«der arbeitsmarkt» 07/2006

100 Jahre und kein bisschen alt

Das Schweizerische Sozialarchiv ist ein kollektives Gedächtnis des gedachten, erlittenen und erhofften sozialen Lebens. Dieses Jahr feiert die international bekannte Institution ihr hundertjähriges Bestehen.

Seit 1984 residiert das Sozialarchiv im denkmalgeschützten Patrizierhaus Sonnenhof beim Zürcher Bahnhof Stadelhofen. Wer sich an die moderne, schnörkellose Umgebung und die neue Sachlichkeit am alten Standort Neumarkt erinnert, wird heute von liebevoll renovierten Stuckdecken und im Katalograum von einer purpurnen Seidentapete überrascht. Auch an einem regnerischen Montag sorgen die strahlend weissen, dem architektonischen Korsett des Hauses angepasst eher kleinen Lesesäle für mehr Erleuchtung auf den fast vollständig besetzten Arbeitsplätzen. Hier und dort lächeln Putten milde auf Computer und die neueste Ausgabe des «Vorwärts» herab. Auch die funktionale und sachliche Einrichtung stört den Eindruck nicht, dass es hier doch recht komfortabel ist.

Junge kommen mit dem Zettelkatalog nicht mehr zurecht

Einigen Mitarbeitenden sei der Umzug vom Neumarkt in das Aristokratenhaus schwer gefallen, erzählt die Vorsteherin Anita Ulrich, die ihn allerdings selbst nicht miterlebt hat. Irgendwie scheint es dem Stil des Hauses angepasst, dass sie sich als Historikerin ausweist mit Weiterbildung zur Bibliothekarin und nun seit 18 Jahren mit ungebrochenem Engagement soziale Zusammenhänge dokumentiert. Die Nähe zur Uni, zur Zentralbibliothek und zu den öffentlichen Verkehrsmitteln sei einfach ideal. Im Inneren bescherten die naturnahen Werkstoffe eine Wohlfühlatmosphäre, der sich kaum einer entziehen könne.
In die Unternehmervilla des 17. Jahrhunderts zogen also in demokratischer Tradition 400 Jahre später Gedanken der Arbeitnehmenden ein. Getreu der Devise, dass die Werktätigen sich nach ihrer Arbeit mit Literatur eindecken können, bleiben Haus und Schalter an den meisten Tagen im Jahr bis 20 Uhr geöffnet. Unkompliziert geblieben ist auch der Eintritt: «Es kann nach wie vor wirklich jeder hereinkommen», betont Anita Ulrich.
Was vor hundert Jahren als Zettelkasten anfing, als exaktes Sammeln und Aufbewahren von Dokumenten, gerät mit der heutigen Informationsüberflutung zur Sichtung und Filterung der verfügbaren externen
Datenbanken. So musste sich auch das Sozialarchiv modernisieren und die Informationsbeschaffung digitalisieren. Denn der Zugriff im Lesesaal genügt nicht mehr. Vielmehr steht der Wunsch, sich von überall online zu informieren, im Vordergrund.
Zusammen mit dem NEBIS-Verbund, einem Netzwerk von Bibliotheken und Informationsstellen in der Schweiz, hielt 1993 die Informatik ihren Einzug ins Sozialarchiv. Lächelnd kommentiert Archivar Stefan
Länzlinger: «Die Unbeholfenheit der Jungen, sich über den Zettelkatalog zu informieren, der noch etwa die Hälfte der Bestände umfasst, ist unübersehbar.» Zwar sollen bis 2007 oder 2008 auch die letzten Dokumente online abgesucht werden können, doch auch dann braucht das Aufspüren von Quellen immer noch Geduld, ist eben kein «Googeln». Die Digitalisierung ganzer Bücher besitzt dagegen keine Priorität. «Wir müssen unsere Daseinsberechtigung auch mit beschränkten Mitteln laufend unter Beweis stellen», argumentiert Länzlinger. So könnte er sich das Sozialarchiv beispielsweise auch als virtuellen Marktplatz zwischen Medien und
Forschung vorstellen. Einem papierlosen Phantom soll an der Stadelhoferstrasse aber niemand begegnen.

Vergleichsweise klein, aber international bekannt

Am häufigsten trifft man hier auf Lernende und Studierende. Aber auch Gewerkschafter, Politiker, Pensionäre und Medienschaffende gehen im Sonnenhof ein und aus. Aus den bescheidenen Anfängen 1906 mit einigen hundert Ausleihungen pro Jahr, hat sich das Sozialarchiv zu einer international anerkannten Institution entwickelt. Der runde Geburtstag ist denn auch der Anlass, dass das Schweizerische Sozialarchiv die International Association of Labour History Institutions (IALHI) zum zweiten Mal in ihrer Geschichte vom 7. bis 9. September in Zürich zur Jahresversammlung einlädt unter dem Thema «Arbeiterbewegung und Film».
Allerdings liegen die Ausleihungen heute deutlich unter dem Höchststand von 1994. Das sei jedoch kein Ausdruck von Interessenschwund, protestiert Ulrich. Damals profitierte das Sozialarchiv von der vorübergehenden Schliessung der Zentralbibliothek und den alten Erfassungsmethoden. «Heute zählen wir für unsere Benutzerstatistik nicht mehr Einzeldokumente, sondern nur noch Dossiers. Das verringert die erfasste
Dokumentenzahl sofort.» Aber mit der Benutzerzahl der Zentralbibliothek von 76000 will und kann das Sozialarchiv als Spezialeinrichtung mit erfassten 6423 Benutzern auch gar nicht mithalten.

150000 Bücher, 375 Archive und Briefsammlungen

Das Wort sozial (lateinisch socius = der Gefährte) taucht in mehreren Bedeutungen auf. Umgangssprachlich ist sozial die Eigenschaft von Personen, nicht nur ihr eigenes, sondern auch das Wohl anderer im Auge zu behalten. Umgekehrt bedeutet es auch die Fürsorge oder das Mitgefühl einer Gemeinschaft oder Gesellschaft für das Individuum. In der Psychologie wird sozial als Synonym für den Begriff zwischenmenschlich gebraucht. Entsprechend breit sind die Themen, die vom Sozialarchiv dokumentiert werden. Marxismus, Sozialismus, soziale Ideen und Utopien, sozialistische und kommunistische Theorien und Frauenfragen gehörten von allem Anfang an zu den Hauptthemen des Sozialarchivs. Doch am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung wird laufend gefühlt, die Sammelthemen werden der Aktualität angepasst. In der Zwischenkriegszeit rückten Ideen um Wirtschaftsgestaltung und -geschichte, mit dem Zweiten Weltkrieg Militarismus, Krieg und Pazifismus in den Vordergrund.
Neue Themen sind Migration, soziale Sicherheit und Globalisierung. Die Bürgerinitiativen werden ebenso dokumentiert wie die Schwulenbewegung. Hingegen stehen die Schwergewichte der 60er- und 70er-
Jahre – Psychologie und Philosophie – nicht mehr im Vordergrund. Wer nach Kunst sucht, findet vor allem Monographien zu politischer Kunst, Plakate, Material zur Avantgarde, aber auch Gebrauchsgrafiken. Diese Randthemen werden nur noch zufällig über Vermächtnisse gepflegt, sonst fallen sie dem konsequenten Abgleichen mit anderen Bibliotheken zum Opfer.
Nach hundert Jahren Bestehen umfasst das Sozialarchiv 150000 Bücher und Archive von 304 Körperschaften und 71 Personen sowie Briefesammlungen. Das Archivspektrum reicht von der linksradikalen POCH bis zum fremdenfeindlichen James Schwarzenbach. Erst 1945 kam das Sammeln von Zeitungsausschnitten dazu. Heute stehen dem Benutzer 1,5 Millionen Ausschnitte aus in- und ausländischen Journalen zur Verfügung. Audiovisuelles Archivgut ergänzt die Sammlung seit 2003.
Das Sammeln von tagesaktuellem Material sowie der oft mit Verspätung eintreffenden und eventuell schon veralteten Dokumente durch Vermächtnisse sei nicht widersprüchlich, sondern gewollt, betont Länzlinger.
Allen Besuchern falle der Einstieg in ein Thema über Tagesaktualitäten leicht, dann reize das nähere Herantasten über Literatur und Kleinschriften, und schliesslich führten die Archive zu den eigentlichen Wurzeln. Handgreiflich darf man im Sozialarchiv schon noch werden. Fast sinnlichen Genuss bereitet das Blättern in den Schriften des frühen letzten Jahrhunderts, wie beispielsweise dem Tagebuch des Verwalters der Schreibstube Basel für Arbeitslose von 1913, einem Pendant zu den heutigen Beschäftigungsprogrammen. Nur vorsichtig, ja fast ehrfürchtig berührt man hingegen einen Brief von Rosa Luxemburg oder Thomas Mann.

Einsicht in die Fichen des Schnüffelstaats

Als grösste Datenschutzübung der Hausgeschichte bezeichnet Ulrich die Übernahme von Fichen-Dossiers im Jahr 1996. Jeder einzelne Betroffene musste seine Zustimmung zur Einsicht schriftlich geben. Eine Gruppe von Fichierten wollte ihre Akten, die sie als Zeitdokumente des Spitzelstaats verstanden, nicht der bundesrätlich verordneten Sperrfrist von 50 Jahren unterwerfen, sondern vorher zugänglich machen und übergab
sie deshalb dem Sozialarchiv. «Prominente Vertreter sind etwa der ‹Schweizerische Beobachter›, der Kabarettist Franz Hohler oder der Dokumentarfilmer Paul Riniker», weiss Ulrich. Ein Wermutstropfen dieser ganzen Aktion war sicher, dass nur gerade 400 Dossiers den Weg ins Sozialarchiv fanden. Bundes- und Kantonsbehörden dürften aber rund 900000 Einwohner mehr oder weniger aktiv beobachtet und über sie Fichen angelegt haben. Zwar muss man vor Einsicht dieser Akten im Sozialarchiv eine Genehmigung durch den Verein Schnüffelstaat einholen. Sie ist aber nur eine Formalität, betont Länzlinger, um festzustellen, welches Motiv hinter dem Einblick steht.

Wo sich Exilanten über das Idiotenwesen informierten

Eines ist das Sozialarchiv heute allerdings nicht mehr: ein Treffpunkt und Studienzentrum für Emigrantinnen und Emigranten. Vor und während des Ersten Weltkriegs waren es Deutsche und Russen wie Lenin und Trotzki. In der Zwischenkriegszeit verkehrten im Lesesaal die politischen Flüchtlinge aus dem faschistischen Italien und aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Der letzte prominente Besucher war der italienische Schriftsteller Ignazio Silone. In der Nachkriegszeit verliehen italienische Immigranten, baltische, rumänische, ungarische und tschechische Flüchtlinge den Lesesälen ein ausgesprochen internationales Flair.
Im Sommer 1906, als nicht nur in Zürich, sondern beinahe in ganz Europa fast täglich Arbeitskämpfe tobten, gründete der Aussersihler Pfarrer und spätere Politiker Paul Pflüger, angeregt durch einen Besuch des
Pariser Musée social, die «Zentralstelle für soziale Literatur in der Schweiz», das heutige Sozialarchiv. Die ersten 2000 Bücher und mehrere tausend Broschüren stammen aus seiner eigenen Sammlung. Mit Absinth, Ernährung oder Idiotenwesen findet man darunter für den heutigen Geschmack eher bizarre Themen.
Pflüger war überzeugt, dass drängende soziale Probleme nur auf der Grundlage einer umfassenden und exakten Dokumentation gelöst werden könnten. Weitsichtig sorgte er von Anfang an dafür, dass der Trägerverein keine Angelegenheit der Linken blieb. Zu den Gründungsmitgliedern zählten neben Vertretern der Arbeiterbewegung unter anderen ein NZZ-Redaktor, ein Oberrichter und der Abt von Einsiedeln. Heute
sitzen im Vorstand des Vereins Schweizerisches Sozialarchiv mit dem Kanton Zürich, dem Bund und der Stadt Zürich die wichtigsten Geldgeber.
Paul Pflüger wird als wortgewandt, fast charismatisch und vor allem als rühriger Sozialist beschrieben. Er verfasste nicht nur etliche Traktate über soziale Probleme, sondern sorgte mit der «Arbeitshütte» auch
konkret für die Beschäftigung jugendlicher Arbeitsloser im Landbau und gründete den Zürcher Verein für Familiengärten. Ein Radikaler war er aber nicht, vielmehr glaubte er an die Politik der kleinen Schritte und lehnte beispielsweise den Generalstreik ab. Doch er besass nicht nur eine fast utopische Zuversicht, sondern war auch ein Kind seiner Zeit. Als Zürcher Stadtrat forderte er 1917 eine Rassengesundung durch Sterilisierung von Frauen, um die Erzeugung sozial, geistig und moralisch minderwertiger Menschen zu verhüten, heisst in einem Vortrag von Dr. Thomas Huonker an der Tagung «Eugenik und Psychiatrie» in Ascona 2002.
Solche Ideen galten 1917 aber keineswegs als unbarmherzig. Zwar ist davon in der zum Jubiläum herausgegebenen, selbstverständlich roten «Storybox» des Sozialarchivs nichts zu lesen, es hätte die Integrität des Instituts aber auch nicht in Frage gestellt. Zum öffentlichen Geburtstagsfest am 16. September sind alle eingeladen, die sich davon überzeugen wollen, dass das Sozialarchiv sich treu geblieben ist: klein und fein, beständig in der Form, aber wandelbar im Inhalt.

Kontakt: www.sozialarchiv.ch

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