29.09.2016

Pascal Gut, im Einsatz als Filmkritiker für die Redaktion «der arbeitsmarkt» am 12. Zürich Filmfestival.

Zürich Filmfestival

Vielfältige Lebenswirklichkeiten

Das 12. Zürich Filmfestival bietet ein reichhaltiges Programm abseits der grossen Hollywood-Produktionen. «der arbeitsmarkt» stellt vier Filme vor, in denen Beruf und Arbeit eine wesentliche Rolle spielen.

Der Patron ist tot

Die Belegschaft der Firma «Maquinaria Panamericana» hat es sich über die Jahre an ihrem Arbeitsplatz gemütlich gemacht. Wirklich geschäftig ist hier niemand. Klingelt das Telefon, wird der Anruf ganz einfach an den Nächsten weitergeschaltet. Von Produktivität keine Spur. Kein Wunder also ist die Firma inzwischen bankrott. Die Löhne werden schon lange vom Firmeninhaber Don Alejandro aus der eigenen Tasche bezahlt. Als dieser jedoch eines Tages tot in seinem Büro aufgefunden wird, bricht unter den Angestellten Panik aus. Sie schliessen kurzerhand die Tore zur Aussenwelt und versuchen, Don Alejandros Tod geheim zu halten, während sie nach einem Weg suchen, die Firma noch zu retten. 

«Maquinaria Panamericana» ist das Spielfilmdebüt des mexikanischen Regisseurs Joaquín del Paso – eine skurrile und liebenswürdige Komödie. Der Film erzählt von einer Gesellschaft, die ihre Augen vor der Wirklichkeit verschliesst und sich einer Auseinandersetzung mit ihr verweigert. Del Pasos Film verkündet das Ende des Unternehmertums als einer Art Grossfamilie, in der die Mitarbeitenden den Grossteil ihres Erwerbslebens verbringen und sich mit der Firma identifizieren. In der modernen Arbeitswelt muss der väterliche Patron Managern, Investoren und Aktionären weichen, die das Unternehmen nach den Prinzipien der Effizienz- und Produktivitätssteigerung führen.

Diesen Abgesang inszeniert Joaquín del Paso mit anarchischem Witz und einem herrlich schrägen Figurenensemble.

Foto: TMDb.pro®

Maquinaria Panamericana
Regie: Joaquín del Paso
Besetzung: Javier Zaragoza, Ramiro Orozco, Irene Ramírez
Genre: Tragikomödie
Land, Jahr: Mexiko, 2016
Kamera: Fredrik Olsson

 

Auf dem Strassenstrich in Rumänien

Lidia, die Mutter zweier Kinder, hält die gerupfte Taube mit blosser Hand ins Feuer ihres Gasherds, wendet sie hin und her. Dieses eindringliche Bild sagt mehr als tausend Worte und lässt die Zuschauer erahnen, in welch sozialer Not sich Lidia und ihre Familie befinden. Kurz darauf fährt sie mit ihrer Kollegin Denisa mit dem Bus zu einer Autobahnauffahrt in der Nähe von Bukarest. Hier herrscht ein eisiger Wind. Die beiden unscheinbaren Frauen suchen einen Platz abseits der Strasse, um sich umzuziehen. Ihre dicken Pullover tauschen sie gegen körperbetonte Tops, die Schuhe gegen High Heels. Schliesslich stellen sie sich unter der Autobahnbrücke an den Strassenrand und warten auf vorbeifahrende Freier.

Die junge Vanessa ist ebenfalls auf der Suche nach Kundschaft – eine unliebsame Konkurrenz für Lidia und Denisa. In Rumänien ist Prostitution verboten, weswegen die drei Frauen wenig erfreut sind, als zwei Polizisten auftauchen und sie kontrollieren. Die beiden Beamten erklären, dass sie das Geld, das die Frauen an diesem Tag verdient haben, beschlagnahmen müssten. Denisa und Lidia beschuldigen die Polizisten, das Geld in die eigene Tasche zu stecken, und drohen damit, sie zu melden. Die Situation eskaliert.

«Vanatoare» ist ein durch und durch trostloser Film, der keinen Hoffnungsschimmer zulässt. In streng dokumentarischem Stil folgt die Kamera den drei Frauen, über die wir nur sehr wenig erfahren. Minimalistisch in Bezug auf Inhalt, Dramaturgie und Inszenierung, sind die 75 Minuten Film alles andere als unterhaltsam. 

Erst als im letzten Drittel die Polizisten die Szenerie betreten, kommt für einen kurzen Moment so etwas wie Spannung auf. Hier sind es nicht in erster Linie die Freier, welche die Frauen ausbeuten, sondern die Polizeibeamten. Alexandra Balteanus Film ist ein Appell gegen die gesellschaftliche und rechtliche Stigmatisierung der Prostituierten. Der jungen Regisseurin gelingt es, die soziale Kälte und Ausweglosigkeit, in der sich ihre drei Protagonistinnen befinden, für das Publikum spürbar zu machen. Ob man sich als Zuschauer darauf einlassen mag, ist allerdings eine andere Frage.

Foto: TMDb.pro®

Vanatoare
Regie: Alexandra Balteanu
Besetzung: Corina Moise, Iulia Lumanare, Iulia Ciochina
Genre: Drama
Land, Jahr: Deutschland, 2016
Kamera: Matan Radin

 

Der dichtende Busfahrer

Paterson ist ein junger Busfahrer in Paterson, New Jersey. Er führt ein ruhiges, von gleichbleibender Routine geprägtes Leben. Zusammen mit seiner Frau möchte er bald eine Familie gründen. In seiner Freizeit verfasst Paterson Gedichte und geht allabendlich mit dem Hund, Marvin, Gassi. Bei einem Bier in der nahegelegenen Bar lässt er den Abend jeweils ausklingen. Eines Tages durchbricht ein unvorhergesehenes Ereignis die tägliche Routine – Patersons Bus bleibt plötzlich mitten auf der Strasse stehen und muss abgeschleppt werden. 

1991 brachte Jim Jarmusch mit «Night on Earth» seine Liebeserklärung an die Taxifahrer dieser Welt ins Kino. Fünfzehn Jahre später nimmt er sich nun des Busfahrers an. Gemütlich, langsam und auch etwas schwerfällig kurvt der Bus durch die Strassen, genauso wie sich Adam Driver in der Rolle Patersons durch seinen Alltag bewegt. Sanft und liebenswürdig kommt der 1,89 Meter grosse Hauptdarsteller daher, der vor kurzem noch den postpubertären Bösewicht im neuesten «Star Wars»-Film gespielt hat. Nein, dieser Paterson kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Sein Alltag ist so gleichbleibend wie die Route, die er mit dem Bus abfährt. Immer zeitgleich von A nach B.

Es sind vor allem die sympathischen Nebenfiguren, die mit ihren kleinen Geschichten und den Jarmusch-typischen Dialogen für Abwechslung und lakonischen Witz sorgen. Jim Jarmusch ist mit «Paterson» ein zauberhafter Film voller sanften Humors gelungen, welcher der Poesie des Alltäglichen gewidmet ist.

Foto: TMDb.pro®

Paterson
Regie: Jim Jarmusch
Besetzung: Adam Driver, Golshifteh Farahani, Barry Shabaka Henley
Genre: Drama
Land, Jahr: USA, 2016
Kamera: Frederick Elmes

 

Eindrücke aus aller Welt

Kirsten Johnson arbeitet seit 25 Jahren als Dokumentarfilmerin. «Cameraperson» stellt Johnsons filmische Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Schaffen als Kamerafrau in Form einer vielfältigen Collage dar. Kommentarlos wechseln sich kürzere und längere Sequenzen aus Bosnien, Nigeria, Darfur, Liberia und den USA ab. In Bosnien besucht sie Kriegsopfer und folgt den Spuren sexueller Gewalt, während sie in Darfur vertriebenen Frauen auf der Suche nach Feuerholz begegnet und in Nigeria eine Hebamme bei ihrer Tätigkeit in einer Geburtsklinik porträtiert. Gespräche mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter sowie Aufnahmen ihrer Kinder beleuchten ihre privaten Beziehungen. 

Im Kern dreht sich «Cameraperson» um die Beziehung zwischen der Frau hinter der Kamera und den Menschen, die sie filmt. Welche Verantwortung trägt die Filmemacherin gegenüber den Menschen vor der Kamera? Was darf sie zeigen, und wo zieht sie eine Grenze? 

Es sind starke, oft überraschende, manchmal auch irritierende Szenen, die Kirsten Johnson in ihrem Film aneinanderfügt: der Boxer, der nach dem verlorenen Kampf in der Umkleidekabine wütend um sich schlägt und schliesslich Trost in den Armen seiner Mutter sucht. Das Bild vertriebener Frauen in Darfur, die in ihre Tücher eingehüllt mit Äxten auf den Stamm eines abgestorbenen Baumes einhacken und dabei, von trotzigem Lachen begleitet, über die arabischen Soldaten fluchen. Oder die nachdenklichen Worte einer Bosnierin, welche die Geschichten der Opfer sexueller Gewalt im Krieg zusammenträgt und von Albträumen verfolgt wird. 

Als Filmende findet sich Kirsten Johnson mehrfach in Situationen wieder, in denen es ihr schwerfällt, in der Rolle der Beobachterin zu verharren. Sei dies, wenn ein kleiner Junge draussen vor einem Bauernhof mit einer Axt spielt, eine junge Frau, die sich für ihre ungewollte Schwangerschaft schämt, vor der Kamera in Tränen ausbricht oder wenn sie Zeuge wird, wie ein Neugeborenes in einer nigerianischen Geburtsklinik unter Sauerstoffmangel mit dem Tod ringt. Die Szene mit dem Baby dauert rund drei Minuten. Die Hebamme erklärt, das Kind müsse an ein Sauerstoffgerät angeschlossen werden, doch die Klinik besitze keines. Die Hilflosigkeit der Kamerafrau greift in diesem Moment auf das Publikum über. Man möchte etwas tun, möchte eingreifen, kann aber letztlich nur wählen, ob man hinsieht oder wegschaut – eindrücklich.

Foto: TMDb.pro®

 

 

Cameraperson
Regie: Kirsten Johnson
Genre: Dokumentarfilm
Land, Jahr: USA, 2016
Kamera: Kirsten Johnson