21.11.2017
FOTO UND TEXT: Zoltan Tamassy
Über Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn wird in Schweizer Zeitungen zu wenig berichtet

Über Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn wird in Schweizer Zeitungen zu wenig berichtet.

Ostmitteleuropa und Schweizer Zeitungen

Am falschen Ende gespart

Die politische und wirtschaftliche Bedeutung von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn nimmt zu. Diese Entwicklung betrifft auch die Schweiz. Dennoch vernachlässigen hiesige Zeitungen die Berichterstattung über Ostmitteleuropa. Das ist ein Fehler.

Wirtschaftliche Erfolgsnachrichten aus Ostmitteleuropa, bestehend aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, sind nichts Ungewöhnliches. Dank des hohen Bildungsniveaus ihrer Bürger bei gleichzeitig tiefen Lohnstückkosten haben sich die auch als Visegrád-Gruppe bekannten Länder längst zur verlängerten Werkbank vieler westeuropäischer Firmen entwickelt.

Zwar liegen die Visegrád-Staaten ökonomisch noch hinter Westeuropa zurück. So hatten 2016 die fast 64 Millionen Menschen der Region in etwa dieselbe Wirtschaftsleistung erbracht wie zum Beispiel die rund 19 Millionen Bayern und Hessen. Aber die Ostmitteleuropäer holen auf, in den vergangenen drei Jahren lag das Wirtschaftswachstum in allen vier Ländern teilweise wesentlich über dem Schnitt der Europäischen Union (EU).

Der EU-Kommission die Stirn geboten

Politisch gewinnen die Visegrád-Staaten ebenfalls an Stärke. Ein Grund dieses Machtzuwachses ist im ökonomischen Aufholprozess zu sehen. Andererseits darin, dass die vier Länder seit der Flüchtlings- und Migrationskrise 2015 politisch stärker miteinander kooperieren. Es darf angenommen werden, dass die von der EU-Kommission forcierte automatische Flüchtlingsverteilung nicht zuletzt wegen vehementer Proteste aus Ostmitteleuropa wohl nicht zustande kommen wird.

Beim Zusammenrücken im Osten der EU geht es jedoch nicht nur um die aussereuropäische Zuwanderung. Ein Grossteil der regionalen Bevölkerung empfindet sich als EU-Bürger zweiter Klasse. Bei den Löhnen vor Ort, bei der Qualität der nach Ostmitteleuropa eingeführten Konsumgüter, überall werde man benachteiligt. Auf der Traktandenliste der Treffen der Visegrád-Regierungschefs nimmt das Thema inzwischen einen prominenten Platz ein.

Schliessen sich Warschau, Prag, Bratislava und Budapest – trotz einigen Differenzen – in Einzelfragen vermehrt zusammen, könnte die Visegrád-Gruppe sogar zu einem einflussreichen Block innerhalb der EU werden. Die Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn werden selbstbewusster, sie werden auf EU-Ebene vermutlich zunehmend wichtige Impulse setzen.

Zoltan Tamassy, Journalist «der arbeitsmarkt», ist in der Schweiz geboren und hat ungarische Wurzeln. Nach einem BWL-Studium an der Universität Zürich war er insgesamt zehn Jahre lang als Finanz- und Wirtschaftsjournalist für Schweizer Medien tätig. Zwischenzeitlich absolvierte der heute 46-Jährige ein weiteres Studium: Mitteleuropäische Studien an der deutschsprachigen Andrássy-Universität in Budapest. Hier befasste er sich insbesondere mit der Geschichte, den politischen Systemen, der Wirtschaft, den Gesellschaften und der Kultur des ostmitteleuropäischen/südosteuropäischen Raums.

Diese Entwicklung betrifft auch die Schweiz, ist sie doch über das bilaterale Vertragswerk mit der EU eng mit Polen, Tschechien, der Slowakei sowie Ungarn verbunden. Zudem lassen viele Schweizer Unternehmen in der Region produzieren, liefern Halbfertig- und Fertigprodukte sowie Dienstleistungen. 

Der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Visegrád-Länder tragen schweizerische Medien allerdings kaum Rechnung, wie der Blick in das Online-Impressum von grossen Tageszeitungen zeigt.

Der «Tages-Anzeiger» zum Beispiel führt Florian Hassel auf, der von Warschau aus über die Region schreibt. Allerdings ist er eigentlich der Ostmitteleuropa-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung», mit welcher der «Tages-Anzeiger» redaktionell kooperiert. Ebenfalls von der polnischen Hauptstadt aus verfasst Paul Flückiger seine Artikel, und zwar für die «Basler Zeitung».

Von Wien und von Zürich aus

Die «Neue Zürcher Zeitung», die häufig wegen ihres dichten Korrespondentennetzes gelobt wird, hat keinen einzigen ständigen Reporter vor Ort. Berichtet wird über die vier Länder von Wien und von Zürich aus. Weder im Impressum der «Aargauer Zeitung», des «St. Galler Tagblatts» noch der «Luzerner Zeitung» erscheint der Name eines Ostmitteleuropa-Korrespondenten.

Um der Leserschaft ein gewisses Verständnis der Politik, der Gesellschaft und Kultur einer Region zu ermöglichen, muss eine Zeitung nicht gleich ein ganzes Redaktionsbüro vor Ort haben. Vielfach genügt es, die Dienste von freischaffenden Korrespondenten in Anspruch zu nehmen.

Wie wenig die oben genannten Medien, deren Auslandsberichterstattung wesentlich zur Meinungsbildung beim Schweizer Stimmvolk beiträgt, ausgerechnet an Ostmitteleuropa-Korrespondenz zu bieten haben, erstaunt aber. Dies könnte man als eine Unterschätzung der stetig wachsenden politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Visegrád-Gruppe deuten. Anders formuliert: am falschen Ende gespart.

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