«der arbeitsmarkt» 04/2005

Abenteuerliche Erkundung quer durch die Stadt Genf

Genf ist für viele Deutschschweizer ein unbekanntes Gebiet im Westen des Landes. Ein Reporterteam des «arbeitsmarkts» ging auf Entdeckungsreise – immer der zuvor zufällig gezogenen Geraden auf dem Stadtplan entlang.

Um zehn nach zehn sind wir am Ende der Welt. Zuerst dachte ich, der nette Pöstler im Café habe einen Witz
gemacht, als er uns «au bout du monde» schickte, um zu unserem auf dem Stadtplan eingezeichneten Ausgangspunkt zu gelangen. Aber die heftig befahrene Durchgangsstrasse, die in einer grossen Schlaufe den Berg hinunter zur Arve kurvt, heisst tatsächlich so: Route au Bout-du-Monde. Sofort wird auch klar, warum er
meinte, mit dem Auto wäre es einfacher. Für diese Route sind keine Fussgänger vorgesehen. Am Ende der Welt ist der Mensch entweder motorisiert – oder gar nicht. Doch just vor der Brücke am Fusse des Berges zweigt tatsächlich ein kleiner Pfad ins Ufergestrüpp ab. Auf dem Plan ist er zwar eingezeichnet, von der Strasse aus aber nicht zu sehen. Das ist unser Weg. Er ist namenlos und führt durch einen schmalen Streifen aus verwilderten Bäumen. Bescheiden folgt dieser, rechter Hand von steil aufragenden Felsen in Schranken gewiesen, dem gekrümmten Lauf der Arve und reichert sie hie und da mit einer kleinen Bucht aus grauem Sand oder gerundetem Flussgestein an.
Auf der anderen Seite des Flusses liegt Frankreich. Es sieht dort genauso aus wie hier in der Schweiz. Auch dort ist am Ufer ein schmaler Streifen kahler Bäume zu sehen, die aus der schnee- und reifbedeckten Erde herausragen. Dahinter drei verloren wirkende Wohnblöcke in Rosa und Hellgelb. Abgebrochene Baumstämme im Wasser zeugen von vergangenen Unwettern. Vögel zwitschern dem Frühling entgegen, eine Schwanenfamilie nimmt majestätisch Kurs auf uns und adelt die ärmlich gefrorene Vegetation. Der mickrige Waldstreifen windet sich allmählich den Berg hoch und entlässt uns auf den Parkplatz vor dem Hôpital Beau-Séjour.
Aus der natürlichen Versenkung in die ausgestellte Zivilisationspracht von glitzernden Autohauben aufgetaucht, müssen wir uns zuerst einmal neu orientieren. Hier die richtige Strasse auf der Karte zu finden, ist gar nicht so einfach, wie es klingt. Der Stadtplan ist nämlich eine Sache, die Stadt selbst eine andere. Vor allem gibt der Plan, wie schon sein Name sagt, alles planmässig eben an, was sich dann in der Stadtrealität durchaus als hügelig und verschlungen erweisen kann. So scheint der «Sentier du Château» schlicht unauffindbar, obwohl auf dem Plan deutlich an eben diesem Ort eingezeichnet. Rundherum lenken hübsche kleine Villen in Grünanlagen und Mehrfamilienhäuser aus vergangener Zeit unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir verirren uns zu einem weiss gestrichenen Chalet mit Namen «La Pensée» und zur Nobelklinik «La Colline» mit plätscherndem Springbrunnen am Eingang. Der kleine Saigon-Traiteur unter den Pinien am Place de Reverdin duftet uns verführerisch entgegen. Ein Hund bellt. Zwei Leute warten an der Bushaltestelle. Kaum ein Auto, das vorbeirauscht und diese beinahe sonntägliche Ruhe stört.

Bepflanzte Badewannen und kulturelle Aktivitäten

Der gesuchte Weg taucht unvermittelt vor uns auf, als wir die Hoffnung schon aufgegeben haben. Er erweist sich als eine kurze, flache Treppe, die von botanisch üppigem Grün beinahe verschlungen wird. Nach einer scharfen Kurve eröffnet er uns den Blick auf so etwas wie eine futuristische Raumstation aus Beton und Glas, die sich von einem Goldsockel aus in die Höhe ausweitet. Das ist die Fondation pour recherches médicales und
sie gibt den Ton an für alle weiteren Baulichkeiten, die jetzt das Strassenbild prägen. Gleich gegenüber ragt die mit Aluminiumlamellen bedeckte Glasfassade des Kinderspitals in die Höhe, daneben die Notfallzufahrt. An den Analyselabors vorbei kommen wir zum Herz des ganzen Spitalkomplexes an der Avenue de Rosales, dem Universitätsspital Genf. Auf dem Plan werden all diese verschiedenen Gebäude schlicht als «Plainpalais» zusammengefasst.
Die Grenze von den begrünten Spitalhöhen der Begüterten zur Ebene der Normalbürger wird vom
Boulevard de la Cluse gezogen: Blumenladen, Garage, Tabakladen und Café-Restaurant «Chez Pierrot» weisen auf die alltäglichen Bedürfnisse der Stadtbewohner hin. Der Verkehr fliesst hier dichter. In der Monin-Strasse ist der Judoklub von Genf beheimatet. Eine ausgeblichene «Peace»-Fahne hängt von einem Balkon gegenüber. Die Einfahrt weiter vorne zeigt dem neugierigen Blick einen sonnenbeschienenen Innenhof. Tauben fliegen auf, Vespa und Fahrräder sind im Hauseingang geparkt. Beim Abbiegen tauchen plötzlich rechter Hand drei bepflanzte Badewannen auf. Sie säumen ein mit viel Fantasie und Blau bemaltes altes Haus. «Cette maison n’est pas à vendre», kommuniziert gross eine schwarze Tafel. Dafür gibt es drinnen offenbar eine Menge kultureller Aktivitäten, wie auf den beschriebenen Fensterläden zu lesen ist.
Doch wir sind wieder vom Weg abgekommen. Plötzlich ragt ein Kirchturm zwischen zwei Betonkästen
hervor. Er gehört zu einer Kathedrale ohne nähere Bezeichnung. Um sie herum hat sich ein wilder Parkplatz gebildet, daneben ein Kinderspielplatz und ein leer stehendes Haus, dessen Fenster mit den eingeschlagenen Scheiben wie schwarze Münder eine stumme Geschichte erzählen. Rechts der Kathedrale ist eine Baracke mit «Guides et Scouts d’Europe» angeschrieben. Sie weist uns den Weg zur Rue Prévost-Martin, der ersten Strasse, die gänzlich auf unserer Zielgeraden von Südost nach Nordwest liegt und uns schon deswegen sympathisch ist.

Liebenswürdiger Charme und imposante Stadtmauern

So kommen wir zum Place des Philosophes, das heisst in das kulturelle Nervenzentrum der Stadt. Die Läden sind hier exklusiver, die Restaurants wirken teurer. Es ist zwölf Uhr. Wir werden von solchem Hunger übermannt, dass wir nicht lange erst ein Billigrestaurant suchen mögen, sondern in den erstbesten Griechen, «Emilio’s» an der Rue Leschaut, eintreten. Man führt uns an einen Zweiertisch im hinteren Teil des Raumes, der praktisch in die Küche zu stehen kommt. Dem Koch können wir problemlos in die Töpfe schauen.
Dass eng bestuhlt ist, wird deutlich, als sich etwas später eine Gruppe werktätiger Männer an den Nebentisch setzt. Kitsch bedeckt die Wände. Im Fernseher über unseren Köpfen läuft der griechische Nationalsender
ohne Unterbruch. Die Bedienung ist von auserlesener Zuvorkommenheit und Herzlichkeit. Auch sonst wird uns in Genf durchwegs mit liebenswürdiger Freundlichkeit begegnet. Dadurch wird uns schmerzlich bewusst, wie sehr wir solchen Charme in Zürich vermissen.
Das Essen ist ebenfalls vorzüglich: Das Lammgigot an Zitronensauce ist butterzart, die Pommes frites sind
knusprig. Ein exquisites Antipasto und der griechische Salat gehen auf Kosten des Hauses. Mich packt eine
wilde Sehnsucht nach Griechenland. Doch wir sind in Genf.
Hier scheinen alle Wege auf den Place de Plainpalais zuzulaufen. In dessen Sternes Mitte sind sie dann alle versammelt: McDonald’s und Pizza-Hut, die Pizzeria «Bocaccio» und die Brasserie du Rond Point. Die «Librairie» nimmt eine andere Ecke des Platzes ein und verweist diskret auf das rosa Universitätsgebäude im Hintergrund. Schräg gegenüber erstreckt sich die Plainpalais-Wiese, auf der heute, wie jeden Mittwoch und Samstag, ein Flohmarkt abgehalten wird. Nebst dem üblichen Haushalts- und Bekleidungsramsch gibt es auffallend viele Bücher. Der Platz ist dem öffentlichen Verkehr vorbehalten, die Autos werden vorwiegend vom Boulevard des Philosophes weggeführt, so dass die beiden Shoppingmeilen Rue de Carouge und Rue du Conseil-Général von Verkehr einigermassen verschont bleiben. Wir folgen der Letzteren und kommen zur Promenade des Bastions, dem Universitätspark. Auf der Strassenseite gegenüber sitzen im «Le Dorien» die Studenten faul in der Sonne. An ihnen vorbei führt uns die Rue du GénéralDufour direkt zur «Victoria Hall». Das 1891 bis 1893 erbaute klassizistische Gebäude hat auf beiden Seiten der Fassade berühmte Komponisten klassischer Musik aufgelistet. In ihrer Mitte tanzt die weiss-nackte Figur einer verspielten Muse. Das stattliche Stadttheater und die imposante Stadtmauer dahinter haben wir rechts hinten liegen gelassen. Am Ende der Strasse eine kleine Synagoge, nun befinden wir uns auf dem Boulevard Georges-Favon, auf dem eine laute Verkehrsmasse aus Autos, Trams und Bussen sich mit grosser Geschwindigkeit zur Brücke hin bewegt, welche die beiden Stadtteile von Genf verbindet.
Diese Rhonebrücke überquert auch zwei längliche, durch Gehstege verbundene Inseln, die in die Flussmitte gesetzt sind. Darauf stehen zwei hübsche Pavillons aus dem 19. Jahrhundert. Von der Brücke aus gehen wir
linker Hand die Promenade de St-Jean hoch. Der kleine Durchgangspark hat den Namen Promenade kaum
verdient. Ein Kinderspielplatz unten am Flussufer, einige Bänke oben auf der Anhöhe und die Büste eines Pazifisten in der Mitte. Am Rande des Parks diskutieren zwei schwarze Drogenhändler über den Kinderwagen hinweg lauthals über den Preis. Weiter oben fährt die Eisenbahn auf einer Steinmauer durch die Stadt. Wir nehmen die Unterführung und befinden uns plötzlich in einer ganz anderen Gegend.
Keine hoch aufragenden oder geschichtsträchtigen Paläste mehr, kein Verkehr, kein Lärm. Ein Pensionär züchtet in seiner offenen Garage Grünzeug. Weiter oben übertönt das Vogelgezwitscher im Gebüsch alle weiteren Geräusche der Stadt. In einem heruntergekommenen alten Gebäude ist die Université Populaire untergebracht. Eine kleine Affiche weist darauf hin, dass auch die «Ecole d’arts appliqués» hier zu finden sei. Liebevoll bemalte und besprühte Wände eines offenen Parkplatzes, im Hinterhof Alteisenskulpturen, die eines Jean Tinguely würdig wären. Der gegenüber liegende moderne Betonbau ist mit «Centre de Documentation» angeschrieben. Seine schmutzigen Glastüren sind verschlossen, der Platz davor mit Zigarettenkippen übersät. Auf der anderen Seite des Gebäudes befindet sich jedoch der Haupteingang des Collège Voltaire, an der Rue Voltaire.

Wischende Männer und motzende Teenager

Weiter geht es bergan, an der Rue Gutenberg vorbei, vorbei an der Ecole d’ingénieurs, über stark befahrene
Verbindungsstrassen bis zur Rue Schaub, an deren Ecke ein weiss gestrichenes Haus mit Türmchen und hellblauen Fensterläden einen Hauch von Disneyland verbreitet. Die Strasse hingegen strahlt die vornehm-düstere Romantik des vorletzten Jahrhunderts aus. Grün wächst vor den Eingangstüren, und die Cafés wirken eingeschworen und erlesen. Die Rue de l’Orangerie, die einen Bogen bildend abzweigt, ist noch grüner. In einem hübschen Park entdecken wir das ukrainische Konsulat. Zwei Männer in zitronengelben Overalls halten die edle Stille sauber. Nur ihr Wischen und die Vögel sind zu hören.
Unvermittelt werden wir wieder inmitten kahler Häuserblöcke in die verkehrsreiche Avenue GiuseppeMotta hinausgeschleudert. Wir überqueren sie so rasch wie möglich, um in den Park Moillebeau Petit-Saconnex zu gelangen. Er zieht sich mit seinen noch zum Teil mit Schnee bedeckten Wiesen der Bergflanke entlang. An seinem unteren Rand ein verlassener Fussballplatz und einige Schrebergärten. Die Mehrfamilienhäuser, die
den Park säumen, signalisieren Familiengebiet. Kindergeschrei aus der Spielecke, ein halb geschmolzener Schneemann, eine Joggerin, die Dehnübungen macht, ein kleiner Mann mit kleinem Hund raucht versonnen eine Zigarette. Im Garten des Einfamilienhauses führt ein Dreikäsehoch sein Plastikauto spazieren.
Die Kirche schlägt drei Uhr, als wir weiter oben durch ein Gebiet kommen, das durchmischter kaum sein könnte, sowohl was die Architektur wie auch seine Bewohner betrifft. Die kleine, mit Moos bewachsene Steinmauer aus einem französischen Dorf grenzt direkt an ein Mehrfamilienhaus neueren Datums, in dem sich die Deutsche Schule befindet. Dann, schräg einer alten Kirche gegenüber, ein hochmoderner Kirchgemeindesaal, in dem die katholische Messe zweimal wöchentlich in Französisch und viermal in Englisch abgehalten wird. Die Familie mit dem motzenden Teenager, die vorbeikommt, spricht aber die Sprache jenes Landes, das einmal Jugoslawien hiess.

Morbide Stimmung und hochfliegende Träume

Hinter der nächsten Abzweigung kommt das Ende der Durchmischung abrupt und brutal: Zwei aller Äste
beraubte und gleich gigantischen Zahnstochern in die Luft stechende Zypressenstämme markieren den Anfang des Chemin Moïse-Duboule, einer eigentlichen Totenzone. Linker Hand die lange Reihe von Wohnkästen aus Beton, deren Fassade von Moder und Abgasen angeschwärzt ist, rechter Hand der Friedhof Petit-Saconnex, in ihrer Mitte und in grausam konsequenter Fortführung des Kahlschlags ein geköpfter Baumstrunk nach dem anderen. An seinem oberen Ende wird diesem schattigen Abhang mit einer Tafel, die auf das «Foyer Alzheimer» hinweist, die Krone aufgesetzt. Das Foyer muss sich hinter der steril glänzenden weissen Glasfassade eines Gebäudes befinden, das wie ausgestorben wirkt.
Die Überlandstrasse Chemin du Pommier beendet hoch oben auf dem Grat die Morbidität und leitet über auf den sonnigen Hang der anderen Seite, wo eine neue Siedlung am Entstehen ist. In der Mitte steht seit 1889 das einsam wirkende Prunkgebäude der Inter-Parlamentary Union. Vor den Kulissen der schneebedeckten
Berge wird auf neun grossen Tafeln von der «Commune du Grand-Saconnex – Campagne du Pommier» über die Planung und Entwicklung der neuen Siedlung Auskunft erteilt. Sie wird gerade aus der mit Schneematsch bedeckten Erde von Männern mit roten Overalls herausgestampft. Bauschutt liegt zwischen Pfützen, in künftigen Ladenlokalen stehen Farbkübel herum, Abfall sammelt sich am Strassenrand. Hier endet die Buslinie Nummer drei. Sonst kommt kein Auto mehr vorbei. Nur die Schule scheint in Betrieb genommen zu sein, denn sie ist angeschrieben. Ansonsten fehlt jegliche Orientierungsmöglichkeit, und so verirren wir uns, kurz vor dem Ziel, ein zweites Mal. Wir hätten beim Erdwall, der die neue Siedlung von der alten weiter hinten trennt, rechts abbiegen sollen, anstatt ihn in weitem Bogen bis zum Giacometti-Weg links zu umgehen.
Das erkennen wir, als wir endlich dort angelangt sind, wo wir den Schlusspunkt auf unserer Geraden gesetzt haben: Beim Palexpo am Chemin Edouard-Sarasin. Dem von einem Park umgebenen länglichen Betonbau ist ein grosser leerer Parkplatz vorgelagert. In seiner grandiosen Verlassenheit wirkt der Eingangsbereich wie der eines Flughafens. Die hochfliegenden Träume von tausenden von Autonarren werden hier ihre Erfüllung finden, wenn der Autosalon seine Tore öffnet. Dann können sie wieder ans Ende der Welt rasen.

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