziertem Kleid auszog, die Welt zu verändern. Den Haaren liess sie ihren natürlichen Wildwuchs und die nackten Füsse suchten den Kontakt zur Mutter Erde. « Zurück zur Natur!» war der Slogan, den sich auch Verena Zaugg und Markus Senn auf ihr Banner schrieben, als sie 1970 mit Gleichgesinnten die Gemeinschaft der «Berglütli» gründeten. Sie organisierten eine kleine Demo in Zürich, und dann ging es ab in die Walliser Berge. Auf 1800m über Meer wurden einen ganzen Sommer lang Seminare abgehalten, zu denen Leute wie Sergius Golowin, Indianer oder Naturheiler geladen waren. Alle Teilnehmenden, Besucherinnen und Besucher lebten in selbst gebauten Steinhütten, das Essen bestand zum grossen Teil aus dem, was sie in der Umgebung vorfanden: Waldkräuter, Wurzeln und Beeren. Zurück zur Natur pur. Das hochalpine Camp im Oberwallis diente der Standortbestimmung und Selbstfindung. Es gründete auf der Vision eines besseren, natur- und menschengerechteren Lebens. Am Ende des Sommers wollte man die neu gewonnenen Erkenntnisse in die Tat umsetzen. Das Organisationskomitee, welches mittlerweile von acht auf dreissig Leute angewachsen war, verteilte sich auf verschiedene Bauernhöfe, auf denen gemäss den neuen Vorstellungen gelebt und gewirtschaftet werden sollte. Doch wie so manch anderer idealistische und ideologische Traum jener Jahre zerschellte auch dieser bald an den harten Kanten der Realität: Zum einen waren die notwendigen Finanzmittel zur Pacht oder zum Kauf der Bauernhöfe nicht vorhanden, zum anderen fehlte den Leuten schlicht
die Erfahrung vom Leben in einer Gemeinschaft. Nicht zuletzt kam auch die zersetzende Wirkung von Drogen hinzu. Die Konflikte der so genannten Landkommunen mit der traditionellen bäuerlichen Nachbarschaft waren ohnehin vorprogrammiert.

Vom Toggenburger Bauernhaus in die Emmentaler Mühle

Verena und Markus zogen mit zwei anderen «Berglütli» zusammen in ein Bauernhaus im Toggenburg, das weder einen Wasser- noch einen Elektrischanschluss hatte. Die Hippies wurden von den Bauern schräg angeschaut und ihr Vertrag mit der Alpgenossenschaft wurde vorzeitig gekündigt. So waren sie bereits nach einem Jahr gezwungen, ins Emmental zu ziehen, zum Hof der Basisgruppe. Hier wehte nun aber ein rauer Wind. Der Umgangston unter den «Berglütli» hatte sich auf eine Art verändert, der Verena und Markus nicht mehr behagte. Sie hatten ihr erstes Kind zu umsorgen, und da war es ihnen schlicht auch zu laut und zu rauchig. Bald fand die junge Familie aber Unterschlupf in einer urchristlichen Gemeinde am Thunersee, die ihnen durch einen ihnen bekannten Naturheilarzt vermittelt worden war. Zum ersten Mal trafen sie auf Leute, die das Leben, das sie predigten, auch lebten. Die überkonfessionelle Gemeinschaft, die hauptsächlich von Spenden und Besuchern der Naturheilanwendungen lebte, stellte das junge Paar als Gärtner ein und gab ihm ein schlichtes Häuschen zum Wohnen. Verena und Markus blieben fünfeinhalb Jahre und legten im Selbststudium und für Gotteslohn den prächtigsten Biogarten an. Als das dritte Kind unterwegs war, wurde das Häuschen zu klein. Die meist älteren Leute der Gemeinschaft waren auf Nachwuchs weder eingestellt noch dafür eingerichtet. Zudem hätten Verena und Markus gerne einige Nutztiere gehalten, was dort nicht möglich war. Der Wunsch nach einem eigenen Bauernhof war herangereift. Es war Zeit, weiterzuziehen.
Nach langem Suchen fanden sie eine alte Mühle, die zum Verkauf ausgeschrieben war. Zusammen mit der Schwester von Markus, mit deren Mann und Kind sollte dort endlich die Vision von einem Leben in Gemeinschaft und Harmonie mit der Natur verwirklicht werden. Sie waren von ihrem Projekt so beseelt und begeistert, dass sie sogar problemlos den Kredit von 250000 Franken von einer Berner Bank für den Kauf der Mühle bekamen. Sofort machten sie sich ans Werk, richteten ein Brockenhaus, eine Backstube und ein «Mühlelädeli» mit Reformprodukten und Kunsthandwerk ein. Später kamen noch der grosse Garten und die Wollverarbeitung hinzu. Die Männer arbeiteten halbtags in ihren angestammten Berufen als Schriftsetzer und Gärtner, die Frauen kümmerten sich um Kinder, Haus und Hof. Drei weitere Kinder von Verena und Markus wurden in der Mühle geboren.
1985 wurde die Mühle verkauft. Die ursprüngliche Idee der «Berglütli», der Wunsch nach Bergen und
Bauern, wurde wieder aktuell. Im Emmental fehlten Verena und Markus die Berge, und für einen richtigen Bauernhof hatten sie zu wenig Land. Vor allem aber störten sich die «Biospinner», wie sie von den Nachbarn genannt wurden, an den Veränderungen, die in den letzten sechs Jahren um ihre Mühle stattgefunden hatten: Vom Norden kamen die Immissionen eines Poulet-Maststalls, der regelmässig mit Desinfektionsmitteln gereinigt werden musste, die die Gegend mit Gestank verpesteten; im Osten wurde stinkender Klärschlamm über die Felder versprüht; im Westen stand eine Schnapsbrennerei, deren schwarzen Kaminausstoss man von weitem roch, und im Süden fuhren vor ihrer Nase Jahr für Jahr vermehrt die Autos nach Burgdorf und Kaltacker/Lueg vorbei. Es war Zeit, das Weite zu suchen. Verena und Markus machten sich mit den sechs Kindern erneut auf die Suche. Diesmal nach einem «Bergheimetli».

Die verwirklichte Vision vom besseren Leben

Sie suchten lange Jahre in Graubünden, fragten in Gemeinden nach, besuchten andere Siedlerbetriebe, bis sie zufällig den Sekretär von «Bergheimat» kennen lernten. Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung kleiner und mittlerer Bergbauernhöfe, die ihre Produkte mit Bio-Labels vertreibt, hatte sich als Anlaufstelle von
Hippies und anderen Aussteigern etabliert, die das Leben auf dem Land dem in der Stadt vorzogen. Heute umfasst sie etwa hundert Bauernhöfe in der ganzen Schweiz. Der Sekretär der «Bergheimat» schlug Verena und Markus vor, sich im Tessin umzusehen, denn er wusste von Regionen, die von der Abwanderung stark betroffen waren, und von 25 Hektaren Bergland, die eben zum Verkauf freigegeben worden waren. Als Verena oben auf dem Grat stand und über die grünen Wiesen blickte, war für sie klar, dass auf einer bestimmten kleinen Anhöhe ihr Haus stehen müsste. Und dort steht es jetzt. Aber bis es dort zu stehen kam, waren noch viele weitere, fast unüberwindliche Hindernisse zu bewältigen. Verena und Markus konnten zwar 1985 mit dem Geld aus dem Verkauf der Mühle das Land ihrer Träume erwerben, aber die Baubewilligung liess noch einige Jahre auf sich warten. In dieser Zeit lebten sie mit ihren Kindern und Tieren in einem Pfarrhaus in Bianasco, später in Campo. Sie arbeiteten auf Stör für die alten Leute, denen die Jungen abgewandert waren. Selbst als sie endlich auf ihr eigenes Land hinauf ziehen konnten, mussten sie zunächst alle zusammen in einem Tipi (Indianerzelt) wohnen, bis die ersten Bauten fertig waren.
Heute ist es für Besucher schlicht unvorstellbar, wie die Senns es geschafft haben, ihren prächtigen Hof «Munt la Reita» oberhalb von Cimalmotto mit grossem Garten, Stallungen, Käserei, kleinem Laden, Werkstätten und Gästehäusern eigenhändig in diesem harschen Gebirge abseits jeglicher zivilisatorischen Bequemlichkeit aufzubauen, daneben nicht nur ihre eigenen sechs Kinder grosszuziehen, sondern auch manch anderes
Ferienkind aufzufangen, das aus der Stadt kam und aus der Gesellschaft ausscherte. Verena und Markus Senn
ist es zudem gelungen, das Tal – vorläufig – vor dem Verkommen und Vergessen zu bewahren.
Sie haben ihre Vision vom besseren Leben verwirklicht. Sie sind das volle Risiko eingegangen und haben keine Mühe gescheut. Sie haben beide am gleichen Strick gezogen. Sie haben die Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für ihre Umwelt und unsere Gesellschaft wahrgenommen. Warum? Auf diese Frage können sie keine eindeutige Antwort geben. Sie sind beide im Zürcher Oberland aufgewachsen, in zwei benachbarten Dörfern, die heute bis zur Unkenntlichkeit überbaut sind. Und obwohl ihre Eltern keine Bauern waren,
fühlten sie sich von klein auf zur Natur, zum Land und zu den umliegenden Bauernhöfen hingezogen. Als sie sich dann in einer Nacht beim Autostopp im Regen kennen lernten, war für sie beide rasch klar, dass sie nicht in der Stadt (Zürich) leben wollten, die Verena während ihrer Lehrzeit als Buchhändlerin buchstäblich krank machte, und deren auf Konsum ausgerichtetes System Markus völlig widersinnig und verrückt erschien. Sie beide seien halt nicht so materialistisch eingestellt, um dem Geld hinterherzulaufen, meint Markus, sie hätten eine andere Philosophie. Ein gesundes Umfeld und eine gute Ernährung seien ihnen wichtiger. Dass es seinen erlernten Beruf als Schriftsetzer bald nach der Lehre nicht mehr gab, war nicht der wirkliche Grund; es gefiel ihm vor allem nicht, dass ihm im Berufsleben alles vorgeschrieben wurde. Als Angestellter fühlte er sich in seiner Kreativität und Fantasie eingeschränkt. Sie wollten beide freier und eigenständiger leben. Und heute sehe man ja klar, wie falsch alles laufe. Mit der Profitmaximierung bis zum «Gehtnichtmehr» machten wir uns nicht nur selbst, sondern auch die Umwelt kaputt. Das Menschliche und Soziale bleibe völlig auf der Strecke. Die sozialpolitische und sozialethische Dimension sei ihnen ebenso wichtig, betont Markus Senn. Sie wollten nie einfach nur ihr kleines Paradies haben und dass ihnen alles andere egal wäre. Sie möchten mit ihrem Hof anderen Leuten eine Auftankstelle bieten, eine ruhige Ecke in der Natur. Es brauche heute solche Inseln, als Ferien- oder als Auffanglager für die geschädigten Städterseelen.

Auto, Fernseher und Computer schleichen sich ein

Ihre Arbeit ist noch lange nicht fertig. Sie möchten eine Infrastruktur für weitere kreative und kulturelle Möglichkeiten aufbauen. Räume für Theater, Film, Musik, Vorträge und Workshops sind im Gespräch. Verena möchte zudem eine Töpferei, und die Webstühle haben ihren Platz auch noch nicht gefunden. Das Bauern
sollte eigentlich nur die Lebensgrundlage geben, um kreativ werden zu können. Die ursprüngliche Idee war, ganze Bergdörfer wieder zu beleben und so zusammen zu arbeiten, dass Zeit für Kreativität und Kultur für alle vorhanden sei. Jetzt haben sie nur einen Familienbetrieb. Die Bewältigung der Landwirtschaft und der Verkauf ihrer Produkte absorbieren sie fast gänzlich. Sie kommen kaum zu anderen Sachen. Es bräuchte noch zwei, drei Leute, die mitmachen würden. Aber die sind schwer zu finden. Ausdauer, Verantwortung und Verpflichtung, die das Leben hier oben erfordert, seien den Jungen schlicht zu öde und langweilig. Es ist nicht jedermanns Sache, täglich um halb sechs aufzustehen. Gesellschaftliche Annehmlichkeiten und Zerstreuung in unmittelbarer Nähe sind gefragter. Auch die eigenen Kinder sind ausgeflogen: Keines will vorläufig den Hof übernehmen.
Die Senns lebten lange Zeit ohne eigenes Auto, ohne Fernseher und Computer. Ihre Kinder haben diese Dinge angeschleppt und im Haus gelassen. Das Auto hat Markus dann einem Sohn abgekauft. Verena fährt nicht Auto. Der Computer ist ihnen zu umständlich zum Bedienen und wartet im Dunkel, bis ihn die neue
Generation ins Leben ruft. Der Fernsehapparat wird auch nur höchst selten angestellt. Sie schauen sich manchmal Nachrichten oder ab und zu mal einen Dokumentarfilm an. Verena gesteht kichernd, dass sie am Sonntagabend «Lüthi und Blanc» verfolgt.

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