17.03.2016
FOTO UND TEXT: Julia Antoniou
Hanspeter Vochezer, Knigge-Coach

Hanspeter Vochezer lebt, was er den Kunden predigt: Stil und Benehmen.

Gutes Benehmen ist wieder in

«Knigge lehrt uns Leadership»

Seine Kunden lernen, wie sie eine Artischocke richtig zerlegen. Oder dass der Mann der Frau die Tür aufhält – Emanzipation hin oder her. Doch die eigentliche Lektion des Knigge-Coachs Hanspeter Vochezer geht tiefer als jede Benimmregel.

Wir alle kennen den Schreckensmoment aus dem Film «Pretty Woman»: Beim Dinner springt die Weinbergschnecke aus der Zange und fliegt im hohen Bogen vom Tisch. Was löst die Filmsequenz bei Ihnen als Knigge-Coach aus?
Die Szene ist weltberühmt. Der Mann von Welt führt seine Herzensdame zum schicken Dinner aus. Und sie sitzt vor dem Werkzeugkasten und hat keinen Plan. (Schmunzelt.) Eine tolle Szene! Aber unterdessen ist ja vieles verschwunden, was beim Essen verunsicherte. Das meiste kommt heute fertig auf dem Teller angerichtet auf den Tisch, der Hummer losgelöst aus der Schale, der Fisch filetiert. Die Köche machen es dem Gast einfach. Zum einen weil viele Gäste nicht wissen, wie man mit dem Besteck umgeht. Zum anderen weil es an ausgebildeten Fachkräften im Service fehlt. Im Raum Zürich sind 70 Prozent der Servicemitarbeitenden ungelernt. Doch das ist ein anderes Thema.

Bei «Pretty Woman» endet das Missgeschick glimpflich. Der Kellner fängt die fliegende Schnecke auf, und Schauspielerin Julia Roberts lächelt das Missgeschick aus der Welt. Hat sie richtig reagiert?
Absolut. Nur kein Drama machen! Missgeschicke passieren jedem.

Selbst Ihnen?
Mein Gott, ja! Der Klassiker halt: Man kommt mit dem Ärmel ans Rotweinglas – und schon ist es umgekippt. In diesem Fall ist es entscheidend, keine Szene zu machen. Sondern unaufgeregt eine Serviette auf den Fleck zu legen oder sich vom Kellner helfen zu lassen. Mit einem guten Spruch lässt sich das kleine Malheur elegant überspielen. Und schon lachen alle am Tisch. Auch wenn etwas runterfällt bei Tisch, gilt dasselbe. Sofern nicht jemand darauf ausrutschen könnte: einfach liegen lassen. Meistens merkt das kein Mensch.

Sie sprechen mit Ihrem Kursangebot Manager an. Was für Leute kommen zu Ihnen?
Das stimmt so nicht ganz. Grundsätzlich spreche ich mit meinen Schulungen Menschen aller Gesellschaftsschichten und Hierarchiestufen an. Aber tatsächlich gehören viele Manager zu meinen Kunden: Banker, die neu ein Team leiten, junge Anwälte, Kaderleute von KMU – intelligente Leute, die eine gesunde Selbstreflexion betreiben. Sie merken, dass sie Unsicherheiten haben, und wollen diese angehen.

«Wenn meine Kundin einen vegetarischen Hauptgang bestellt, ordere ich kein 350-Gramm-medium-rare-Rib-Eye-Steak.»

Sie werben auf Ihrer Website für «Knigge-Dinners mit kulinarischen Hindernissen». Welcher Art sind diese?
Es lauern viele Gefahren bei Tisch, etwa grosse Salatblätter, von denen die Sauce spritzt. Ich lasse jeweils ein Sechs-Gang-Menü servieren und zeige meinen Kunden, wie sie zum Beispiel ein halbes Mistkratzerli mit Knochen, eine ganze Forelle oder eine Artischocke «comme il faut» zerlegen. Viele Kunden staunen, dass sie den letzten Rest einer Consommé aus der Suppentasse trinken dürfen – für diesen Zweck hat die Tasse ja auch Henkel auf beiden Seiten.

Kann man auf Missgeschicke vorbereitet sein?
Nein. Entscheidend ist, was man daraus macht. Nehmen wir an, Sie schütten die Suppe über den Jupe Ihrer Tischnachbarin. Selbstverständlich werden Sie sich entschuldigen und sich selber um die Dame kümmern oder den Kellner rufen. Und Sie bieten ihr an, den Jupe reinigen zu lassen.

Was macht Ihren Kunden am meisten Angst bei Tisch?
Angst würde ich es nicht nennen. Aber viele fühlen sich sehr verunsichert, wenn sie Kunden oder Mitarbeitende zum Essen ausführen. Es geht oft um Fragen, die über die reinen Tischmanieren hinausgehen. Wer setzt sich zuerst? Wer sitzt wo? Soll ich mittags beim Mineralwasser bleiben, oder darf ich Wein trinken? Wer bezahlt? Gerade die Frage «Alkohol trinken oder nicht?» beschäftigt sehr. Hier gibt es eine einfache Regel: Der Gastgeber passt sich dem Kunden an. Wenn mein Gegenüber gerne ein Glas Wein trinkt, dann nehme ich ebenfalls ein Glas – auch wenn ich am Ende nicht oder nur wenig davon trinke. Wenn meine Kundin einen vegetarischen Hauptgang bestellt, ordere ich kein 350-Gramm-medium-rare-Rib-Eye-Steak.

Sie lehren also eigentlich das perfekte Gastgebertum?
Jawohl. Es geht darum, alles Mögliche daranzusetzen, dass der Kunde sich wohlfühlt. In den letzten Jahren legten viele Unternehmen den Schwerpunkt auf die technologische Entwicklung. Wie wichtig das Zwischenmenschliche ist, ging etwas verloren. Doch die Qualitäten eines guten Gastgebers sind entscheidend in einer Welt, wo ich alles online bekomme. Sie helfen, eine persönliche Bindung zu den Kunden aufzubauen, die wiederum die Grundlage für langjährige und erfolgreiche Geschäftsbeziehungen bildet.

Foto: zVg.

«Leute aus allen Branchen und Schichten merken, dass es gesellschaftliche Leitplanken braucht. Der Freiherr von Knigge formulierte seine Umgangsformen im 18. Jahrhundert. Sie sind im Grundsatz immer noch aktuell, doch wir dürfen sie heute freier interpretieren.»

Sie lehren auch den Business-Knigge. Worum geht es?
Um persönliche Auftrittskompetenz. Sie müssen sich vergegenwärtigen: Über 90 Prozent des ersten Eindrucks sind nonverbal. Und mehr als 70 Prozent der Kommunikation laufen über die Körpersprache. Anders ausgedrückt: «You never get a second chance to make a first impression», also so viel wie «Man kriegt keine zweite Chance, um einen ersten Eindruck zu machen». Ich übe mit meinen Kunden den gepflegten Smalltalk, das erfolgreiche Telefongespräch, den korrekten Händedruck. Die Körperhaltung ist ein wichtiges Thema. Niemand nimmt einen ernst, wenn man wie ein Nussgipfel dasteht, mit den Händen in der Hosentasche. Auch die Kleidung ist entscheidend: passende Krawatte, saubere Schuhe und ein Anzug, der sitzt. Selbstverständlich immer angepasst an den Dresscode.

An wen richten sich Ihre One-to-One-Coachings?
Der Vorteil von Einzelcoachings ist, dass sich niemand exponieren muss. Meine Kunden können alles ansprechen, was sie beschäftigt. Sei es im Umgang mit dem Chef oder mit Kunden, sei es im Zusammenhang mit dem Dresscode. Ich zeige die Zusammenhänge und die Wirkung auf und lebe vor, wie man den Knigge umsetzt. Auf Wunsch begleite ich meine Kunden auch beim Einkaufen und beim Zusammenstellen ihrer Garderobe.

Das hat aber schon seinen Preis?
Bei Einzelcoachings beträgt mein Ansatz ab 175 Franken pro Stunde. Bei Gruppenseminaren rechnet sich der Ansatz pro Person anders. Ich biete massgeschneiderte Schulungen. Je nach Bedürfnis, Dauer und Umfang ergibt sich ein anderer Preis. 

«Heute fehlt Leadership auf vielen Ebenen. Ich gebe meinen Kunden die Selbstsicherheit, die sie befähigt, Führungsrollen wahrzunehmen.»

Knigge galt lange als verstaubt. Wieso sind Benimmkurse jetzt wieder in?
Das ist eine interessante Frage. Die 68er haben die alten Benimmregeln aufgeweicht. Das Laisser-faire ist heute aber definitiv vorbei. Leute aus allen Branchen und Schichten merken, dass es gesellschaftliche Leitplanken braucht. Der Freiherr von Knigge formulierte seine Umgangsformen im 18. Jahrhundert. Sie sind im Grundsatz immer noch aktuell, doch wir dürfen sie heute freier interpretieren. Ich unterrichte den Knigge dynamisch: Die Regeln sind nicht in Stein gemeisselt. Wichtig ist, sie zu kennen und an die Situation angepasst anzuwenden. Das macht meinen Kunden Spass. Sie merken, dass sie selbstbewusster durchs Leben gehen, wenn sie auf Benimmregeln zurückgreifen können.

Knigge-Kurse vermitteln Selbstbewusstsein?
Im Grunde genommen geht es um Leadership. Früher lernten die Männer das Führen noch im Militär. Heute fehlt Leadership auf vielen Ebenen. Ich gebe meinen Kunden die Selbstsicherheit, die sie befähigt, Führungsrollen wahrzunehmen. Sie wachsen in die Haltung hinein, die sie brauchen, um vor die Leute hinzustehen, ein Team zu führen, Unangenehmes anzusprechen und einzufordern. Auch dieser Aspekt macht mein Angebot interessant für Unternehmen.

Und im Privaten? Die Emanzipation der Frauen und die Gleichberechtigung haben die Männer unsicher gemacht. Wozu raten Sie?
Zwischen den Geschlechtern herrscht eine grosse Verunsicherung, die Erwartungen gehen oft auseinander. Er wünscht sich eine Lady zum Verwöhnen und will sie zum Essen einladen, sie sagt: «Nicht nötig, ich verdiene mein eigenes Geld!» Oder umgekehrt: Sie wünscht sich insgeheim einen Gentleman, er hält ihr weder die Tür auf, noch hilft er ihr aus dem Mantel. Hier sage ich: Klassisch geht immer. Ich appelliere an die Männer, charmant den Lead zu übernehmen. Das geht ganz einfach mit Fragen wie: Darf ich uns Wein bestellen, oder worauf hättest du Lust? Der Mann gibt sich selbstbewusst und stark. Indem er der Frau die Wahl lässt, zeigt er sich als Gentleman. Das kommt meist sehr gut an.

Wie steht es um das Benehmen der Frauen? Während viel und gern auf den Männern herumgehackt wird, scheint es tabu zu sein, ihr Verhalten zu kritisieren ...
Ein heikles Thema, Sie haben recht. Die Knigge-Regeln gelten aber selbstverständlich ebenso für Frauen; die Emanzipation gibt ihnen keinen Freipass. Viele Frauen verhalten sich so, dass Männer sich nicht mehr getrauen, sie anzusprechen. Ich wünsche mir Begegnungen auf Augenhöhe, ein gesundes Miteinander. Auch beim Bezahlen. Die Frau soll sich einbringen. Bezahlt der Mann das Essen, kann sie zum Beispiel den Apéro oder den Schlummertrunk übernehmen.

Knigge Coach Hanspeter Vochezer, privat
Hanspeter Vochezer pflegt auch privat den stilvollen Auftritt. Sich immer dem Anlass entsprechend zu kleiden, lautet seine Devise. Foto: Julia Antoniou

«Viele Frauen verhalten sich so, dass Männer sich nicht mehr getrauen, sie anzusprechen. Ich wünsche mir Begegnungen auf Augenhöhe, ein gesundes Miteinander. Auch beim Bezahlen.»

Was prädestiniert Sie, gutes Benehmen und Auftrittskompetenz zu Ihrem Beruf zu machen?
Ich war 20 Jahre weltweit als Manager in der Hotellerie tätig. Diese Erfahrung bildet die beste Grundlage für meine heutigen Tätigkeiten. Ich bin einer der wenigen Knigge- Coachs in der Schweiz mit einem internationalen Background. Hinzu kommt, dass ich nach wie vor als Butler mit eigener Agentur arbeite. Ich bewege mich permanent unter Menschen aus allen Gesellschaftskreisen: mit der ausländischen Housekeeping-Lady, der ich nonverbal erklären muss, wie sie das Bad putzen soll. Und dann mit einem Staatsoberhaupt, das mich bittet, ihm aus den Schuhen zu helfen oder seinen Wildledermantel aufzubürsten. Diesem ständigen Hin-und-her-Wechseln verdanke ich meine grosse Erfahrung im Umgang mit Menschen aus allen Schichten und Kulturen.

Was halten Sie von einer Ausbildung zum Knigge-Coach in drei Tagen?
Ein Knigge-Coach steht für eine vorbildliche innere und äussere Haltung. Diese entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Zur Ausbildung braucht es Management- und Leadership-Erfahrung, Weltgewandtheit, didaktische Fähigkeiten und mehr. Bis man so ein «Package» zusammenhat, braucht es etliche Jahre. Ich selber habe eine Ausbildung zum Image-Consultant und Knigge-Coach in der Schweiz absolviert und liess mich zusätzlich ein Jahr lang «on the job» coachen.

Gutes Benehmen hat auch mit Stil zu tun. Wie lernt man guten Stil?
Stil hat man oder hat ihn nicht. Das stimmt aber nur beschränkt. Man muss ständig an sich arbeiten und sich an Vorbildern orientieren. Solche Vorbilder zu finden, ist heute nicht einfach. Viele Stars gebärden sich vulgär, viele Politiker und Manager haben Gerichtsverfahren am Hals.

Welche Persönlichkeiten faszinieren Sie?
Ich hatte zum Beispiel im «Reid’s Palace» auf Madeira einen hervorragenden Vorgesetzten. Auch Gunter Sachs, Claube Nobs oder Quincy Jones, für die ich alle arbeitete, bewunderte ich sehr. Heute sehe ich unter anderen in Roger Federer, Sean Connery, Elisabeth Kopp, Iris Berben oder Ursula Andress Vorbilder.

«Wenn Sie meinen, ich sei ein verwöhntes Goldküstenkind und mit dem goldenen Löffel auf die Welt gekommen ... Nein! Ich bin normal und bodenständig aufgewachsen, in einer intakten Familie.»

Wie muss man sich Sie als Kind vorstellen? Haben Sie nie mit den Fingern gegessen oder das Messer abgeschleckt?
Also wie man das Messer abschlecken kann, ist mir schleierhaft. Das kann sehr gefährlich sein und ist ein klassischer Karrierekiller bei einem Geschäftsessen. Aber wenn Sie meinen, ich sei ein verwöhntes Goldküstenkind und mit dem goldenen Löffel auf die Welt gekommen ... Nein! Ich bin normal und bodenständig aufgewachsen, in einer intakten Familie. Doch meine Eltern haben mich streng erzogen: Hände waschen vor dem Essen. Pünktlich zu Tisch erscheinen. Gerade sitzen. Mit dem Besteck richtig umgehen. Das war gut so. Eltern müssen ihren Kindern Grenzen setzen und mit dem guten Vorbild vorangehen. Das gilt beispielsweise auch für Smartphones am Tisch. Sie sind ein absolutes No-go!

Wie gibt sich ein Knigge-Coach privat? Vergessen Sie Ihre guten Manieren nie?
Nein ... (Schmunzelt.) Kulinarisch mag ich es auch mal deftig. Bei einem gepflegten Barbecue von Hand zu essen und ganze Racks von Spareribs vom Knochen zu nagen – das geniesse ich.  

Aber Hand aufs Herz: Haben Sie nicht auch manchmal Lust, nach Herzenslust zu schmatzen, schlürfen, rülpsen, in einer Männerrunde die Sau rauszulassen?
Wie gesagt, bei einem privaten BBQ kann es schon einiges lockerer zu- und hergehen ... (Lacht verschmitzt.)

 Von Beruf Gastgeber
«Ein hervorragender Gastgeber zu sein, ist meine Kernkompetenz», sagt Hanspeter Vochezer, 38. 20 Jahre lang war er in grossen Hotels rund um die Welt tätig, etwa im «Baur au Lac» in Zürich, im «Reid’s Palace» auf Madeira, im «Grand Hotel Park» in Gstaad oder auf einem der grössten Kreuzfahrtschiffe der Welt. Seit 2011 bringt der Zürcher Kunden Auftrittskompetenz und gutes Benehmen nach Knigge bei – auf Wunsch auch auf Englisch. Zudem bietet er Services als Image-Consultant und Butler an. Vochezers bekanntester Arbeitgeber war Gunter Sachs.
www.kniggecoaching.ch