«der arbeitsmarkt» 11/2010

«Armut vererbt sich über das soziale Lernen»

Der familiäre Hintergrund entscheidet darüber, ob ein junger Mensch als arm gilt – aber auch über seine Chancen, die Armut zu überwinden.

Frau Streuli, heute tragen auch Kinder aus gutem Haus zerschlissene Jeans. Wie lässt sich Armut bei Jugendlichen erkennen?
Elisa Streuli: Armut ist nach aussen hin oft nicht sichtbar. Es wird bei Wichtigem gespart und stattdessen in Statusgüter inves­tiert, um die Armut zu verstecken. Dieser Hang, sich über Statusgüter zu definieren, ist bei Jugendlichen besonders ausgeprägt.

Warum?

Die Statussymbole geben Sicherheit und bestätigen die Jugendlichen im eigenen Rollenverständnis. In einem reichen Land wie der Schweiz ist Armut noch schwieriger zu bewältigen als in einem armen Land, weil man sich immer mit den anderen vergleicht und sich selbst als negativ definiert.

Was bedeutet Armut für junge Menschen?

Die Konsumwelt ist für Jugendliche voller Verheissungen. Können sie diese für sich nicht einlösen, fühlen sie sich schnell als Versager. Dabei spielt der Gruppendruck eine wichtige Rolle. Junge Menschen können sich dem nur schwer entziehen, denn das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist im Jugendalter enorm wichtig. Zudem herrscht bei uns die Ansicht vor, dass jeder dabei sein kann, wenn er sich nur anstrengt. Doch oft ist es für die Betroffenen schwierig, eine Arbeitsstelle zu finden, die zur
Sicherung des Einkommens ausreicht.

Welche Gruppen sind von Armut am stärksten betroffen?

Finanzielle Armut ist häufig mit einem tiefen Bildungsstand und mit Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verbunden.
Besonders schwierig ist es, wenn Armut mit Fremdsein zusammenhängt, mit kulturellem Fremdsein, aber auch mit dem Fehlen eines Gefühls des Akzeptiertseins. Ein Migrationshintergrund, kombiniert mit mangelnder Bildung, birgt ein grosses Armuts­risiko.

Gibt es die «vererbte Armut»?

Es gibt eine soziale Vererbung von Armut in dem Sinn, als Kinder mitbekommen, wie ihre Eltern mit ihrer sozialen Situation umgehen. So lernen Kinder, ob es realistisch ist, ein Problem zu überwinden. Armut vererbt sich also über das soziale Lernen.

Welche Bedeutung hat das eigene Verschulden?

Das eigene Verhalten spielt immer mit, man ist nie nur Opfer der Gesellschaft. Doch es gibt Bedingungen, die es schwierig machen, aus einer Armutssituation herauszufinden. Andere vereinfachen es, etwa wenn man im Elternhaus einen guten Boden gekriegt hat. Wer gefördert wurde und die Chance einer guten Bildung erhalten hat, kann sich leichter behaupten in der Welt und hat bessere Karten auf dem Arbeitsmarkt. Selbstverschuldet ist der Anteil, wenn man es selbst «versiebt», etwa wenn man nicht pünktlich ist. Kein Lehrmeister kann es sich leisten, jemanden mitzutragen, der immer zu spät kommt.

Viele Ausländer der zweiten Generation sind wirtschaftlich ausgesprochen erfolgreich ...

Secondos haben tatsächlich eine hohe soziale Mobilität.
Doch man muss differenzieren: Es gibt die aufstiegsorientierten Immigrantinnen und Immigranten, die alles daran setzen, dass ihre Kinder es schaffen. Manche von ihnen zerbrechen an diesen Erwartungen. Neben den Aufstiegsorientierten gibt es aber auch die eher fatalistisch geprägten, die oft eine Rückkehrmentalität haben.

Welche Bedingungen begünstigen den sozialen Aufstieg?

Zu diesem Thema hat die Caritas vor einigen Jahren ein wertvolles Buch mit dem Titel «Einmal arm - immer arm?» veröffentlicht. Es zeigt: Viele, die es geschafft haben, hatten eine Bezugsperson, die an sie glaubte, einen Mentor oder eine Mentorin - etwa einen Klassenlehrer, der die Eltern überzeugt hat, dass mehr in dem Kind steckt, dass es unbedingt gefördert werden muss. Wichtig ist auch der frühe Kontakt zu Büchern ...

... oder zum Internet.

Das Internet wäre ebenfalls ein wichtiges Tor zur Welt, doch der Zugang ist auch bei uns sozial differenziert. Armutsbetroffene Familien haben oft kein Internet zu Hause.

Was hat Jugendarmut für gesellschaftliche Folgen?

Die Verringerung der Ungleichheit ist ein zentrales Anliegen. Sozialer Zusammenhalt ist wichtig für eine Gesellschaft und verhindert gesellschaftliche Folgekosten, etwa im Bereich der Sicherheitsprävention. Doch der materielle Verteilungskampf steht der Solidarität häufig im Weg. Man hat immer das Gefühl, dass einem das Stück des Kuchens entgeht, das der andere erhält. Dabei käme eine gerechtere Verteilung des Reichtums auch den Bessergestellten zugute. Wie hat Mani Matter gesungen? «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit ...»

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