11.01.2016
FOTOS UND TEXT: Ines Tanner

Hans-Heiri Stapfer beim Morgenkaffeetrinken in seinem Garten hoch oberhalb des Zürichsees in Horgen.

Mein Tag als

RAV-Supporter und Autor

Für neue Erwerbslose ist Hans-Heiri Stapfer die erste Ansprechperson beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) in Thalwil. In seiner Freizeit schreibt er und kocht im Freien. Auch Desserts und im Winter.

«Ich bin pünktlich wie eine Schweizer Uhr. Jeden Morgen stehe ich um halb sechs Uhr auf. Dann trinke ich – das ganze Jahr über – meine vier bis fünf Kaffee im Garten. Dort schaue ich auf den See und geniesse die verschiedenen Stimmungen: Sonnenaufgänge, Wolken und Lichtspiegelungen im Wasser.

Diese Angewohnheit ist ein Relikt aus meiner Wohngemeinschaftszeit. Damals tat ich mich mit einem alten Kumpel aus der Sekundarschulzeit zusammen. Beide als gescheiterte Ehemänner. Eine wilde Zeit, mit nicht enden wollenden Grillabenden, weit weg von den Trampelpfaden gutbürgerlichen Daseins.

Auf die Uhr schaue ich nie, sondern orientiere mich an öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn die Flugzeuge kommen, ist es sechs Uhr. Wenn sich die zweite Fähre mitten auf dem Zürichsee mit der ersten kreuzt, ist es zwanzig nach sechs. Das heisst duschen und mich auf den Weg machen. Ich gehe jeden Morgen eine Stunde und 50 Minuten. Darin ist der Arbeitsweg von Horgen ins RAV in Thalwil inbegriffen. Während dieser Zeit kann ich wunderbar entspannen und auf dem Heimweg jeweils wieder «abefaare». 

Hans-Heiri Stapfer arbeitet seit über drei Jahren im RAV Thalwil. Er ist für die Anmeldung von Stellensuchenden verantwortlich.

Zwischen den beiden Wegen arbeite ich als Supporter beim RAV. Zusammen mit Kollegen und Kolleginnen bin für die Erstanmeldung der Stellensuchenden zuständig. Je nach Tag – Ende und Anfang der Monate ist es am strengsten – kommen bis zu zehn Personen zu mir.

Die Zeit, die ich für ein Gespräch aufwenden kann, ist zwischen 20 und 30 Minuten. Das ist knapp. Ich muss ja nicht bloss die Formalitäten erledigen und die Abläufe innerhalb des RAV erklären, sondern oftmals auch einfach zuhören.

Viele der Menschen, die vor mir sitzen, sind ob ihrer Situation verzweifelt. Bei manchen herrscht Traurigkeit vor, bei anderen Wut. Oftmals auch Unsicherheit und Angst. 

Die Bandbreite umfasst von ‹Ich finde dann schon wieder etwas. Warum muss ich mich überhaupt anmelden?› bis zu echt Verzweifelten, bei denen zur Arbeitslosigkeit auch noch private Probleme hinzukommen. Wenn eine Anmeldung nicht zeitkritisch ist, nehme ich mir – und natürlich auch meine Kollegen und Kolleginnen – mehr Zeit. Meist reicht ein offenes Ohr. Einige rasten aus, fluchen oder drohen. Andere weinen.

Um mich abzugrenzen, habe ich den sogenannten ‹Lotosblüten-Effekt› entwickelt. Dadurch perlt fast alles an mir ab. Wie bei der Lotospflanze, die sich durch geringe Benetzbarkeit auszeichnet. Natürlich gehe ich im Moment auf die Leute ein, habe aber gelernt, mich abzugrenzen.

Für mich ist diese Supporttätigkeit eine wunderbare Lebensschule. Ich lerne alles, was ich bisher mit meinen 53 Jahren noch nicht gelernt habe. Wie eben das Abgrenzen, das Erkennen, welches meine Probleme sind und welche diejenigen des anderen, und – ganz wichtig – auch das Neinsagen. Natürlich nehme ich Anteil an jedem einzelnen Schicksal, kann es aber auch schnell wieder abhaken. Zum Glück. Es wäre verheerend, wenn ich all die täglich gehörten Probleme mit nach Hause nehmen würde. 

Berufsbegleitend zu unserer Tätigkeit durften wir verschiedene Kurse absolvieren, die uns in jeder Hinsicht fit für unsere Aufgabe machten. Um das Gehörte zu verarbeiten, sprechen wir innerhalb des Teams miteinander, und ich kann auf meine Lebenserfahrung zählen, die ich während meiner 30-jährigen Zeit als Journalist und Redaktor bei verschiedenen Wochen- und Tageszeitungen sammeln konnte.

Ich schrieb über fast unglaublich viele Schicksale, Unfälle und Verbrechen und lernte bereits während dieser Zeit, nach getaner Arbeit abzuschalten. Ich wusste und weiss: Eine Geschichte ist eine Geschichte, und wenn sie fertig ist, ist sie für mich beendet. 

Über den Mittag wandere ich wieder ungefähr sechs Kilometer. Essen kann ich nicht gross. Ich würde zu müde werden. Das Gehen hilft mir, meine Figur zu halten. Ich habe innert zwei Jahren über 80 Kilo abgenommen. Dies ohne medizinischen Eingriff, sondern einfach nur mit einer Ernährungsumstellung und viel Bewegung. So schwimme ich, zusätzlich zu meinem Lauf-, sprich Gehtraining, vier Mal pro Woche. Hiervon kommt meine Motivation, dass ich mindestens einmal pro Jahr nach Hause schwimmen will. Die Strecke ist über vier Kilometer lang. 

Seit ich nicht mehr als Journalist und Redaktor arbeite, komme ich in den Genuss der geregelten Arbeitszeiten. Darum bin ich regelmässig so um sechs Uhr zu Hause. Das Privatleben ist jetzt planbar. Das kommt auch meinen Nebenjobs zugute. Ich verfasse und bebildere für verschiedenste Aviatikfachzeitschriften rund um die historische Fliegerei Artikel und schreibe Bücher zum selben Thema.

Dank meinem grossen Foto- und Textarchiv und meinem Wissen habe ich beinahe so etwas wie ein Monopol auf diesem Gebiet und bekomme regelmässig Aufträge aus dem In- und Ausland. Meine zweite grosse Leidenschaft gilt dem Kochen und Grillieren auf meinem ‹Cactus Jack Smoker›-Grill. Dies auch im Winter. Die Küche brauche ich so gut wie nie. Mit meinem Superteil kann ich auch niedergaren und sogar Desserts zubereiten. Oft verbringe ich den Abend so, wie ich den Tag begonnen habe: im Freien. Jedoch nicht mit Kaffee, sondern gemütlich mit einem Brandy. Und geniesse das Wetter mit all seinen Stimmungen.»