07.01.2021
TEXT: Martin GrafFOTO: Annette Boutellier, Sabine Cattaneo, Karin Scheidegger

Laut und schrill. Frauenstreik am 14. Juni 2019 in Bern.

Fotobuch: Schweizer Geschichte im Bild

Der Frauenstreik als historisches Zeitdokument

Über eine halbe Million Frauen und Männer gingen am Frauenstreik im Juni 2019 auf die Strasse und protestierten für eine rasche Umsetzung der Gleichstellung. Es war die grösste politische Aktion in der Schweizer Geschichte seit dem Generalstreik im Jahr 1918.

«Wir kämpfen, bis wir frei sind, Go Vagina, Jahrgang 1929 – es eilt», «Men of quality don’t fear equality» oder «Votre silence ne vous protégera pas». Die Botschaft ist klar und unmissverständlich. Wir sind laut, wir sind entschlossen, wir zeigen uns kämpferisch. Etliche farbige Plakate mit Aufschriften solcher Slogans stechen aus der Masse heraus und ziehen die Blicke gekonnt auf sich. Sie sind verkleidet als Heldinnen, fahren mit dem Traktor durch die Langstrasse oder stehen als Helvetia vor dem Bundeshaus. Die Stimmung ist bunt und ausgelassen. Mitten unter die Protestierenden mischen sich 32 Fotografinnen und halten dabei die Augenblicke bildlich fest.

Heldinnen unterwegs in Bern (Foto: Karin Scheidegger)

Die Berner Fotografin Yoshiko Kusano hatte im Vorfeld die Idee, dieses historische Ereignis umfassend zu dokumentieren, und stiess damit auf grossen Anklang bei ihren Berufskolleginnen. In nur wenigen Tagen formierte sich eine Gruppe von über 30 Fotografinnen, um den Streik aus möglichst vielen Perspektiven einzufangen. Neben Hotspots wie Bern und Zürich richtete sich das Augenmerk dabei auch auf kleinere Dörfer und Anlässe. Trotz vorgängigen Gesprächen mit den wichtigsten Medien des Landes und der Abmachung, prioritär den Fotos der organisierten Streikfotografinnen den Vorzug zu geben, wurden bis auf ein paar Ausnahmen nur wenige dieser Aufnahmen veröffentlicht. Viele dieser Medien bezogen ihr Bildmaterial bei den üblichen Kanälen und Agenturen. Durch die gemeinsame Aktion entstand jedoch eine Verbindung unter den Fotografinnen. So war da diese anhaltende Euphorie, dieses Gemeinschaftsgefühl, das dieser Streik ausgelöst hatte. Angetrieben von dieser Dynamik untereinander, entstand so ein emotional bildstarkes Fotobuch dieses geschichtsträchtigen Tages.

Auch in Lugano protestieren Menschen (Foto: Sabine Cattaneo)Die 126 meist farbigen Abbildungen, verteilt auf 140 Seiten, zeigen eindrücklich die Solidarität und den Zusammenhalt der unterschiedlichen Generationen und Geschlechter. Das gestalterische Konzept des Fotobuchs ist schlicht und klar unterteilt. Auf den einleitenden Seiten wurden sechs Frauen ausserhalb des Kollektivs dazu eingeladen, ihre persönlichen Erlebnisse und Emotionen des Streiks zu verschriftlichen. Dazu gehören Persönlichkeiten wie beispielsweise Vania Alleva, Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Bern, die Zürcher Rapperin Big Zis oder Katharina Prelicz-Huber, Nationalrätin Grüne. Die Fotografinnen selbst schildern zudem ihre Eindrücke und Gefühle an diesem Tag. Den Hauptteil bilden die farbigen Aufnahmen, die den Frauenstreik in seiner ganzen Form und Bandbreite zeigen. Von Porträts über Details bis hin zu Übersichts- und Stimmungsbildern wurde alles mit dem nötigen Fingerspitzengefühl abgelichtet – ganz aus der Sicht von Frauen. Ein schönes Detail und Element ist zudem die feine, violette Fadenheftung, die sich durch dieses Fotobuch zieht, sinnbildlich für die dominierende Farbe dieses Streiks.

Das Werk ist ein ausdrucksstarkes Fotobuch mit Reportagecharakter, das den unbedingten Willen nach Veränderung eindrücklich aufzeigt und deutlich macht. Wer sich für zeitgenössische, politisch bedeutsame und dokumentarische Fotografie mit Schweizer Bezug interessiert, dem sei dieser Fotoband wärmstens empfohlen. Dieses Ereignis brachte ein eindrückliches Zeitdokument hervor, das den historischen Moment rund um das Thema Gleichstellung optisch festgehalten hat.

Yoshiko Kusano, Francesca Palazzi, Caroline Minjolle (Hg.)

Wir Fotografinnen am Frauen*streik

140 Seiten

Schweizer Broschur mit offener Fadenheftung, 20,5 × 27 cm

© 2020 Christoph Merian Verlag

CHF 34.– / EUR 32.–, ISBN 978-3-85616-934