13.08.2015

Was nicht passt, wird nicht passend gemacht: Unternehmen zeigen wenig Engagement, Geistes- und Sozialwissenschafter zu integrieren.

Studium und Berufsrealität

Wo ein Wille, da kein Weg

Meine Schwester ist sehr intelligent. Sie schliesst gerade ihr Studium der Psychologie ab, ihren zweiten universitären Abschluss. Ihr erster Bachelor: Sozialanthropologie. Sagt Ihnen nichts? Mittlerweile macht sie es kurz, wenn sie erklären soll, was man da eigentlich macht. Oder sich mal wieder für ihr Interesse an den Geistes- und Sozialwissenschaften rechtfertigen muss. Die meisten verlieren sowieso schnell das Interesse, wenn sie hören, dass es um Menschen, Gesellschaften und Kulturen geht. 

Das Problem daran ist weniger, dass Kommilitonen und Kolleginnen das Interesse meiner Schwester nicht teilen. Sondern, dass es auch Arbeitgeber nicht tun. Und das Potenzial einer studierten jungen Frau offensichtlich nicht richtig einzusetzen wissen.

Ein Studium ist ein Studium ist ein Studium

Meine schlaue Schwester arbeitet als Verkäuferin auf Stundenlohnbasis. Nicht, weil sie die «Herausforderung, mit Kunden zu arbeiten» so reizt oder sie sich «in der Textilbranche zuhause fühlt». Sie bekommt schlicht und ergreifend einfach keinen Job, der ihrer Ausbildung entspricht. 

Dabei ist es kein Thema, dass sie nicht arbeiten möchte oder «das Studentenleben» geniessen will. Im Gegenteil: Meine Schwester wünscht sich nichts sehnlicher als einen festen Arbeitsplatz zu geregelten Arbeitszeiten mit regulärer Entlohnung. Stattdessen kämpft sie jeden Monat aufs Neue mit der Doppelbelastung eines berufsbegleitenden Studiums und einem Auskommen, das gerade so der Existenzsicherung Genüge tut. 

Topausgebildete Arbeitnehmende bleiben ungefordert

Eine junge, intelligente, gut ausgebildete, arbeitswillige und lernfreudige Frau bleibt ungefordert. Offensichtlich, weil ihr Studium nicht den Vorstellungen potenzieller Arbeitgeber im sozialen und kulturellen Bereich entspricht. Oder aber das Studium nicht mit der Berufsrealität zu vereinbaren ist?

Immer wieder wird den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften unterstellt, diffus zu sein, nicht der Präzision der Natur- oder Wirtschaftswissenschaften zu entsprechen. Dabei unterscheiden sich Methodik und Didaktik dieser Wissenschaften kaum. Lediglich das Forschungsobjekt, nämlich der Mensch, macht den Unterschied. Und dieser Unterschied ist, dass sich der Mensch eben nicht vollkommen in wissenschaftlichen Parametern erfassen lässt.

Das «Was will ich mal werden, wenn ich gross bin» für Studierte

Das Problem der Gesellschaft und der Arbeitgeber, Studierende dieser Fachrichtungen zu integrieren, ist kein Geheimnis. Universitäre Veranstaltungen wie «Möglichkeiten sehen, Chancen nutzen» motivieren die Studenten, sich schon vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt für eine der vielen in Frage kommenden Branchen wie das Personalwesen, die Beratung, die Kommunikation oder den Kultur- und Kunstbetrieb zu entscheiden. Die zentrale Botschaft der Seminare: «Keiner wartet auf euch. Überlegt euch, in welcher Branche ihr später arbeiten wollt, und kümmert euch drum.»

In Anbetracht dieser Zustände publizierte die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) bereits 2012 ein Pamphlet: «Für eine Erneuerung der Geisteswissenschaften». Es soll zwischen dem grossen Interesse seitens der Studenten und den Vorurteilen und der kritischen Abwertung durch die Wirtschaft vermitteln. Laut Katrin Schütz, Leiterin der Praktikumsbörsen fr Geisteswissenschaftler an der Humboldt-Universität (HU) in Berlin, arbeiten rund 60 Prozent der Geisteswissenschaftler fachfremd. Die anderen 40 Prozent dann wohl fachgerecht. Oder gar nicht?

Kein Platz in der Arbeitsgesellschaft 

Die Frage, ob Geistes-, Sozial- oder Kulturwissenschaften überhaupt noch notwendig sind, muss nicht mehr erörtert werden: Ja, sind sie! Zahlreiche Publikationen behandeln wieder und wieder die Wichtigkeit, die Daseinsberechtigung und das Sich-Ergänzen der Wissenschaften untereinander. Fraglich bleibt nur, ob zigtausend Studenten realitätsfremd ausgebildet werden, um zwangsläufig zu scheitern, sobald es an die Berufsrealität geht. Oder ob Arbeitgeber Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftlern keinen Raum in ihren Unternehmen lassen. 

Ich denke beides. Junge Wissenschaftler wünschen sich während des Studiums keine Hilfe zur Selbsthilfe. Sie wünschen sich eine gute, das heisst auch konkret einsetzbare Ausbildung und Vorbereitung auf die Berufsrealität. Und Unternehmen, die ihre Arbeitskraft und Wissenschaftlichkeit zu schätzen und zu integrieren wissen. Sie wollen nach langer Ausbildung ihre Rolle auf dem Arbeitsmarkt ausfüllen und ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen.

Meine Schwester jedenfalls wünscht sich diese Chance, und sie hat sie auch verdient! Zwei abgeschlossene Studien sind zwei hart erarbeitete Abschlüsse. Dass dafür vor allem die Wissbegierde, der Ehrgeiz und das Durchhaltevermögen nötig waren, die sie regelmässig in Jobinseraten zu lesen bekommt, scheinen Arbeitgeber zu vergessen.