«der arbeitsmarkt» 03/2013TEXT: Elisabeth Fry
Querdenker

Anders ticken

Querdenker sind nicht immer logisch, ecken oft an. Dafür wagen sie Neues, haben Visionen und Durchsetzungskraft. Deshalb sind sie in Unternehmen durchaus erwünscht.

Simon Burkhardt ist ein Querdenker. «Das ist wohl eine Veranlagung, ich ticke einfach so», sagt er. Der 39-Jährige arbeitet als Designer bei der Agentur «gestalten» in Zürich. In der Werbe- und Kommunikationsbranche ist querdenken Bedingung, denn sonst käme er nicht auf kreative Lösungen.

Schon als Kind zeichnete Simon Burkhardt gerne Figuren, Objekte und Räume, die ineinandergreifen. «Ich empfinde eine grosse Lust dabei, verschiedene Themen und Ideen miteinander zu verknüpfen. Ich muss mich dabei nicht immer an die Realität halten, sondern darf auch mal ‹spinnen›, meinen Intuitionen folgen, abheben.»

Ein Designer muss für Firmen eine Grundaussage, eine Haltung finden, die er dann im Bild umsetzt. Lässt sich diese auch in anderen Medien transportieren – Film oder Text –, heisst das, dass er seine Aufgabe gut gelöst hat. «Grundsätzlich will ich die Kunden überraschen, zeigen, dass ich weiterdenke.»

Unwahrscheinliches aussprechen

Querdenken ist kein fester Begriff, er ist nur vage definiert. Deshalb löst er viele Assoziationen aus. Sowohl positive wie negative. Querdenker haben Ecken und Kanten. Sie gehen nicht nur mit Disziplin an ihre Arbeit, sondern vor allem mit Lust. «Sie sind Menschen, die in gewisser Weise gegen die guten Sitten verstossen», sagt Michael Zirkler, Arbeits- und Organisationspsychologe und Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (zhaw). Sie bräuchten eine gewisse subversive Energie. Querdenker seien aber keine Querulanten. Diese hätten nämlich keine Vision, sondern würden einfach Aufmerksamkeit erheischen. Ein echter Querdenker habe das jedoch nicht nötig, er sei narzisstisch gesättigt. Das heisst, er braucht nicht dauernd Bestätigung von aussen, da er in seinem eigenen Wesen gefestigt ist und das Potenzial zur Selbstverwirklichung hat.

In seiner Beratertätigkeit für Veränderungsmanagement seien Querdenker ein grosses Thema. Sie brächten innovative Ideen. «Querdenken reicht jedoch nicht, man muss auch quer handeln.» Viele Menschen würden zwar querdenken, das Problem sei jedoch, dass viele nicht wagten, ihre Gedanken auszusprechen. Querdenker bräuchten eine gewisse Positionierung, um ihre Ideen überhaupt vorbringen zu können. Sie müssten ausserdem den richtigen Zeitpunkt und den geeigneten Rahmen abwarten.

Hartnäckig und leidenschaftlich

Querdenkende sind nicht immer bequeme Menschen. Sie stören traditionelle Abläufe, provozieren das Establishment, wenn sie Altbewährtes hinterfragen. Dabei hegen Querdenker eher gute Absichten. «Sie besitzen oft eine grosse innere Klarheit und eine tiefe Überzeugung von dem, was sie wollen. Sie haben eine Vision», sagt Michael Zirkler. Für ein bestehendes Problem wollten sie alternative, unorthodoxe Lösungswege aufzeigen. Es gehe ihnen nicht um persönliche Bereicherung, Ehre oder Ruhm, sondern um Veränderung und Entwicklung hin zum Guten.

«Um ihre Visionen umzusetzen, brauchen Querdenkende viel Ausdauer und oft einige Anläufe», so Michael Zirkler. «Viele bleiben jahrelang und unbeirrbar an ihrer Vision dran. Querdenker und Querhandler sind also nicht einfach Spinner mit merkwürdigen Ideen, sondern Menschen mit grosser Leidenschaft.»

Gottlieb Duttweiler ist ein gutes Beispiel eines Querdenkers. Er erfand den Supermarkt für die Schweiz. Um seine Migros ins Leben zu rufen, musste er gegen viele Widerstände kämpfen; er war das Schreckgespenst aller Detailhändler. Aber seine Vision war grosszügig, er wollte der ganzen Bevölkerung Lebensmittel zu günstigen Preisen anbieten. Ein Querdenker neueren Datums ist Roger Schawinski. Er torpedierte das Schweizer Radiomonopol mit seinem Privatsender Radio 24 vom italienischen Pizzo Groppera aus, bis er endlich eine Schweizer Konzession erhielt. Somit ebnete er in der Schweiz den Weg für private Radio- und Fernsehstationen und läutete das Ende des Staatsmonopols ein.

Trainingsmethoden

Bei der Problemlösung gehen Querdenker weniger rational und logisch vor, sondern eher intuitiv. Sie lassen sich inspirieren und springen von einem Gedanken zum andern – frei assoziieren heisst das so schön. Dabei muss nicht jedes Zwischenergebnis stimmen, es kann aber trotzdem zu neuen Sichtweisen verhelfen. Querdenker dürfen unkonventionelles Denken wagen, unwahrscheinliche Lösungen aussprechen.

Das Querdenken – auch laterales Denken genannt – kann mit verschiedenen Techniken geübt werden. Eine der bekanntesten ist die Six-Thinking-Hats-Methode von Edward de Bono, einem Psychologen aus England. Die sechs verschiedenfarbigen Hüte stehen jeweils für einen anderen Blickwinkel: Weiss steht für analytisches Denken, Rot für emotionales, Schwarz für kritisches, Gelb für optimistisches, Grün für kreatives und Blau für ordnendes Denken. Bei der Lösungsfindung setzen sich die Teilnehmer abwechslungsweise einen anderen Hut auf und üben eine andere Denkweise.

Eine neue Art, um queres Denken – «Thinking out of the Box» – zu üben, nennt sich «Prototyping». Sie kommt aus dem Design Thinking, einer auch an den Hochschulen gelehrten Methode zur Entwicklung neuer Ideen, die sich an der Arbeit von Designern orientiert. Da wird eine Vision nicht verbal beschrieben, sondern mit Knete oder Lego in Form gebracht. So erlebt die Person ihre Idee auf einer ganz anderen Ebene. Die Berater nennen das «Denken mit den Händen».

Wichtig ist dabei nicht das Training, sondern die Anwendung. Das neue Denken wird zur Haltung.

Querdenker sichern das Überleben

Nicht nur das kreative Berufsumfeld braucht Querdenker, sondern die Wirtschaft allgemein. Denn sie bringen Innovationen und Veränderungen, die heute mehr denn je gefragt sind, damit der Betrieb überleben kann. Die Unternehmen müssen sich sehr schnell an Situationen anpassen, die neue Lösungen erfordern. Oft werden für Veränderungen externe Berater geholt oder Leute befristet angestellt. Oder eine spezielle Abteilung für die rare Spezies entsteht, damit sie unter sich bleiben. Querdenkende Menschen kommen in Unternehmen meist gezielt und punktuell zum Einsatz, um Veränderungen einzubringen und anzustossen (siehe Kasten). Ansonsten tauchen sie eher per Zufall auf, sind dann aber willkommen, solange sie nicht alles und jedes hinterfragen. Vielmals kommen sie in Marketing, Sponsoring oder Social Media zum Einsatz.

In einer «erwachsenen» oder «reifen» Organisation, sagt der Arbeitspsychologe Michael Zirkler, sei Querdenken erwünscht und möglich.In einer «nichterwachsenen» Organisation jedoch verteidige jeder seine Position in der Firma und zeige durch sein Angepasstsein, dass er zum Club gehöre. «Erfolgreiches Querdenken braucht nicht nur die entsprechenden Menschen, sondern auch ein soziales Feld, in dem diese sich verwirklichen können.»

Suchen Unternehmen querdenkende Exoten?
Migros
Die HR-Abteilung des Detailhändlers stellt Personen an, die zu Anforderungsprofil, Team und zukünftigen Vorgesetzten passen. «Ist diese Person zudem noch ein Querdenker oder eine Querdenkerin, dann umso besser», sagt Marlène Honegger, Leiterin der Direktion Personelles Migros-Genossenschafts-Bund. Für sie sind Querdenker Menschen, die aus den bestehenden Denkpfaden heraustreten und andere Sichtweisen zulassen können. Sie gäben im Bewerbungsgespräch zum Teil verblüffend andere Antworten als die meisten Bewerber. Auch in den Assessments erkenne sie Kreativitätsmerkmale und Innovationskraft. Solche Leute seien natürlich nicht immer teamkonform und könnten anecken. Trotzdem müssten sie sich an die bestehende Organisationsstruktur anpassen, es gebe keine Sonderbedingungen.
Credit Suisse
Die HR-Abteilung der Bank orientiert sich bei der Rekrutierung an der eher fassbaren Kategorie «Quereinsteiger». Sie stellt sie vor allem für nichtklassische Bankfachstellen ein, zum Beispiel im Marketing, Sponsoring, in der Forschung oder für spezifische Projektleitungen. Auswahlkriterien seien dabei das Gesamtpaket an Erfahrungen und Qualifikationen, eine schnelle Auffassungsgabe sowie ein hohes Mass an Flexibilität.
Die Schweizerische Post
Der Konzern hält für solche Leute eine Spezialisten- oder Führungsfunktion geeigneter als eine Funktion mit hochstandardisierten Prozessen. «Bei der Post sollen Querdenker Bewegung ins Team bringen sowie Abläufe und Prozesse hinterfragen und verbessern», sagt Bernhard Bürki, Mediensprecher. Das Unternehmen sei sich bewusst, dass Querdenkende genügend Freiraum und das Vertrauen der Führung erhalten müssten, sonst verliessen sie das Unternehmen schnell wieder.
SBB
Das Unternehmen ermuntert die Angestellten, querzudenken. «Wir rufen die Mitarbeitenden aktiv auf, mittels eines standardisierten Tools Verbesserungsvorschläge einzubringen, auch wenn diese quer in der Landschaft liegen», so Christian Ginsig, Mediensprecher der SBB. Daneben holen sie sich die Aussensicht oder Neuerungen auch vom externen Kundenbeirat oder durch Marktforschungsumfragen.

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