26.09.2016
FOTOS UND TEXT: Pascal Gut

Vithyaah Subramaniam, 24, hört in ihrer Tätigkeit die Geschichten von Flüchtlingen aus der ganzen Welt.

Mein Tag als

Hilfswerksvertreterin

Viel wird über die Flüchtlinge geredet, sie hört ihnen erst einmal zu. Vithyaah Subramaniam beobachtet als Hilfswerksvertreterin die Flüchtlingsbefragungen des Bundes und setzt sich für faire und rechtmässige Verfahren ein.

«Manchmal, wenn ich die Leute so über Wirtschaftsflüchtlinge oder angebliche Scheinasylsuchende reden höre, denke ich: ‹Euch würde ich gerne mal an eine Anhörung mitnehmen, wo ihr einen halben oder einen ganzen Tag lang den Betroffenen selbst zuhören müsstet – wenn sie von ihren traumatischen Erfahrungen und ihrer gefährlichen, oft zermürbenden Flucht erzählen.› Seit zwei Jahren arbeite ich als Hilfswerksvertreterin für das Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS), welches die Hilfswerksvertretungen koordiniert und sich für faire Asylverfahren einsetzt. Mein Vater ist in den Achtzigern als tamilischer Flüchtling in die Schweiz gekommen, und ich habe mich früh mit meinen Wurzeln und meiner familiären Herkunft auseinandergesetzt. Durch das Interesse an den Themen Flucht und Migration begann ich, Sozialwissenschaften zu studieren, und leite heute die Fach- und Koordinationsstelle der Plattform ‹Zivilgesellschaft in Asyl-Bundeszentren›. 

Als Hilfswerksvertreterin bin ich bei den Anhörungen von Menschen anwesend, deren Anträge auf Asyl beim Bund geprüft werden. Meine Aufgabe besteht darin, als Vertreterin der Zivilgesellschaft zu kontrollieren, ob die Anhörungen fair und rechtmässig verlaufen. Das HEKS schickt mir immer montags meinen Einsatzplan für die nächste Woche, die dazugehörigen Vorladungen sowie erste Informationen über die Personalien erhalte ich am darauffolgenden Donnerstag. 

Die Anhörungen finden im Staatssekretariat für Migration in Wabern und neu im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) hier in Bern statt. Beginnt die Anhörung um 9.30 Uhr, melde ich mich um 9 Uhr beim Empfang und erhalte das Protokoll der sogenannten ‹Befragung zur Person›, die bereits in einem EVZ stattgefunden hat. Im Wartesaal studiere ich die Unterlagen. Hier treffe ich meistens auf Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls zu einer Anhörung gehen, und wir tauschen uns kurz aus. Schliesslich werde ich vom Befrager oder von der Befragerin abgeholt. Die Zimmer, in denen die Anhörungen stattfinden, sind schlicht eingerichtet. Am Gespräch nehmen die Gesuchstellerin, der Befrager, eine Dolmetscherin, ein Protokollführer und ich teil. Wir setzen uns alle an einen viereckigen Tisch, wobei der Protokollführer an einem Computer sitzt. Zuerst stellt der Befrager alle Anwesenden und deren Funktion vor und erklärt noch einmal die Rechte und Pflichten der Gesuchstellerin. Es folgen Fragen nach ihrer Herkunft, ihrer Lebenssituation im Herkunftsland, ihren Fluchtgründen und der Flucht selbst.

Die Dauer der Anhörungen variiert stark und reicht von zwei Stunden bis zu einem ganzen Tag. Nach der Befragung muss die Gesuchstellerin das Protokoll unterzeichnen. Ich gebe dem Befrager ein Blatt fürs Dossier ab, auf dem ich meine Beobachtungen, etwaige Einwände zum Protokoll oder andere Anmerkungen formuliert habe. Dieses Dokument wird relevant, wenn es zu einer Beschwerde kommen sollte.

Finde ich während des Gesprächs etwas problematisch, interveniere ich. Oft handelt es sich hierbei um Kleinigkeiten: wenn beispielsweise viele Zwischengespräche zwischen Befrager und Protokollführer stattfinden, welche die Gesuchstellerin irritieren; oder wenn die Übersetzungen der Dolmetscherin viel kürzer sind als die Ausführungen der Gesuchstellerin in ihrer Muttersprache. Heikler sind Probleme, bei denen es um die Haltung des Befragers geht – sei es aufgrund von Voreingenommenheit oder fehlender Empathie. In so einem Fall warte ich bis zur Pause und spreche das unter vier Augen an. Das braucht manchmal ein wenig Überwindung. Die Atmosphäre, in der das Gespräch geführt wird, hängt stark vom Befrager und von seiner Art ab. Es gibt solche, die legen Schokolädchen auf dem Tisch bereit. Aber alleine schon ein Lächeln kann sehr viel zur Lockerung der Situation beitragen. 

Meinen Bericht für das Hilfswerk versuche ich jeweils noch am selben Abend zu schreiben. Damit schliesse ich den Tag auch für mich selbst ab. Der Bericht besteht aus den wichtigsten Eckdaten, Aussagen der Gesuchstellerin und meinen Beobachtungen. Der schwierigste Teil kommt am Schluss, wenn ich die Glaubwürdigkeit der gesuchstellenden Person beurteilen muss. Man kann ja nie hundertprozentig sicher sein. Das Benehmen der Gesuchstellerin, der Detailgrad ihrer Schilderungen geben einem gewisse Hinweise. Zudem vergleiche ich ihre Aussagen mit denen anderer Flüchtlinge, die Ähnliches erlebt haben. Im Bericht gebe ich schliesslich eine Empfehlung ab, ob die Gesuchstellerin mit einer Rechtsberatungsstelle vernetzt werden soll oder nicht. Der Rechtsanwalt kann später unseren Bericht anfordern, um einen ersten Eindruck von dem Fall zu erhalten. 

Nachdem ich den Bericht online gespeichert habe, treibe ich noch etwas Sport – gehe schwimmen oder ins Fitness. Danach lasse ich den Abend in der WG gemeinsam mit meinen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen ausklingen. In seltenen Fällen verfolgt mich eine Anhörung bis in den Abend hinein. Dann hilft es mir, meine Mutter anzurufen und mich ihr anzuvertrauen. Insbesondere die Berichte von Frauen, die von sexueller Gewalt traumatisiert sind, gehen mir tief unter die Haut. Die Frauen erzählen ihre intimsten Erlebnisse, Dinge, die sie sonst niemandem anvertrauen würden. Wenn ich danach abends nach Hause gehe, zurück in meine schöne Wohnung komme, fühle ich mich schon etwas merkwürdig. In solchen Momenten versuche ich mir vor Augen zu führen, dass es den Frauen womöglich ein wenig Linderung verschafft hat, diese Dinge einmal laut aussprechen und benennen zu können. Und natürlich hoffe ich immer, dass diese Frauen hier bleiben dürfen und Hilfe erhalten, anstatt zurück ins Ungewisse geschickt zu werden.»