«der arbeitsmarkt» 03/2006

Arbeitslos ist ungesund

Neueste Untersuchungen bestätigen es: Arbeitslosigkeit birgt gesundheitlich beträchtliche Risiken.

Für Menschen, die einer täglichen Arbeit nachgehen, ist es schwierig nachzuvollziehen, was Arbeitslose durchmachen. Denn sie haben nicht nur ein geregeltes Einkommen. Auch können sie sich auf eine Tagesstruktur verlassen, an die sie sich halten können. Erwerbstätige stehen morgens auf, gehen zur Arbeit, frönen abends ihrem Hobby und geniessen übers Wochenende und in den Ferien ihre Freizeit. Bei der Arbeit bewegen sie sich in einem Umfeld, sie können sich mit anderen austauschen. Für ein soziales Wesen wie den Menschen ist das auch gesundheitlich überaus wichtig.
Wie sieht das für Leute ohne berufliche Tätigkeit aus? Eine mögliche Folge der Arbeitslosigkeit ist die Abkapselung. Je länger Arbeitslose keinen Job finden, desto grösser wird die Gefahr der Isolation. Fachleute sprechen hier von psychosozialen Folgen. Häufig wird mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit das eigene Wohlbefinden schlechter eingestuft als bei Erwerbstätigen. Gesundheitliche Schwächen empfinden Arbeitslose wesentlich gravierender als im Erwerbsleben. Dieses übersensible Verhalten im Umgang mit der Gesundheit wird als psychosomatisch beschrieben.
Grundsätzlich wird beim Thema «Gesundheit und Arbeitslosigkeit» zwischen zwei Ansätzen unterschieden. Zum einen kann untersucht werden, inwiefern der Gesundheitszustand eines Erwerbstätigen zum Arbeitsverlust führen kann. Andererseits kann der Gesundheitszustand während der Arbeitslosigkeit untersucht werden. Beim zweiten Thema ist die Forschung in der Schweiz noch nicht weit fortgeschritten. Allerdings ist Albert Kuhn vom Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Uni Zürich daran, Daten aus Österreich auszuwerten. Sein «Doktorvater», Professor Josef Zweigmüller, konnte den Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zur Herausgabe der umfangreichen Datensammlung bewegen. Die notwendigen Daten vom Schweizer Pendant, der AHV, zu kriegen, ist laut Kuhn unmöglich. Dafür seien hier die Datenschutzgesetze zu streng.

Auch Untätigkeit kann Auslöser für Stress sein

Anhand anonymisierter Kranken- und Sozialversicherungsdaten aus dem Bundesland Oberösterreich kann Kuhn, der sich seit gut einem Jahr mit dieser Arbeit beschäftigt, eruieren, inwiefern sich die Arbeitslosigkeit auf den Gesundheitszustand auswirkt. Die Arbeitsbelastung und die Gesundheitssituation in Oberösterreich lassen sich laut Kuhn durchaus mit denjenigen in der Schweiz vergleichen. Der Zwischenbericht lässt noch keine endgültigen Schlüsse zu. Es sind aber grosse Ähnlichkeiten mit einer Studie vom Robert-Koch-Institut und vom Statistischen Bundesamt Deutschland zu erkennen, die 1998 in unserem nördlichen Nachbarland durchgeführt wurde.
Demnach bestehen folgende Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit:
• Verringertes Selbstwertgefühl, weil wir uns über die Arbeit identifizieren
• Fehlendes soziales Umfeld. Es fehlt ein Ort der Geselligkeit sowie des geistigen und gemütsmässigen Austauschs
• Untätigkeit ist nicht Freizeit. Was im Übermass vorhanden ist, verliert an Wert
• Untätigkeit wird zum Stress eigener Art, selbst banale Dinge werden anstrengend
• Das Zeitgefühl geht verloren. Man kann sich nicht mehr recht erinnern, was man in der letzten Zeit gemacht hat
• Mangelnder Rhythmus Arbeit/Entspannung schadet dem Körper
• Überwindung zu sportlichen Aktivitäten ist grösser
• Männer leiden mehr unter der Situation, weil sie sich meist als Hauptverdiener sehen
• Ältere Arbeitslose leiden mehr als jüngere, da sie eine andere Wertschätzung zur Arbeit haben
• Je länger die Arbeitslosigkeit, desto höher wird das Risiko auftretender Probleme
• Bei Arbeitslosen herrscht grösseres Suchtpotenzial, besonders beim Rauchen
• Die Pseudobeschäftigungen werden immer unerträglicher («Man weiss bald nicht mehr, was man tun soll, um überhaupt etwas zu tun.»)

Arbeitslose sind aus finanziellen Gründen oft gezwungen, in günstigen Wohnungen zu leben. Über Lärm in Wohnung oder Haus klagen in Deutschland 45 Prozent der Arbeitslosen gegenüber 37 Prozent der Erwerbstätigen. 34 Prozent der Stellensuchenden gegenüber 22 Prozent der Berufstätigen gaben bei der Befragung 1998 an, an einer stark befahrenen Haupt- oder Durchgangsstrasse zu wohnen. Die Wohnsituation ist insofern entscheidend, als sie einen wichtigen Teil der persönlichen Lebensqualität darstellt. Arbeitslose sind oft auch gezwungen, preiswerte Nahrungsmittel einzukaufen. In der Folge ernähren sie sich ungesünder als die Erwerbstätigen.

Thema geniesst in den Kantonen unterschiedliche Aufmerksamkeit

Regelmässiger Sport ist für die Gesundheit besonders wichtig. Bei den Erwerbstätigen treiben 40 Prozent wöchentlich mindestens eine Stunde Sport. Nur etwa 30 Prozent sind es bei den Arbeitslosen – trotz mehr Freizeit. Einerseits wird der Kostenpunkt, beispielsweise für ein Abo im Fitnesscenter, als Grund angegeben. Andererseits vermögen sich Arbeitslose nur mit Mühe für solche Aktivitäten zu begeistern. Denn: Die Wertschätzung der Freizeit nimmt ab, wenn diese in zu hohem Mass vorhanden ist. Als Kernpunkt betrachtet Kuhn in seiner Studie die psychosozialen und psychosomatischen Auswirkungen bei Arbeitslosen. Die
Arbeit gilt als Identifikationsgrad unserer Gesellschaft. Besonders bei Männern, die sich eher als Hauptverdiener sehen, hat das einschneidende Konsequenzen. So rauchen laut der deutschen Umfrage 34 Prozent der berufstätigen Männer täglich. Bei den arbeitslosen Männern hingegen sind es 49 Prozent, wobei es bei den Frauen kaum Unterschiede gibt. Am ehesten sind psychosomatische Probleme an der Anzahl Krankenhaustage pro Jahr auszumachen. Arbeitslose Männer verbringen in Deutschland nahezu siebenmal mehr Zeit als Erwerbstätige wegen psychischer Störungen im Krankenhaus. Bei den Frauen beträgt das Verhältnis immer noch 3:1.
Laut Kuhns Zwischenbericht nehmen diese psychosomatischen Probleme mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zu. Dies bestätigt auch der Schweizer Soziologe Jürg Schiffer. Der freie Mitarbeiter vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Bern befasst sich schon seit langem mit diesem Thema und fügt an: «Meistens treten Krankheiten auf, wo der Körper schon vorher geschwächt war.» Das kann Herzschwäche sein oder ein Ekzem (Hautausschlag). Schiffer spricht daher nicht von Gesundheit oder Krankheit. Für ihn hat jeder Mensch ein Konto mit Stärken oder Schwächen des Körpers: «Während der Arbeitslosigkeit wird dieses Konto belastet.»
Doch wer sollte sich dieses Problems annehmen? Schiffer spricht von einer Lücke im System, die gestopft werden muss. «In den Kantonen Waadt und Wallis sind die Zuständigkeitsbereiche geregelt und es gibt eine gute Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsämtern und den Behörden. Bei der Erstanmeldung im RAV wird mit den Arbeitslosen ein Fitness-Check durchgeführt.» Es müsse auf Bundesebene per Gesetz die Trennung von Beruf und Gesundheit gemacht werden, damit das Problem gesamtschweizerisch behandelt werden könne. Der Soziologe fordert auch eine Schulung in den RAV bezüglich Gesundheitsfragen. Das Thema müsse generell eingebaut werden. Schiffer: «Diese Probleme müssen endlich bei der Wurzel
gepackt werden!»

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