15.02.2016

Hohe Belastung am Arbeitsplatz ist oft mitverantwortlich für eine psychische Erkrankung.

Wenn die Psyche streikt

«Jeder Betrieb sollte ein Konzept zur psychischen Gesundheit haben.»

Im Spannungsfeld Arbeit und psychische Gesundheit hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Viel mehr müsste aber laut Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, noch geschehen, um das Thema gesellschaftsfähig zu machen.

Thomas Ihde, Sie sind Leiter der psychiatrischen Dienste der Spitäler fmi in Interlaken, Präsident der Stiftung Pro Mente Sana und Dozent an der Universität Freiburg. Was tun Sie, damit Ihre Psyche nicht streikt?
Einiges. Regelmässig leite ich Trekkings in der Wüste von Oman. Wenn ich zu Hause bin, gehe ich möglichst oft in den Bergen wandern. Auch bei der Arbeit achte ich darauf, mein Stresslevel und meinen Energieverbrauch tief zu halten.

Wie machen Sie das?
Jetzt gerade zum Beispiel könnte ich ständig darüber nachdenken, was Sie von meinen Aussagen halten, könnte mich ständig kritisch hinterfragen. Hab ich das so richtig formuliert? Wie wirke ich? Würde ich das tun, wäre mein Stresslevel und damit mein Energieverbrauch ziemlich hoch. Wenn ich mich aber einfach auf die Situation einlasse und ganz im Moment bin, dann ist mein Energieverbrauch gering.  

Damit ist der Terminkalender aber nicht weniger voll. Welche weiteren Aspekte fördern Ihre psychische Gesundheit?
Ich mache meine Arbeit gerne. Einen Sinn in seiner Arbeit zu sehen, die sogenannte Passung, ist wesentlich für die psychische Gesundheit. Ich bin ein Emmentaler Käsersohn in fünfter Generation. Würde ich Käse machen, wäre ich nicht so glücklich und damit eher gefährdet, in psychische Belastungssituationen zu geraten. Mein Cousin hingegen, der die Käserei heute führt, würde sich dafür in meinem Beruf eher gestresst fühlen, ist dafür in der Käserei sehr zufrieden. Stimmt die Passung, stressen auch höhere Belastungen nicht so sehr.

Was können Personen tun, wenn ihre Passung nicht ausreichend hoch ist?
Sie sollten sich vielleicht überlegen, etwas anderes zu tun oder den Arbeitgeber zu wechseln. Wenn das, aus welchen Gründen auch immer, nicht so einfach ist, können sie auch versuchen, einen privaten Ausgleich zu finden, quasi eine Aufgabe oder ein Hobby, das ihnen die Sinnhaftigkeit gibt, die im Job fehlt. Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit einem jungen Portugiesen, der sagte, seine Arbeit gefalle ihm überhaupt nicht. Da er aber in seiner Freizeit den Nachwuchs seines Fussballclubs trainiert, spielt das keine so grosse Rolle für ihn. Er holt sich seinen Sinn dort. Gewisse Situationen können die Passung etwas zur Seite schieben. Junge Eltern sind oft sehr stressbelastet. Dennoch halten sie über eine Zeit auch eine geringe Passung im Job aus, einfach weil die Versorgung der Familie im Vordergrund steht. Eine Rolle spielt da sicher auch, dass die Situation eine vorübergehende ist.

Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Buchautor
Foto: zVg.

Thomas Ihde-Scholl hat in Basel und Genf Medizin studiert. In den USA liess er sich zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie ausbilden. Bevor er 2007 die Leitung der psychiatrischen Dienste der Spitäler fmi in Interlaken übernahm, war er mehrere Jahre in Alaska und in Winterthur tätig. Er ist Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, Dozent an der Universität Freiburg und leitet Trekkings in den Bergen und in der Wüste von Oman.

Sind bestimmte Berufsgruppen gefährdeter, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, als andere?
So pauschal ist das schwer zu sagen. Prinzipiell kann ich aber festhalten, dass Menschen, die wenig Abwechslung und Entscheidungsmöglichkeiten haben – wie etwa Reinigungsfachkräfte –, eher gefährdet sind als solche, die viel Freiheit und Abwechslung im Job haben, also Manager beispielsweise. Oder Landwirte. Sie sind laut einer Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) die am wenigsten gestressten Berufstätigen in der Schweiz. Natürlich spielen nicht nur die obengenannten Faktoren eine Rolle. Bei der Arbeit sollten eine ganze Reihe von psychosozialen Schutzfaktoren erfüllt sein.

Zum Beispiel?
Mitspracherecht, Respekt, Entwicklungsmöglichkeiten und natürlich die Betriebskultur. Einen positiven Einfluss auf diese haben vorrangig Vertrauen, Ehrlichkeit, Toleranz und Fairness. Sind diese vier Voraussetzungen gegeben, kann ich mich als Mitarbeiter entspannen, mein Hirn ist nicht ständig im «Achtung, Gefahr!»-Modus. Stattdessen aktiviere ich das Belohnungssystem und die Bindungszentren im Hirn. Das ist wie Vitamine fürs Gehirn. Ein weiterer, eng mit der Betriebskultur verbundener Faktor ist der Führungsstil. 

Ein guter Chef ist also auch gut für die psychische Gesundheit?
Er trägt mindestens massgeblich zu einem gesunden Betriebsklima bei. Neben Verlässlichkeit und Klarheit in der Führung sind Softskills wie Wertschätzung entgegenbringen, grosszügig sein und gut kommunizieren können sehr wichtig. Der Chef hat ausserdem einen grossen Einfluss darauf, welche Tonalität im Betrieb herrscht. Toleriert er zum Beispiel, dass über psychische Erkrankungen abfällige Sprüche gemacht werden, ist das für betroffene Mitarbeitende natürlich ein Desaster. Das Thema ist ja sowieso kein einfaches und immer noch stark tabuisiert. 

Warum ist das so?
Vorurteile und Halbwissen spielen eine grosse Rolle. Tatsächlich wissen auch wir Fachleute immer noch sehr wenig über psychische Erkrankungen. Hinzu kommt, dass sie nicht sichtbar sind und wir sie nicht messen können. Wenn ich ein Bein gebrochen habe und mit dem Gips an Krücken ins Büro komme, werde ich fast automatisch darauf angesprochen. Jeder kann sehen, dass ich eingeschränkt bin, und wird darauf in der Regel auch Rücksicht nehmen. Ein weitverbreiteter Trugschluss ist, dass Betroffene psychische Erkrankungen mit reiner Willenskraft beherrschen können. Übertragen wir diese Idee einmal auf physische Krankheit, erkennt jeder, dass das Blödsinn ist. Tuberkulose kann auch niemand mit blossem Willen besiegen. Und doch sagen sich gerade Betroffene selber ständig: «Jetzt reiss dich doch mal zusammen, das kann doch gar nicht sein, dass du das nicht mehr hinkriegst.» 

Wie ist die Situation heute in der Schweiz?
Die Entwicklung in den vergangenen zwei bis drei Jahren war enorm. Im Moment passiert sehr viel. Die Invalidenversicherung (IV) und die Taggeldversicherungen sind sich der Problematik bewusst und nehmen sie ernst. Denn die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen ist hoch. Schätzungsweise jeder vierte Arbeitnehmende in der Schweiz wird mindestens einmal in seinem Arbeitsleben wegen psychischer Belastungen krankgeschrieben. In der Schweiz sind Firmen sehr an Prävention interessiert, aber über psychische Erkrankungen möchten sie dann doch nicht zu deutlich reden. Konkret: Wenn ich einer Firma anbiete, ein Seminar über Stressmanagement zu machen, nimmt sie das gerne an. Wenn ich aber eine Veranstaltung zum Thema Depression machen möchte, ist das Echo eher zögerlich. Vor einigen Jahren organisierte ich zum Beispiel für Firmen einen runden Tisch zum Thema psychische Belastung in der Arbeitswelt. Nachdem die Einladungen angekommen waren, waren die Plätze wahnsinnig schnell ausgebucht. Aber ausnahmslos jeder, der an der Veranstaltung teilnahm, fragte mich in irgendeiner Form: «Warum haben Sie gerade uns eingeladen?» Das Interesse ist da, die Vorurteile aber deutlich spürbar. Andere Länder sind da schon etwas weiter.

Wenn die Psyche streikt, Thomas Ihde

Das Buch von Thomas Ihde-Scholl, «Wenn die Psyche streikt», gibt einen umfassenden Überblick zum Thema psychische Belastung am Arbeitsplatz. Zum einen geht der Autor intensiv auf Prävention und Gesundungswege ein, zum anderen bietet er einen Überblick über verschiedene Krankheitsbilder und die damit einhergehenden Schwierigkeiten.

Thomas Ihde-Scholl

Wenn die Psyche streikt

Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt

Beobachter-Edition, Zürich, 2015
240 Seiten, Fr. 39.90

ISDN 978-3-85569-908-7 

Welche?
Alle im angelsächsischen Raum. In Kanada etwa unterstützt der Staat die Firmen mit kostenlosen Angeboten, das Thema ist auch besser untersucht. In den englischsprachigen Ländern weiss die Bevölkerung allgemein mehr über psychische Erkrankungen, sie sind nicht so tabuisiert. Nummer eins auf der Liste der förderlichen Schutzfaktoren ist nämlich nicht geringe Stressbelastung, sondern ob am Arbeitsplatz psychische Erkrankungen akzeptiert sind und darüber gesprochen werden kann. Auch Teamkultur wird gerade in den USA grossgeschrieben. Dafür ist Lästern verpönt. Interessanterweise ist Krankwerden durch Arbeit in den Vereinigten Staaten hoch stigmatisiert. Bei uns hingegen ist die Arbeit der – auch gesellschaftlich – anerkannteste Grund, warum jemand psychische Belastungen entwickelt. 

Was soll ich als Mitarbeitende tun, wenn ich bei einem Kollegen vermute, dass er unter einer psychischen Belastung leidet? Ansprechen oder lieber nicht?
Wenn immer möglich: ansprechen. Sie sollten versuchen, die Türe zur Kommunikation zu öffnen, ohne sie eintreten oder gar einrennen zu wollen. Dabei spielt wieder die Betriebskultur eine grosse Rolle. In einer Firma, in der die Kommunikation gut funktioniert und viele Schutzfaktoren gegeben sind, können Betroffene eher über ihre Probleme reden.

Was sollte ein Chef tun, der merkt, dass bei einem Mitarbeitenden etwas nicht mehr stimmt?
Auf jeden Fall mehrfach ansprechen und gegebenenfalls Hilfe von aussen beiziehen. Der Hausarzt bietet sich als erste Anlaufstelle an, schon weil ein Besuch bei ihm dem Betroffenen leichterfällt, als wenn er gleich zu einem Facharzt gehen müsste. Bei psychischen Beschwerden gilt: Je früher jemand dagegen vorgeht, desto schneller und leichter verläuft der Gesundungsprozess. Und der wird von der Tatsache begünstigt, eine Arbeit zu haben. Einen Job zu haben, ist prinzipiell immer besser, als keinen zu haben; das gilt auch oder gerade für Menschen mit psychischen Problemen. Leider ist die Kündigungsrate bei Betroffenen, die länger als drei Monate krankgeschrieben sind, mit 70 Prozent immer noch sehr hoch.

Wenn Sie wünschen könnten, was sollte die Schweiz in den nächsten Jahren zur besseren Anerkennung und zu einem selbstverständlicheren Umgang mit psychischen Erkrankungen unternehmen?
Ich wünsche mir eine nationale Sensibilisierungskampagne zum Thema. Für die Arbeitswelt wünsche ich mir, dass die Firmen wissen: Gesundheitsförderung im psychischen Bereich lohnt sich, genauso wie die Reintegration von Betroffenen. Jeder Betrieb sollte ein Konzept zur psychischen Gesundheit haben und dieses auch umsetzen. Von den Betroffenen wünsche ich mir, dass sie über ihren Schatten springen lernen. Das Leben ist nicht vorbei, wenn die Psyche streikt. 

Was müsste sich in der Gesellschaft ändern?
Von der Gesellschaft wünsche ich mir, dass sie toleranter wird. Leistung ist wichtig, aber nicht nur. Krisen gehören zum Leben, mit der Zeit und der richtigen Begleitung sind sie in der Regel zu bewältigen. Vielleicht hilft auch das Bild des verrückten Künstlers; viele ausserordentliche Talente hatten und haben psychische Belastungen. Niemand reduziert Edvard Munch auf seine Schizophrenie oder Pablo Picasso auf seine Depression. Das sollte auch im alltäglichen Leben gelten.   

Infos und Anlaufstellen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer:

Invalidenversicherung

www.ahv-iv.ch/de/Kontakte/IV-Stellen  

Die IV ist eine mögliche Partnerin bei gesundheitlichen, also auch psychischen Problemen am Arbeitsplatz. Mit einer Früherfassung können Betroffene ihre Möglichkeiten abklären.

Pro Mente Sana

www.promentesana.ch 

Seit rund 40 Jahren setzt sich die Stiftung für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ein. Neben zahlreichen Infos zum Thema für Betroffene, Angehörige und Fachleute bietet Pro Mente Sana auch juristische und psychosoziale Beratung an.

«Beobachter»

www.beobachter.ch/gesundheit  

Das Gesundheitsportal des «Beobachters» bietet viele Infos zum Thema sowie ein medizinisches Nachschlagewerk.