«der arbeitsmarkt» 12/2010

«Als Bahnhofvorstand war ich nahe beim Kunden»

Auf 42 Dienstjahre bei den Schweizerischen Bundesbahnen kann Edgar Straumann zurückblicken. Während dieser Zeit hat sich mit der technischen Entwicklung viel verändert. Die Funktion des Bahnhofvorstandes gibt es heute nicht mehr.

Wie stellen Sie sich einen Bahnhofvorstand vor? Natürlich, er hat ein rotes Chäppi. Der pensionierte Bahnhofvorstand Edgar Straumann erklärt schmunzelnd, es habe sich dabei um einen Überzug über die schwarze Mütze gehandelt, der nur im Fahrdienst angebracht werden durfte. Am Hut habe man auch den Grad erkannt: «Zuletzt hatte ich einen Kranz. Trotzdem war ich froh, als die Mützentragpflicht aufgehoben wurde.» Zum Bild des Bahnhofvorstandes gehört weiter die Kelle. «Anfänglich brauchte ich diese tatsächlich noch, um die Züge abzufertigen. Zu ihrer Verwendung gab es ein Reglement. Sowohl die Vorder- als auch die Rückseite waren grün-weiss. Welche Seite man zeigte, hing von den Lichtverhältnissen ab. Wenn der Lokomotivführer nicht reagierte, kehrte ich sie und hoffte, er fahre endlich los.» Später erteilte der Bahnhofvorstand den Abfahrbefehl elektrisch - aber immer noch vergewisserte er sich auf dem Perron, dass alles okay war.

Lehr- und Wanderjahre

«Mein Vater war Maschinenmechaniker, und meine Mutter hatte eine Heidenarbeit mit dem Waschen der Übergwändli. Sie sagte zu mir: Lerne nie so etwas!», erzählt Edgar Straumann. So besuchte er die Verkehrsschule, an der die Angestellten der Monopolisten Post und Bahn ihre berufliche Laufbahn starteten. 1956 begann er die zweijährige «Beamtenlehre» bei den SBB. Bei der Aufnahmeprüfung wurde er gefragt, welche Funktion er einmal ausüben wolle. «Meine Antwort lautete: Ich möchte Bahnhofvorstand in Wangen bei Olten werden.» In dieser Solothurner Gemeinde sei er nämlich aufgewachsen. In die Verwaltung habe er nie gewollt.

Die Lehrjahre führten Straumann von Oberbuchsiten über Alpnach Dorf nach Dulliken. Die Freude am Lehrabschluss war gross - und ebenso gross die Ernüchterung: «Als frischgebackener Beamter war ich frei verfügbar, wie es damals hiess. Und ich landete in der Güterexpedition Pratteln. Dort hatte ich einen reinen Bürojob: Ich musste Frachtbriefe ausstellen. Immerhin hatte ich Einblick in den internationalen Verkehr.» Dann konnte Straumann in den Bahnhof Pratteln wechseln, wo er in der Einnehmerei Billette verkaufte, aber auch im Fahrdienst Ablösungen machte. Das empfand er als wesentlich abwechslungsreicher. Nächste Station war Sarnen. «Einmal dachte ich, ich sei meine Stelle los: Ich liess Bundesrat Ludwig von Moos am Schalter warten, während ich mit einem Mädchen plauderte - ich kannte den frisch Gewählten gar nicht. Doch offenbar beschwerte er sich nicht bei meinem Vorgesetzten.»

Bald wurde der Beamte nach Muttenz versetzt. Als eine Stelle im solothurnischen Egerkingen ausgeschrieben war, interessierte sich Straumann und erhielt den Zuschlag. So erlebte er während der 60er-Jahre den Bau der Autobahn in dieser Region und die anschliessende Industrialisierung. Mit der wachsenden Bedeutung der Dienststelle kletterte Straumann auf der Lohnleiter nach oben. «So bin ich an Ort vorangekommen.» Als er 1978 weiterzog, war er stellvertretender Stationsvorstand. Vier Jahre blieb er in Grenchen Süd, wo der Schwerpunkt auf dem Personenverkehr lag. «Ich hatte nie Schwierigkeiten mit Leuten, seien es Mitarbeitende oder Kunden.» Hier, wie auch die nächsten drei Jahre in Oensingen, wirkte er als Stellvertreter des Bahnhof­vorstandes.

Mit Dienststelle identifiziert

Und jetzt wurde wahr, wovon er als Jugendlicher geträumt hatte: 1985 gab die Wahlkommission seiner Bewerbung als Bahnhofvorstand von Wangen statt. Er habe sich immer mit der jeweiligen Dienststelle identifiziert, so Edgar Straumann. Doch die Gemeinde, zu der er den Bezug nie verloren hatte, war etwas Spezielles: «Viele Wangner kannten mich und kamen gerne zu mir an den Schalter.» Einmal stellten sich ungebetene Gäste ein, 1988 wars. Kurz nach 1 Uhr nachts überraschten zwei maskierte Männer den dienst­habenden Beamten auf dem Perron und bedrohten ihn mit

Revolvern. Gefesselt und geknebelt musste er den Tresorschlüssel aushändigen. Die Räuber verschwanden mit rund 3000 Franken aus dem Stationsbüro. Schliesslich konnte der Gefesselte den Alarmknopf betätigen. Er war geschockt, aber unverletzt. «Ich wollte ihm ein paar Tage frei geben, doch der Beamte sagte, er wolle seine Arbeit wie gewohnt weiterführen», erinnert sich      Straumann.

Einen Höhepunkt der erfreulichen Art bildete das Fest zum Jubiläum «150 Jahre Schweizer Bahnen» 1997 auf dem Wangner Bahnhofareal. «Wir hatten unter anderem eine Ausstellung von historischen und modernen Lokomotiven organisiert. Die Leute kamen in Scharen. Das zeigt, wie eng die Bevölkerung mit der Bahn verbunden ist.» Eine wichtige Aufgabe hatte Straumann im Güterverkehr. In Wangen betreibt Coop eine Verteilzentrale mit Gleisanschluss. «Coop war für die SBB schon damals ein bedeutender Partner. Ich pflegte einen engen Kontakt und konnte so den Rangierdienst auch kurzfristig kundengerecht organisieren.»

Rückblickend wertet er die Nähe des Bahnhofvorstandes zur Klientel als grosses Plus: Er habe versucht, kleinere und grössere Wünsche wenn immer möglich zu erfüllen - beispielsweise wenn es um die Planung von Gruppenreisen ging. Sein Bahnhofareal betrachtete Straumann als Visitenkarte: Die Perrons waren geschmückt mit Geranien, die er selbst gezogen hatte. Mehr als einmal heimste er beim SBB-internen Wettbewerb dafür einen Preis ein. Und die Sauberkeit wurde nicht einer Putzequipe überlassen: «Das Bahnhofpersonal war auch für die Reinigung im und um den Bahnhof zuständig. Wenn Abfall herumlag, wurde sofort zum Besen gegriffen.»

Enorme technische Entwicklung

In 42 Dienstjahren hat Edgar Straumann eine enorme Entwicklung mitgemacht. Am Anfang waren die Stellwerke noch mechanisch; im Fahrdienst erforderte das Stellen von Weichen und Signalen Muskelkraft. Dann kamen nach und nach die elektrischen Stellwerke. Die Züge durften nur auf Blockdistanz fahren - in der Regel bedeutete dies einen Abstand von Station zu Station. Bei der heutigen Verkehrsdichte wäre dies undenkbar. Im Per­sonenverkehr gab es noch lange Zeit Kartonbillette. Diese wurden in Bern bestellt und im Billettkasten zwischengelagert; die Billettpresse diente für den Datumsstempel. Dann kamen die ersten Schalterdrucker; darauf konnten diejenigen Billette ausgedruckt werden, für die Druckplatten vorhanden waren. Ansonsten galt es diese nach wie vor von Hand zu schreiben. Jeweils am Monatsende fiel das aufwendige Abrechnen der verkauften Billette an. Die grosse Vereinfachung kam ab 1990 mit dem PC.

Der technische Wandel habe ihm keine Mühe bereitet, hält Straumann fest: «Ich sah dies stets als Fortschritt, der den Fahr­gästen zugutekommt.» Mehr Probleme habe er mit den Umstrukturierungen gehabt. «Als Ende der 90er-Jahre die Kreisdirektionen aufgehoben wurden, hatte man keine Ahnung mehr, an wen man sich bei Problemen wenden musste. Einmal befand sich der Ansprechpartner in Bern, dann plötzlich wieder in Luzern oder Basel. Eine Zeitlang hatte ich wie viele Kollegen den Eindruck, an der SBB-Spitze wisse die Linke nicht, was die Rechte tut.» So machte er 1999 - nicht als Einziger - von der Möglichkeit Gebrauch, sich mit 61 Jahren vorzeitig pensionieren zu lassen. «Als ich an meinem letzten Arbeitstag die Schlüssel abgab, sagte ich: ‹In diesem Büro werdet ihr mich nie mehr sehen.›» Dies nicht etwa aus Frust: «Als Bahnhofvorstand hatte ich meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführt. Dieser Lebensabschnitt war nun zu Ende. Mein Nachfolger brauchte keine Ratschläge von mir. Im Herzen bin ich aber ein Bähnler geblieben.» Wer dem 72-Jährigen zuhört, wie er in seinen Erinnerungen kramt, glaubt es gerne.

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