«der arbeitsmarkt» 05/2012

Alltag im Bürosimulator

Im kaufmännischen Bereich ist die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gross. Praxisfirmen bieten eine Übungsplattform, um Stellensuchende für den Arbeitsmarkt fit zu trimmen. Dahinter steckt ein internationales Netzwerk.

Seit bald einem Jahr sucht Anja Heidenreich eine Stelle. Die gelernte Coiffeuse hat auf dem zweiten Bildungsweg ein Bürofachdiplom erworben, doch nach Abschluss der Ausbildung kam der 31-Jährigen die Geburt ihres Sohnes dazwischen. Heidenreich ist froh, dass sie jetzt in der Verwaltung der Allpower im aargauischen Lenzburg vorübergehend Arbeit gefunden hat. Hier kann sie die Praxiserfahrung sammeln, die ihr fehlt, und beweisen, dass sie Job und Kind unter einen Hut bringt. «Für mich ist das ein wirklich guter Einstieg», sagt Heidenreich im Wissen, dass der kaufmännische Bereich mit gut qualifizierten Fachkräften gesättigt ist.

Allpower handelt im In- und Ausland mit Küchen- und Haushaltsgeräten. Vor Ort präsentiert sich ein gewöhnlicher Büroalltag. In einem Punkt unterscheidet sich das Unternehmen jedoch von vergleichbaren Betrieben: Die Mixer, Kaffeekocher und Kühlschränke, die das Unternehmen im Sortiment hält, sind fiktiv, die kaufmännischen und administrativen Geschäftsabläufe simuliert. Allpower ist eine sogenannte Praxisfirma. «Wir wickeln die operativen Geschäfte eins zu eins wie in der realen Arbeitswelt ab», erklärt Geschäftsführer Angelo Frey. «Der einzige Unterschied ist, dass unsere Güter nicht real existieren.»

Internationales Netzwerk

Bei Allpower sind rund 30 Personen in den Bereichen Administration, Einkauf, Marketing, IT, Buchhaltung und Verkauf beschäftigt. Es handelt sich um Stellensuchende aus dem kaufmännischen Bereich, die über ein Regionales Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) oder die IV in das Programm zur vorübergehenden Beschäftigung (PvB) gekommen sind. Fest angestellt ist lediglich die fünfköpfige Geschäftsleitung. Ihr Arbeitgeber ist die Santis Training, die auf Personalentwicklung spezialisiert ist und in den Kantonen Aargau, Bern und Basel-Landschaft mehrere Praxisfirmen betreibt. Das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) tritt als Kontrollorgan für qualitative und konzeptionelle Aspekte auf.

Als arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM) arbeiten Praxisfirmen eng mit den RAV zusammen. Ziel ist es, den Stellensuchenden eine Plattform zu bieten, um sich fit für den Arbeitsmarkt zu halten. Im Weiteren arbeiten Praxisfirmen auch mit der IV im Sinne eines Wiedereingliederungsprogramms zusammen. Schweizweit gibt es ein Netzwerk von fast sechzig Praxisfirmen – Reisebüros, Kosmetikvertriebe, Schokoladenhersteller und so weiter –, die in engen Handelsbeziehungen zueinander stehen. Die Teilnehmenden sind gehalten, bei anderen Praxisfirmen wöchentlich mindestens zehn Bestellungen aufzugeben, um den geschäftlichen Fluss innerhalb des Netzwerks aufrechtzuerhalten.

Helvartis

Die Organisation mit Sitz in La Chaux-de-Fonds ist die Zentrale des Schweizer Praxisfirmennetzes, dem rund 60 Einzelunternehmen angeschlossen sind.

Gegründet wurde die Organisation 1994 im Mandat des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO).

Finanziert wird das Netzwerk über einen Fonds für arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM) der Arbeitslosenversicherung.

Mitarbeitende 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten an Aufbau, Betrieb und Weiterentwicklung von Praxisfirmen in der Schweiz und im Ausland. Die Organisation ist dem Kaufmännischen Verband La Chaux-de-Fonds und Neuenburg angegliedert.

 

Der Einsatz im Programm dauert drei Monate und kann auf ein halbes Jahr verlängert werden. Nach dem Austritt stellen die Praxisfirmen ein Arbeitszeugnis aus. Erhalten die Teilnehmenden aber ein brauchbares Rüstzeug für den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt, wenn die Arbeitsabläufe nur simuliert sind? Für Frey steht dies ausser Frage: «Stellen Sie sich jemanden vor, der in einem Industriekonzern Turbinen verkauft. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person die Turbinen nie zu Gesicht bekommt, weil diese real irgendwo im Hafen von Rotterdam stehen, halte ich für gross.» Heidenreich bestätigt, dass sie den Arbeitsalltag als real empfindet, und führt weiter an: «Wenn ein Fehler passiert, sind wir aber weniger nervös.»

Die Fäden des nationalen Netzwerks der Praxisfirmen laufen bei der in La Chaux-de-Fonds ansässigen Helvartis zusammen. Die Organisation führt Qualitätskontrollen durch und spiegelt sämtliche relevanten Institutionen der Aussenwelt, die die Wirtschaftssimulation benötigt: Je nach Bedarf schlüpft sie in die Rolle von Bank, Post, Steuerbehörde und Sozialversicherung. Das Konzept liege im Trend, sagt Geschäftsführer Laurent Comte: «In der Schweiz stieg in den letzten zwei Jahren die Anzahl der Praxisfirmen von 45 auf 60. Diesen Sommer kommen zehn weitere dazu.» Helvartis ist auch die Schnittstelle zum internationalen Netzwerk, dem weltweit rund 7500 Praxisfirmen angehören. In diversen Ländern hat Helvartis mitgeholfen, eigene Netzwerke aufzubauen. In Luxemburg entstanden seit 2006 in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium 24 Praxisfirmen. Weitere wichtige Netzwerke befinden sich in Spanien, Rumänien und dem Kosovo. Von den internationalen Handelsverbindungen profitieren die Teilnehmenden: Sie geben ihnen die Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse anzuwenden.

Teilnehmende in leitenden Positionen

Das Programm von Allpower stützt sich auf die drei Säulen Berufspraxis, Bewerbung und Weiterbildung. In der Bewerbungswerkstatt feilen die Teilnehmenden individuell am Bewerbungsdossier und am persönlichen Auftritt. Steht eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer vor einem Vorstellungstermin, wird das Interview vorgängig geübt. Das Weiterbildungsangebot deckt von Persönlichkeitsentwicklung bis Informatik eine breite Palette ab.

Neueinsteiger müssen sich bei Allpower auf ordentlichem Weg bewerben. Die Aufnahmebedingungen sind klar vorgegeben; Voraussetzung ist eine kaufmännische Ausbildung. «Vom Programm profitiert nur, wer Motivation mitbringt und die Bereitschaft, sich auf einen Lernprozess einzulassen», sagt Frey. Eine gute Zusammenarbeit mit dem RAV sei deshalb wichtig und funktioniere gut: «Allpower werden praktisch nur noch motivierte Personen zugewiesen.»

Programmteilnehmende können bei Allpower auch leitende Funktionen übernehmen, etwa in der IT-Abteilung. An diesem Punkt überschneiden sich virtuelle mit realen Abläufen. Ein am Programm teilnehmender Informatiker ist zurzeit mit dem Aufbau der neuen Website von Allpower beschäftigt.

Parallelkosmos zur realen Arbeitswelt

Das intensive Programm lässt zum Daumendrehen keine Zeit. «Wer bei uns anfängt, vergisst schnell, dass dies eine Praxisfirma ist», erklärt Frey. Dennoch reden viele der Teilnehmenden nicht gern darüber, dass sie in einer Praxisfirma arbeiten. Werden diese Übungsfirmen draussen in der Arbeitswelt überhaupt ernst genommen? Bei der Frage wird Frey deutlich: «Wir spielen hier kein Monopoly! Neben den alltäglichen Arbeiten sind im Team die gleichen gruppendynamischen Prozesse wie anderswo zu bewältigen.» Das Netzwerk der Praxisfirmen kommt für Frey einer Art Parallelkosmos zur realen Arbeitswelt gleich. Mit dem Begriff Stellensuchende mag er sich nicht anfreunden, die Programmteilnehmenden bezeichnet er lieber als «auf dem Markt verfügbare Fachkräfte».

Frey bedauert, dass Praxisfirmen in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Leider komme es dadurch so gut wie nie vor, dass Firmen bei Allpower nach verfügbaren Fachkräften anfragen. Das Gesetz regelt eine klare Trennung zwischen AMM und dem ersten Arbeitsmarkt. So untersagt das Konkurrenzverbot, dass Praxisfirmen beispielsweise Aufträge aus dem ersten Arbeitsmarkt annehmen oder gewinnorientiert arbeiten. Bei ihren Networking-Aktivitäten bleiben die Praxisfirmen unter sich. Um einfacher Kontakte zu privaten Firmen betreffend Praktikumsstellen knüpfen zu können, ist Frey dem lokalen Gewerbeverband beigetreten.

Rund 40 Prozent der Teilnehmenden von Praxisfirmen gelingt es während oder unmittelbar nach ihrem Einsatz, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Genauso wichtig ist Frey, dass er mit jeder Person eine dauerhafte Anschlusslösung finden kann. Für Anja Heidenreich heisst die Devise neben der Arbeit nach wie vor Bewerbungen schreiben und weiterhoffen. Die Motivation dazu ist ihr noch nicht abhandengekommen.

Keine falschen Anreize schaffen

Praxisfirmen sind arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM) und in ihrer Gesamtheit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) unterstellt. Tony Erb, Leiter des Ressorts AMM beim SECO, betrachtet sie als sinnvolle Massnahme im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

Welchen Nutzen bringen Praxisfirmen der kaufmännischen Branche?

Tony Erb: Die Idee wurde zu Beginn der 1990er Jahre geboren. Damals gab es im kaufmännischen Bereich so gut wie keine Möglichkeiten für Berufspraktika. Praxisfirmen schliessen diese Lücke.

Welche Rolle spielt das SECO bei den Praxisfirmen?

Wir treten in erster Linie als Aufsichtsbehörde auf und schauen, dass die Richtlinien eingehalten werden. Eine Praxisfirma darf zum Beispiel keine Fussballveranstaltungen organisieren und keine überrissenen Löhne bezahlen. Ausserdem verwalten wir den Fonds, aus dem die Angebote in den einzelnen Kantonen finanziert werden.

Sind Massnahmen wie die Übungsfirmen überhaupt sinnvoll? Was bringen sie den Teilnehmenden?

Die AMM kommen zum Zuge, wenn die bisherigen Arbeitsbemühungen und die persönliche Situation nach einer gewissen Zeit nicht zum Erfolg geführt haben. Ziel der AMM ist ja auch, dass Stellensuchende sich weiterbilden oder an ihrer Persönlichkeit arbeiten. Gut die Hälfte der Teilnehmenden in Praxisfirmen findet während oder nach dem Programm eine Stelle. Inwiefern diese Zahl direkt mit dem Einsatz zusammenhängt, ist schwer zu sagen. Wir beobachten aber, dass sich die Teilnehmenden in den Praxisfirmen generell gut aufgehoben fühlen.

Praxisfirmen sind als Pool verfügbarer Fachkräfte kaum bekannt. Aufgrund des Konkurrenzverbots, das für Programme zur vorübergehenden Beschäftigung gilt, operieren sie bei der Vermittlung von Teilnehmenden mit angezogener Handbremse. Ist das Konkurrenzverbot noch angebracht?

Praxisfirmen steht es jederzeit offen, auf Firmen zuzugehen, um ihre Mitarbeitenden dort als Fachkräfte zu vermitteln. Das Konkurrenzverbot untersagt ihnen lediglich, für ihre Sache öffentlich Werbung zu machen. Es mag paradox klingen, aber an einer grösseren Bekanntmachung der Praxisfirmen sind wir wenig interessiert. Wir möchten keine Anreize schaffen, dass Arbeitnehmende die Arbeitslosenversicherung für ihre Weiterbildung beanspruchen. Diese Möglichkeit muss die Ausnahme bleiben. Im Vordergrund sollte die Eigenverantwortung stehen.

Praxisfirmen stehen öffentlich in der Kritik. Die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens stellte sie als Demütigung für Teilnehmende dar.

Schwierig sind diese Massnahmen dann, wenn Leute gegen ihren Willen zur Teilnahme gezwungen werden. Persönlich würde ich es begrüssen, wenn Neueinsteigende in Praxisfirmen einen Probearbeitstag absolvieren könnten. Häufig ist es auch so, dass sich eine anfängliche Skepsis mit der Zeit legt. Es kommt auch vor, dass Stellensuchende von sich aus beim RAV den Antrag stellen, bei einer bestimmten arbeitsmarktlichen Massnahme mitmachen zu können. Das ist der Idealfall.

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