15.11.2016

08/15-Schlümpfe am Arbeitsplatz: ein Zukunftsszenario.

Digitalisierung

Heiteres Beruferaten

Neue Technologien und autonome Systeme bedrohen nicht nur Arbeitsplätze, sondern bringen auch lieb gewonnene Rollenzuschreibungen ins Wanken. Der Beruf, durch den wir uns definieren und nach aussen hin darstellen, ist möglicherweise ein Auslaufmodell.

Journalist «der arbeitsmarkt»

Mit Kittel und Krawatte und einem schwarzen Aktenkoffer eilte mein Vater morgens aus dem Haus. Diese Aufmachung war für den Ausseneinsatz bestimmt, die Berufswelt. Mit dem Zug fuhr er nach Basel, immer erster Klasse. In Basel ging er dann zu Fuss durch die Innerstadt, über die Mittlere Brücke und in sein Grossraumbüro, in dem er zwar nicht der Chef war, aber doch eine wichtige Position innehatte. Es war ein Bereich, der mit Zahlen zu tun hatte, so viel war mir klar. Auf die Frage, was mein Vater beruflich mache, antwortete ich: «Er geht ins Büro.» Und wenn ich gefragt wurde, was er denn mache, wenn er im Büro angekommen sei, antwortete ich: «Etwas mit Zahlen.» 
Andere Kinder hatten für die Berufe ihrer Väter genaue Bezeichnungen: Koch, Bäcker, Bankangestellter, Vertreter, Fliesenleger und so weiter. Eine solche Bezeichnung hatte ich nicht. Die berufliche Tätigkeit meines Vaters liess sich auch nicht in ein prägnantes Bild fassen. Er rührte nicht in einem Topf wie ein Koch. Er strich keine Wände wie ein Maler. Er zog keine Zähne wie ein Zahnarzt. Er fütterte keine Affen wie ein Zoowärter. 

Wollte ich den Beruf meines Vaters in eine fassliche Beschreibung bringen, in ein Bild, das sich vermitteln liess, konnte ich nur das Büro benennen. Und mein Vater sass in diesem Büro an einem Bürotisch und machte dort etwas Büromässiges, genauer beschreiben konnte ich das nicht. Als Bild gab es nicht sonderlich viel her. An einem Bürotisch sitzen und etwas Büromässiges erledigen, das war vielleicht geeignet für einen Loriot-Sketch, aber in der Schule galt man mit dieser Beschreibung nicht unbedingt als jemand, der einen interessanten Vater hatte.

Auf der Wunschliste der Traumberufe rangierte die Büroarbeit ziemlich weit unten. 
Mein Vater sprach selten über seine Arbeit, und das hatte nicht nur mit dieser Wunschliste zu tun. Manchmal erwähnte er meiner Mutter gegenüber Probleme oder besondere Vorfälle, die ihn gerade beschäftigten, weil sie die Routine im Büro durcheinanderbrachten. Dramatische Ereignisse. Dann fielen Wörter wie «Deckungskapital» oder «Beitragsprimat», Wörter, die kein Mensch verstand – auch meine Mutter nicht. 

Fortschreitende Abstraktion

Das ist lange her. Die späten Siebziger waren eine Zeit, in der die einfachen Zuschreibungen noch funktionierten. Die über Vierzigjährigen unter uns erinnern sich vielleicht noch an das TV-Quiz «Was bin ich?» von und mit Robert Lembke. Das heitere Beruferaten kam mit ein paar wenigen Andeutungen aus. «Haben Sie eine weisse Mütze auf?» – «Jawohl.» – «Rühren Sie in einem Topf?» – «Jawohl.» – «Dann sind Sie wohl Koch!» 

Inzwischen wäre das etwas kniffliger. Mit einer Aufzählung einfacher Handlungen und Attribute würde man bei einem heutigen Beruferaten hoffnungslos im Dunkeln tappen. Immer mehr Berufe fallen in jenen Bereich, den ich in meiner Kindheit als «Etwas mit Zahlen» oder «Er geht ins Büro» umschrieben habe. Auch ausserhalb der Grossraumbüros haben viele Tätigkeiten einen Abstraktionsgrad erreicht, der sich jeder direkten Anschauung entzieht. Wie geht ein zukunftsaffiner Schreiner vor, wenn er ein Brett zurechtsägen will? Er betätigt keine Bandsäge und schon gar nicht eine Handsäge. Er tippt am Computer die richtigen Zahlen ein. Den Rest erledigt die CNC-Maschine. Dem äusseren Eindruck nach tut er das Gleiche wie ein Bankangestellter. 

Dass sich die Berufswelt im Zuge der Automatisierung und Digitalisierung nivelliert, während sich gleichzeitig ein Graben auftut zwischen Hochqualifizierten und Abgehängten, ist ein Paradox, mit dem wir uns befassen müssen, wollen wir von dieser Entwicklung nicht überrollt werden. Über die prognostizierbaren Auswirkungen der «digitalen Revolution» debattieren Soziologen, Ökonomen und Zukunftsforscher schon lange. Und oft sehr einseitig.

Es fällt auf, dass im Fokus dieser Debatte vor allem die ökonomisch definierten Subjekte stehen, die Arbeitnehmer und Beschäftigten, und dass von Berufen eher selten die Rede ist. 
In der sich anbahnenden neuen Maschinenwelt gelten Menschen kaum noch als Berufsmenschen. Wenn sie in Erhebungen und Prognosen auftauchen, dann fast nur noch im Rahmen ihrer wirtschaftlichen und technologischen Kompatibilität. Als rechnerische Faktoren. Daneben sinkt der Beruf zur «Quantité négligeable» herab. Wenn nicht sogar zum heimlichen Skandalon.

Der schrumpfende Mensch

Die Rede vom Beruf ist in der Tat problematisch geworden. Mit der Nivellierung äusserer Arbeitsabläufe schreitet die Segmentierung in Teilbereiche und Funktionen mit entsprechend eingegrenzten Fachterminologien immer weiter voran. Tendenziell läuft das auf eine Berufswelt hinaus, in der Arbeitsprozesse nur noch abstrakt zu begreifen sind, als ein Geflecht virtueller Vorgänge, die von ihren Bedienern und ihren Handlungen abgekoppelt erscheinen. 
Spricht jemand über seinen Beruf, schildert er keine verständlichen Handlungen mehr, sondern erläutert abstrakte Manuals.

In dieser Entwicklung hat der Mensch als Darsteller seines Berufs ausgedient. Das Augenfällige und Typische verschwindet. Für das bürgerliche Rollenspiel mit seinem performativen Habitus einer gesellschaftlichen Selbstprofilierung durch Karriere und Arbeitstenü eignen sich heutige Berufe kaum noch. Die Bebilderung durch Medien, aber auch Beschreibungen im Stil von «Der Schreiner ist jemand, der ein Brett zurechtsägt» greifen ins Leere oder zeigen eine Scheinwelt, die längst nicht mehr der Realität entspricht, von der zukünftigen Realität gar nicht zu reden. 

Mehr und mehr Bereiche der Produktion, seien sie nun physisch oder geistig, industriell oder dienstleistungsorientiert, sind sogar darauf ausgelegt, ohne menschliche Steuerung oder Kontrolle auszukommen. Indem nun auch noch der «Kopfarbeiter» verschwindet, erreicht dieser Abstraktionsprozess seinen Höhepunkt. Oder seinen eigentlichen Zielpunkt. Als Nutzer von Interfaces oder als symbolischer Operator kann sich der Mensch vielleicht noch eine Zeitlang mit einer Statistenrolle begnügen, aber die Hauptrolle in diesem Drama spielen schon längst die Maschinen und Algorithmen. Es sieht ganz danach aus, als müssten sich die Freunde des heiteren Beruferatens sehr warm anziehen. Umso mehr, als der Schwund an beruflicher Identität auch ökonomische Ursachen hat. Berufsmenschen sind schlicht zu teuer.

Schöne neue Arbeitswelt

Ich möchte hier ein aktuelles Beispiel anführen. Erst kürzlich hat die Pendlerzeitung «20 Minuten» über ein internes Konzeptpapier der Post berichtet. Es geht darin um das sogenannte Projekt «Marie», ein Pilotprojekt, das in letzter Konsequenz alle Poststellen und Postangestellten überflüssig machen könnte. Es sieht vor, dass Senioren bei sich zuhause «ein Basisangebot an Postleistungen» anbieten sollen. 

Der angedachte Rentner-Postdienst mit schlecht bezahlten und nur gering qualifizierten Arbeitskräften ist keine Schnapsidee. Es ist die Zukunft. Eine Zukunft, die von Patchwork-Jobs, Mikrounternehmen und nomadischen Arbeitsmodellen bestimmt sein wird. Grob gesagt: weg vom Beruf, hin zu frei flottierenden Funktionen. Zukünftige Kinder werden vielleicht gute Gründe haben, die Berufe ihrer Väter und Mütter nicht zu kennen. Die Erfüllung einer Funktion ist ja noch kein Beruf, selbst wenn damit ein stattliches Gehalt verbunden ist. Der Beruf, dem der Beiklang von «Berufung» nun mal nicht auszutreiben ist, verleiht Konturen und Identität. Er lässt sich gestalten wie eine Bühnenrolle, in die sich der Schauspieler einbringt, um sich selbst und sein Rollenspiel in einen unverwechselbaren Einklang zu bringen. 
Wenn dies aber nicht mehr möglich ist und das berufliche Narrativ verkümmert: Was bleibt dann noch übrig? Die Flucht nach vorn? 

Wem es gelingt, mit einer ausgebufften Idee eine schlummernde Nachfrage zu wecken, der hat den Eignungstest für die schöne neue Berufswelt vielleicht schon bestanden. Und kann sich auch noch damit brüsten, etwas Kreatives und Individuelles zu machen. Etwas, das niemand sonst macht. 
Junge Menschen gehen hier gerne mit gutem Beispiel voran. Und sie tun es genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn eines haben viele von ihnen begriffen: In Zukunft wird die Erschaffung eines beruflichen Selbstverständnisses jedem von uns selbst überlassen sein.

Ob das gut oder schlecht ist, wissen die Götter. Aber wer es irgendwie hinbekommt, sich seinen eigenen Beruf zu basteln, erschliesst sich Identifikationsmöglichkeiten, die im Mainstream der Berufswelt kaum noch gefragt sind. Andrea lässt sich für Kindergeburtstage als lebensgrosse Prinzessin engagieren. Carla sorgt als professionelle Kuschlerin für die richtige Dosis Streicheleinheiten. Valentin lebt von Quizspielprämien. Und vergessen wir nicht den genussfreudigen Felix: Er verdingt sich als Tierfutter-Vorkoster ... Nun denn, an die Arbeit.