25.04.2016
FOTO UND TEXT: Julia Antoniou

Die Welt retten durch Verzicht – keine seligmachende Option für unsere Autorin.

Guten Gewissens

Zeitgenössisch sündigen

Eines Tages ist mir fast die Wurst im Hals steckengeblieben. Meldete sich da etwa mein schlechtes Gewissen zu Wort? Ich ging in mich – und fand eine sehr katholische Antwort.

Journalistin «der arbeitsmarkt»

Essen ist die neue Religion. Dies führt mir ein profanes Erlebnis vor Augen, das vordergründig nichts mit Sakramenten und Ritualen zu tun hat. Sondern mit einem Zipfel Wurst. Genau gesagt mit einer Treberwurst aus der Gegend des Bielersees. Ich hatte mir den kleinen Resten zusammen mit meinem Rahmwirz und Bratkartoffeln in der Mikrowelle warm gemacht. Freute mich, ihn mir genüsslich einzuverleiben. «Ich bin Vegetarierin», drang es mir ins Ohr. Es tönte nicht militant, sondern wie eine Heilsverkündung. Doch die Wurst blieb mir fast im Hals stecken. Weil ich schlagartig realisierte: Ich bin die Einzige am Mittagstisch im Büro mit totem Tier auf dem Teller. 

Verlust des Heiligenscheins

Rundherum wurde Salat gegessen. Kalter Fertigsalat aus Wegwerfschalen, mitten im Winter. Weder saisonal, noch klimaneutral. Ich würgte den Resten möglichst unauffällig hinunter. Ich fühlte mich beschämt. Ich, die ich vorwiegend Bio kaufe, im Einklang mit den Jahreszeiten koche, Resten verwerte, Küchen- und Gartenabfälle kompostiere. Mehr noch, ich fühlte mich ertappt. Ertappt wie eine arme Sünderin. Ich realisierte, dass mir der stolz getragene Heiligenschein einer bewussten Konsumentin auf einen Schlag abhandengekommen war. Das katholischste aller Gefühle machte sich bei mir bemerkbar: das schlechte Gewissen. Ich musste in mich gehen.

Gewissensüberprüfung

Ich durchforstete mein Gewissen und ebenso das World Wide Web. Meine Gewissensprüfung umkreiste die Frage: «Versündige» ich mich tatsächlich durch den Verzehr einer Wurst? Bis anhin hatte sich für mich die Frage nicht gestellt: Wenig, aber gut produziertes Fleisch zu essen, war mir vertretbar erschienen. Angesichts der übergrossen Footprints der Fleischindustrie, des Tierwohls und hinsichtlich meiner grossen Lust auf frische Gemüsegerichte und andere fleischlose Spezialitäten. 

Woher also diese Verunsicherung zu einer Frage, die sich noch vor hundert Jahren kaum jemand gestellt hatte? Schlicht und einfach, weil man hierzulande des Winters ohne fettes Fleisch und Käse vermutlich verhungert oder erfroren wäre. Als gute Seelsorgerin erwies sich mir die Ernährungspsychologie: Sie bestätigte mir, was ich seit Längerem diffus wahrgenommen hatte. 

Gut und Böse

Ernährung wird zunehmend zur Ersatzreligion. Vegetarismus oder Veganismus beantworten vielen Menschen die Frage nach Gut und Böse. Durch Verzicht im Namen der Nachhaltigkeit, des Klimaschutzes, des Tierwohls oder der Gesundheit überhöhen viele Zeitgenossen die Ernährung religiös und erlangen dadurch Identität und Zugehörigkeit, erklärt der deutsche Ernährungswissenschaftler Thomas Ellrott in verschiedenen Online-Berichten. Einigen erteile sie gar die Legitimation, missionarisch die Welt zu bekehren. 

Die Erkenntnis

Eine erhellende Erkenntnis. Sie erklärt den geistigen Nährboden, auf dem sich mein schlechtes Gewissen entfalten konnte. Umgeben von Gutmenschen, fühlt sich der Mensch nicht allzu gut. Aber letztlich ist es doch wie vor dem Letzten Gericht: Eine Feder entscheidet, ob die Waagschale nach oben oder nach unten geht. 

Oder mit anderen Worten: Objektiv kann die Frage nach Gut und Böse niemand beantworten. Auch wenn Menschen, die auf Fleisch verzichten, nachweislich das Klima schonen. Doch die Antwort auf viele Fragen bleibt Glaubenssache: zum Beispiel, ob Pflanzen nicht auch empfindsame Lebewesen sind, die man nicht töten dürfte. Ob es Sinn macht, dass der Mensch als Allesfresser auf tierisches Eiweiss verzichtet. Oder ob er ohne die Haltung von Tieren überhaupt überleben könnte, weil wertvoller Dünger für den Boden fehlt.

Darum will ich weiterhin meiner eigenen Religion folgen: der des vernünftigen Genusses. Mit Betonung auf Genuss. Denn dieser scheint – vor lauter Verzicht, um die Welt zu retten – immer mehr auf der Strecke zu bleiben. In diesem Sinne bekenne ich mich als zeitgenössische Sünderin. «Sorry for living», wie die Engländer sagen, wenn keine Entschuldigung hilft.