«der arbeitsmarkt» 06/2011

18 000 Ingenieure fehlen

Seit 1950 ist der Bedarf an technischen Fachkräften auf das Zehnfache gestiegen – und der Trend hält an. Ingenieurinnen und Ingenieure tragen massgeblich zur Innovationskraft und zur Wettbewerbsfähigkeit des Werkplatzes Schweiz bei. Eine aktuelle Studie zeigt: Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem.

Schweizer Unternehmen finden zu wenige Ingenieure auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Im Oktober 2007 erreichte der Fachkräftemangel seinen vorläufigen Höchststand: 20 000 offene Stellen warteten vergeblich auf Absolventen eines Studiums in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik (MINT). Demgegenüber waren nur gerade 2000 stellensuchende MINT-Fachkräfte registriert – unter dem Strich fehlten also 18 000 Arbeitskräfte. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) 2010 im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung und Forschung verfasste. Weil die Wirtschaft in den Folgejahren von der Krise eingeholt wurde, verkleinerte sich zwar diese «Fachkräftelücke». Die aktuellsten Daten vom März 2009 zeigen 16 000 offene Stellen und nur 2000 stellensuchende Fachkräfte – es fehlten also noch immer mehr als zwei Absolventenjahrgänge aller Schweizer Universitäten und Fachhochschulen.

Vor allem KMU betroffen

«In erster Linie suchen wir Bau- und Elektroingenieure», sagt Mauro Pellegrini, Geschäftsleitungsmitglied des Ingenieurbüros Maggia in Locarno und Zentralpräsident von Swiss Engineering, dem Berufsverband der Ingenieure und Architekten. Zurzeit bietet das KMU, das schweizweit rund 80 Ingenieure beschäftigt, sechs Ingenieurstellen an. Die MINT-Studie zeigt Ähnliches: Am meisten ausgeprägt ist der Mangel bei den Ingenieuren aus dem Bauwesen (4200) und aus der Technik (4400), darunter vor allem bei den Elektro-, Mikro- und Maschineningenieuren. Im Gegensatz dazu fehlten «nur» 3700 Informatiker sowie 1800 Mathematiker und Naturwissenschaftler. Die Folgen für die Unternehmen sind vielfältig und reichen von langen Vakanzen über verzögerte Neueinstellungen bis hin zu höheren Rekrutierungskosten. «Grossunternehmen sind allerdings weniger stark betroffen als KMU», sagt Matthias Gehrig, Ökonom und Hauptautor der MINT-Studie. «Wahrscheinlich bieten sie den Stellensuchenden tendenziell attraktivere Jobinhalte und Löhne und haben zudem ein effektiveres Recruiting.»

Die Lücke wächst

Zwar hängt der Ingenieurmangel stark von der Konjunktur ab, er hat aber auch einen strukturellen Anteil. Gemäss der MINT-Studie beträgt diese strukturelle Lücke in der Schweiz rund 10000 fehlende MINT-Fachkräfte – «diese Lücke resultiert bei einem Wachstum des BIP in der Höhe von 1,7 bis 2 Prozent», führt Gehrig aus. Ursache ist der Strukturwandel der letzten Jahrzehnte, der zu einer technologieaffinen Wissensgesellschaft führte, die heute zehnmal so viele technische Fachkräfte benötigt als noch im Jahr 1950. Die heutige Schweiz lebt von Brainpower – Forschung und Innovation sind ihre Motoren. Das zeigt sich auch an der Einwanderung: Statt Bauarbeitern kommen heute Akademiker in die Schweiz – ohne sie wäre der Strukturwandel nicht zu bewältigen. Und angesichts der Herausforderungen in den Bereichen Energie, Mobilität und Ressourcen dürften Ingenieurdienstleistungen in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen.

Positive Trendwende

Lange standen jedoch die Studieneintritte in den klassischen Ingenieurdisziplinen im Gegensatz dazu: Gemäss Berichten des Bundesamts für Statistik und der OECD nahm der Anteil der MINT-Studierenden seit Ende der 1990er-Jahre ab. Hinzu kommt die demografische Entwicklung hin zu einer überalterten -Gesellschaft. Allmählich zeichnet sich eine positive Trendwende ab: 2009 und 2010 waren wieder mehr Studieneintritte in den technischen Disziplinen zu verbuchen, sagt eine Studie des Vereins Engineers Shape our Future (IngCH) von 2010. Mit 15 Prozent Zuwachs an den Universitäten und Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) überragen die Ingenieurwissenschaften die anderen Studienrichtungen deutlich. Allerdings: Bis diese Studierenden auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, dürfte sich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage noch einige Jahre weiter öffnen. Denn zurzeit ist die Zahl der Abschlüsse auf Diplomniveau noch immer rückläufig.

Unterschiedliche Erwartungen

Häufig finden Unternehmen und Ingenieur schlicht nicht zusammen: Denn die Anforderungsprofile der Unternehmen sind hoch gesteckt und eng gefasst. Je mehr sich die Technik diversifiziert, desto spezifischer müssen auch die Kenntnisse der gesuchten Ingenieure sein. «Wir brauchen erfahrene Fachkräfte mit der Bereitschaft zur Mobilität», bestätigt Mauro Pellegrini. «Da wir schweizweit tätig sind, sind zudem mindestens zwei Landessprachen Pflicht.» Deshalb sei es insbesondere schwierig, im Ausland zu rekrutieren. Umgekehrt stellen auch die Arbeitnehmer Forderungen: Mehr als früher legen sie Wert auf ein Privatleben, das diesen Namen verdient. Bezogen auf ihre Arbeit erwarten sie zudem in erster Linie vielseitige Arbeitsinhalte, berufliche Perspektiven und Weiterbildungsmöglichkeiten, wie die jüngste Salärumfrage von Swiss Engineering zeigt.

Weiterbildung tut Not

«Häufig stimmen Angebot und Nachfrage nicht überein», sagt Daniel Löhr, Personalberater bei der Engineering Management Selection AG und Mitglied des Zentralvorstands von Swiss Engineering. Dies könne sowohl Persönlichkeit als auch Potenzial und Fachkenntnisse betreffen. «Beide Seiten erkennen oft nicht, dass sie dies mit wenig Aufwand korrigieren könnten – indem sie nämlich in die gemeinsame Zukunft investieren», so Löhr. Ein Ingenieur solle sich modular weiterbilden können – und zwar auch in fachfremden Disziplinen, je nachdem, welche Kenntnisse vom Arbeitgeber verlangt werden. Die Unternehmen ihrerseits dürfen nicht länger darauf warten, den einen passenden Ingenieur für eine bestimmte Stelle zu finden, sondern müssen vermehrt in die Weiterbildung der Mitarbeitenden investieren. Dazu eignen sich interne Weiterbildungen, Trainee-Programme oder Praktika. «Wir arbeiten sehr nahe mit Fachhochschulen zusammen und führen regelmässig gemeinsame Projekte durch», sagt Stephan Rüegg, Marketingmanager beim Schalterhersteller EAO. «Gute Leute versuchen wir dann zu behalten.»

Löhne sind eher tief

Ein weiterer Grund für den Mangel an Fachkräften: Nach einigen Jahren als Spezialisten in Forschung oder Produktentwicklung schlagen ältere Ingenieure häufig eine Managementlaufbahn ein oder wechseln in Branchen wie Consulting oder Finanz – dort erwarten sie in der Regel bessere Karrieremöglichkeiten und höhere Gehälter. Unternehmen müssen sich deshalb bewusst sein, dass die branchenüblichen Löhne die Zahl verfügbarer Fachkräfte beeinflussen können. Denn allgemein verdienen Ingenieure in der Schweiz – verglichen mit gewissen anderen akademischen Fachrichtungen – heute eher wenig. Zwar konnten sie 2010 ihren Bruttojahreslohn steigern, doch nur marginal auf 120000 Franken (Median), sagt die Salärstudie von Swiss Engineering. Ob höhere Löhne aber auch mehr Studenten in die technischen Fächer locken, ist offen. Arbeitsmarktüberlegungen spielen beim Entscheid für ein Studium grundsätzlich nur eine untergeordnete Rolle: «Abgesehen vom Geschlecht sind das Interesse für Technik und die Leistungsfähigkeit in Mathematik die wichtigsten Faktoren», so Matthias Gehrig. Gemäss der MINT-Studie stehen beide Faktoren im Alter von 15 Jahren bereits hochgradig fest. Verschiedene Initiativen von Politik, Behörden, Industrie und Bildungsinstitutionen zielen deshalb darauf, Schülerinnen und Schüler möglichst frühzeitig und auf allen Schulstufen mit MINT-Fächern in Kontakt zu bringen.

Wo bleiben die Frauen?

Besonders wichtig ist die Nachwuchsförderung bei Mädchen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein 15-jähriger Schüler ein MINT-Studium macht, ist fünf Mal grösser als bei seiner gleichaltrigen Kollegin, schreiben die BASS-Forscher. Die Studie von IngCH zeigte zudem, dass 2010 zwar leicht mehr Frauen ein technisches Studium begannen als im Vorjahr (27 Prozent an den Unis und ETH, 16 Prozent an den Fachhochschulen), dass aber noch deutlich weniger ein solches abschliessen (23 Prozent an den Unis und ETH, 13 Prozent an den Fachhochschulen). Um den Beruf für Frauen attraktiver zu machen, sind auch die Unternehmen gefordert, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter zu fördern und entsprechende Rollenmodelle aktiv zu propagieren. Nicht zuletzt zeigt die Salärumfrage von Swiss Engineering, dass Ingenieurinnen und Architektinnen noch rund 7000 Franken pro Jahr weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen.

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