01.11.2016
FOTO UND TEXT: Daniel Buess

Auf der Vogelpflegestation verrichtet Vreni Mattmann viele handfeste Aufgaben.

Tierpflegerin

Im Einsatz für gefiederte Patienten

Auf der Pflegestation der Vogelwarte Sempach kümmert sich Vreni Mattmann mit ihrem Team um verunglückte, kranke und verwaiste Pechvögel. Da der Mensch immer stärker in die Lebensräume der Vögel eingreift, sieht die Tierpflegerin einen wichtigen Teil ihrer Aufgaben in Aufklärungsarbeit.

Vreni Mattmann muss auf alles gefasst sein. Theoretisch könnte plötzlich jemand mit einem ausgewachsenen Steinadler dastehen. Mit einer Flügelspannweite von etwa zwei Metern gewiss kein pflegeleichtes Tier. Doch auch für einen solchen Notfall ist die Vogelpflegestation bestens gerüstet. Im Aussenbereich gibt es geräumige Volieren, und auch bei der Behandlung von sehr ungewöhnlichen Patienten kann sich die Vogelpflegerin auf ihre langjährige Berufserfahrung und ein eingespieltes Team verlassen. Hinter der unscheinbaren Tür im Eingangsbereich der Vogelwarte Sempach bringen Tierretter jährlich 1000 bis 1500 Wildvögel zur Pflege. Die hohe Zahl kommt nicht von ungefähr. Es sind nicht nur kranke Tiere, die hier behandelt werden, sondern auch Unfallopfer. Wildlebende Vögel sind vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Sie kollidieren mit Fensterscheiben, Freileitungen oder Autos, bleiben in Rebnetzen hängen oder werden von Katzen und anderen Prädatoren erbeutet. 

Vreni Mattmann arbeitet seit 16 Jahren in der Wildvogelpflege. In ihrem Team arbeiten fünf Kolleginnen auf Teilzeitbasis. Als Sempacherin fühlte sich Mattmann schon als Jugendliche mit der Vogelwarte verbunden und jobbte hier gelegentlich in den Ferien. Tierpflegerin wurde sie auf dem zweiten Bildungsweg, nachdem sie an der Vogelwarte mehrere Jahre praktische Erfahrungen gesammelt hatte. «Zimperlich darf man in diesem Beruf nicht sein», stellt sie klar. «Dreck und Gestank sind inbegriffen.» Auf der Vogelpflegestation müssen die verkoteten Käfige und Volieren gereinigt werden. Nicht immer wohlriechend ist auch das Futter, das Vreni Mattmann und ihre Mitarbeiterinnen in der Futterküche zubereiten. Manchmal gräbt Vreni Mattmann eigenhändig Würmer aus dem Kompost aus. Doch in der Regel kauft sie das Vogelfutter im Fachhandel. Wühlmäuse liefert der Feldmauser. Nicht alle Vögel sind Vegetarier oder begnügen sich mit Würmern. 

Keine leichten Patienten

Vreni Mattmanns Pfleglinge sind keine Tiere zum Streicheln und Hätscheln. Es sind Wildtiere. Der Umgang mit ihnen erfordert grosse Sorgfalt, kann aber auch sehr handfest sein. «Wildtiere sind grundsätzlich unberechenbar», sagt sie. Zum Schutz vor scharfen Krallen und spitzen Schnäbeln tragen die Tierpfleger Lederhandschuhe und auch mal eine Schutzbrille. Doch egal, wie wild oder zahm sich die Pfleglinge verhalten: Das Ziel ist es, sie so schnell wie möglich wieder freizulassen. Das Highlight in ihrem Beruf erlebt Vreni Mattmann, wenn ein Vogel nach erfolgreicher Pflege auf und davon fliegt. Schwierige Fälle mit Happy End bleiben denn auch gerne in Erinnerung, wie zum Beispiel die langwierige Genesung eines Uhus,für den das Team alles Erdenkliche getan hatte, bis der zuständige Wildhüter ihn gesund wieder auswildern konnte. Eine Erfolgsgeschichte zwischen Hangen und Bangen. Wenn aber ein Pflegling trotz aller Mühen stirbt oder eingeschläfert werden muss, steckt das die erfahrene Tierpflegerin weg. «Hätte ich mich nicht um das Tier gekümmert, hätte es sowieso keine Chance gehabt», resümiert sie. «Viel schlimmer ist es, wenn ich zusehen muss, wie ein Tier leidet.»

Auf der Vogelpflegestation gibt es für die gefiederten Pfleglinge Käfige in verschiedenen Grössen, und im Aussenbereich der Vogelwarte stehen geräumige Volieren bereit. Nachdem das eingelieferte Tier registriert worden ist, klärt Vreni Mattmann ab, ob der Tierarzt zugezogen werden soll. Der Tierarzt verabreicht nicht nur Medikamente, sondern führt auch allfällige chirurgische Eingriffe, Röntgenaufnahmen und Blutuntersuchungen durch. Auch mit dem Tierspital in Zürich arbeitet die Vogelpflegestation eng zusammen. Die Transporte zwischen der Vogelwarte und dem Tierspital übernimmt der Tierrettungsdienst.

Vreni Mattmann

«Lasst die Jungvögel in Ruhe! Ihre Eltern wissen schon, was zu tun ist.»

Pro Jahr kümmert sich Vreni Mattmann auf der Vogelpflegestation um mehr als 1000 Vögel aus 70 bis 90 Arten. Natürlich ist jeder Vogel auf seine Weise interessant, aber am interessantesten wird es für Vreni Mattmann, wenn sie eine besonders seltene Vogelart zur Pflege bekommt. Solche Raritäten sind zum Beispiel Sumpfeulen und Goldregenpfeifer. Andere Vögel faszinieren Vreni Mattmann vor allem deshalb, weil sie besonders auffallend oder speziell sind. Etwa Habichte, regelrechte Maschinen und virtuose Jäger. Oder Mauersegler. Als Patienten zwar etwas diffizil, aber durch ihre Lebensweise beeindrucken sie nicht nur Ornithologen. Kein anderer Vogel befindet sich ausdauernder in der Luft.

An der Schnittstelle zur Öffentlichkeit

Wer einen kranken, verletzten oder verwaisten Vogel findet, kann die Vogelwarte anrufen. Die meisten Anfragen betreffen alltägliche Vorkommnisse rund um Wildvögel. Daneben gibt Vreni Mattmann auch Rat zu präventiven Massnahmen: Wie kann ich meinen Garten vogelfreundlich gestalten? Wie kann ich Kollisionshindernisse aus dem Weg räumen oder besser sichtbar machen? Manche Anfragen drehen sich um ganz alltägliche Situationen: Darf ich den Reis verfüttern, der vom Mittagessen übrig geblieben ist? Was kann ich machen, damit die Nachbarskatze die Vögel in meinem Garten in Ruhe lässt? In manchen Bereichen sieht Vreni Mattmann noch viel Aufklärungsbedarf. Etwa bei unselbständigen Jungvögeln.In den meisten Fällen ist es gar nicht nötig, dass sie «gerettet» werden. Die Eltern halten sich in der Regel in der Nähe auf und kümmern sich um ihren Nachwuchs, füttern und warnen vor Feinden. Vreni Mattmann appelliert hier immer wieder an die Vernunft: «Lasst die Jungvögel in Ruhe! Ihre Eltern wissen schon, was zu tun ist.»

Die Kommunikation im Zusammenhang mit behandelten Tieren gehört zu Vreni Mattmanns täglicher Büroarbeit. Per E-Mail orientiert sie Leute, die einen Vogel vorbeigebracht haben, über dessen Schicksal. «Oft sind diese Leute sehr betroffen vom Unglück, das ‹ihrem› Vogel zugestossen ist, und interessieren sich entsprechend für Massnahmen, die dazu beitragen können, Vögel besser zu schützen.» 

In der Schweizerischen Vogelwarte, die gemäss ihrem Motto «Forschen – Schützen – Informieren» sehr viele Bereiche umfasst, arbeitet Vreni Mattmann nicht nur für die Vogelpflegestation. Sie betreut Schulklassen im Naturlabor, beantwortet allgemeine ornithologische Anfragen im Auskunftsdienst und betreut die beiden Freiflugvolieren. Gut sichtbar hinter grossen Glasscheiben tummeln sich hier verschiedene heimische Vogelarten wie Turteltauben, Distelfinken, Stare und Goldammern. Die Besucher können diese Tiere nach Belieben anschauen und auch akustisch erleben. Anders verhält es sich mit Vreni Mattmanns Pfleglingen auf der Vogelpflegestation. Abgeschottet von der Öffentlichkeit, verbleiben sie in ihren Volieren und Käfigen, bis sie in die Freiheit gelangen.