11.05.2021
TEXT: Markus SulgerFOTO: Shutterstock / Dmytro Tyshchenko
Pilzkultur im Labor

Eine Pilzkultur wuchert im Labor.

Pilze: Die Alleskönner

Ohne Pilze könnten wir weder Bier brauen noch Brot backen. Aber auch keinen Käse essen, kein Penicillin und keinen Kompost herstellen. Ja vermutlich würde die Menschheit ohne Pilze gar nicht existieren. Pilze sind nämlich die eigentlichen Herrscher der Welt und haben Leben auf unserem Planeten überhaupt erst möglich gemacht.

Der britische Wissenschaftsphilosoph und Biologe Merlin Sheldrake denkt in «Verwobenes Leben» über Pilze nach. Nicht über Steinpilze und Eierschwämmli – die sichtbaren Fruchtkörper der Pilze –, sondern über die im Verborgenen wuchernden Mycel-Netzwerke. Ein Grossteil der Pflanzen ist über diese unterirdischen Zellnetzwerke der Pilze miteinander verbunden und tauscht auf diesem Weg unablässig Nährstoffe und Informationen aus. Ein einzelner Pilz kann sich über eine Fläche von mehreren Fussballfeldern erstrecken und Hunderte Tonnen wiegen. So erstaunt nicht, dass das grösste Lebewesen der Erde weder ein Blauwal noch ein Mammutbaum ist, sondern ein Hallimasch-Pilz im US-Bundesstaat Oregon, der ein Gebiet von neun Quadratkilometern besiedelt und schätzungsweise 2400 Jahre alt ist.

Es geht um Grenzen in diesem Buch ­– beziehungsweise darum, wie Grenzen sich verschieben und auflösen, wenn man über Pilze und ihre Interaktion mit der Umwelt nachdenkt. Als philosophisch geschulter Biologe vollzieht Sheldrake den Grenzübertritt ins magische Reich der Pilze auf allen Ebenen und bringt dabei vermeintliche Gewissheiten ziemlich ins Wanken. 

«Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?»
Die Abgrenzung von Arten, ja sogar von einzelnen Individuen beginnt zu verschwimmen angesichts der Vielzahl symbiontischer Verbindungen und gegenseitiger Abhängigkeiten. Wo beginnt ein Organismus, wo hört er auf? Während der ersten 50 Millionen Jahre ihrer Evolutionsgeschichte hatten Pflanzen beispielsweise keine Wurzeln, sondern taten sich stattdessen mit Mycel-Netzwerken zusammen. Während die Pflanze Sonnenlicht mittels Photosynthese in Energie umwandelte, konnte der Pilz Wasser und Mineralstoffe aus der Umgebung aufnehmen und diese wiederum seinen pflanzlichen Symbiosepartnern zugänglich machen. Ohne Pilze wäre also vermutlich nie Leben an Land entstanden. Aber auch tierische Organismen – wie der Mensch – stehen in enger Verbindung mit Pilzen. Ein gesunder Erwachsener teilt seinen Körper mit etwa 39 Billionen Mitbewohnern: Bakterien, Viren und – eben – Pilzen. Die meisten dieser Mikroorganismen leben im Darm und waren unter dem Namen Mikrobiom die biologischen Shootingstars der letzten Jahre. Die winzigen Lebewesen besiedeln ausserdem Haut, Atemwege und Schleimhäute, wo sie die erste Verteidigungslinie unseres Immunsystems bilden. Wir sind also Symbiosepartner einer bunten Schar von Mikroben, deren Gesamtzahl deutlich höher ist als die unserer «eigenen» Körperzellen – was wiederum ziemlich grundlegende Fragen aufwirft.

Unterschätzte Überlebenskünstler 
Pilze sind also ziemlich wichtig für das Leben auf unserem Planeten und wahrscheinlich eine der wenigen Konstanten: Zumindest haben sie im Laufe der Jahrmillionen nicht weniger als fünf Massenaussterben überlebt. Im Gegensatz zu Flora und Fauna sind Pilze jedoch kaum erforscht – bis vor etwa 40 Jahren galten sie einfach als Pflanzen. Angesichts der völligen Andersartigkeit und der erstaunlichen Fähigkeiten der Pilze mag das erstaunen. Die Gründe für unsere «Pilzblindheit» verortet Sheldrake einerseits in unserer anthropozentrischen Sichtweise, welche die fremde Welt der Pilze kaum erfassen kann. Zum anderen spielt sich das Wirken der Pilze weitgehend im Dunkeln ab: im Boden unter unseren Füssen. Wir tun allerdings gut daran, die tragende Rolle der Pilze besser zu verstehen. Denn Pilze könnten ein wesentlicher Baustein zur Lösung einer ganzen Reihe menschengemachter Probleme sein. Pilze bauen Kunststoffe, Pestizide, Rohöl und sogar radioaktive Strahlung ab. Sie könnten Beton und Holz als Baumaterialien ersetzen, kompostierbare Verpackungen liefern oder bei chirurgischen Eingriffen als Hautersatz dienen. Aus Abfall lassen sich innert weniger Tage Hunderte Quadratmeter eines täuschend echten Kunstleders aus Mycel oder Baustoffe für Möbel züchten. Viele dieser Ansätze und Innovationen gehen auf die Forschungsarbeit autodidaktischer Pilzenthusiasten zurück. Die offizielle Wissenschaft nimmt diese Erkenntnisse aber seit einiger Zeit verstärkt auf. In der Netzwerktechnologie dienen Mycel-Netzwerke mittlerweile ebenso als Grundlage wie in der Neurologie. 

Sheldrake sieht gar einen ganz neuartigen Wissenschaftszweig aufblühen – weltweit vernetzt, anschlussfähig und adaptiv wie ein Mycel-Netzwerk. Tatsächlich gelingt ihm nicht nur das Kunststück, sein schwer zu fassendes Thema schlüssig und flüssig darzulegen. Vielmehr regt er seine Leser zu einem radikalen Perspektivenwechsel und – nicht zuletzt – ein wenig Demut an. Wir folgen ihm gerne auf dieser Mission: Begeistert robbt Sheldrake im Dschungel von Panama durch den Dreck, er sucht Trüffel in Oregon und in der Toskana, schmort im japanischen Gärungsbad in der «wilden Energie der Zersetzung» und experimentiert mit allerlei pilzbasierten Halluzinogenen. Pilzforschung ist offenbar auch eine ziemlich kurzweilige Sache. 

Umschlagbild "Verwobenes Leben"

Merlin Sheldrake

Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. 

Ullstein Berlin, 2020, ISBN 978-3-550-20110-3

Hardcover, 464 Seiten 

gebundene Ausgabe, Fr. 40.–