21.04.2020

Jutta Jerlich eröffnet die 23. Ausgabe der «Fuckup Nights» in Basel.

Changemakerin Jutta Jerlich

«Ich kreiere unternehmerische Spielwiesen, auf denen Neues wachsen kann»

Die Kunst der gelungenen Kommunikation ist ihre Passion. Jutta Jerlich ist Coach für Teamentwicklung in Unternehmen und Gründerin der Eventserie «Fuckup Nights» Basel. Mit diesem Veranstaltungsformat öffnet sie die Bühne für eine offene Fehlerkultur, ganz nach dem Motto: Scheitern ist nicht nur erlaubt, sondern darf sogar Spass machen.

Was macht eine Changemakerin?
Das ist meine Panikfrage, wenn mich jemand fragt: «Was machst du eigentlich?» Ich mache viele Dinge, aber eigentlich immer in Bereichen, wo ich Neues aufbauen kann. Ich verbinde Menschen und Organisationen miteinander, damit Lernen stattfinden kann und Veränderungen umgesetzt werden. Nur gemeinsam können wir Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit finden, und das soll über Fachbereiche, Generationen und Religionen hinweg passieren. Tabuthemen in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen und Systemveränderungen anstossen, das ist für mich Changemaking. Ich arbeite leidenschaftlich für Bereiche, in denen wir gemeinsam etwas Grösseres verändern können. Zum Beispiel dafür, wie auf den «Fuckup Nights» Basel vor Publikum und ohne Scham über persönliches und berufliches Scheitern zu sprechen. Gesellschaftliche Veränderungen hinaustragen, das ist eine Grundidee dieser Veranstaltung.

Sie kommen aus dem Technologiemarketing, an der Technischen Universität Wien sind Sie seit vielen Jahren in der Ausbildung von Führungskräften tätig. Sie haben die Non-Profit-Organisation «Kulturimpulse» gegründet und vieles mehr. Was ist der Antrieb für all Ihre Arbeit?
Wie viel Entwicklung möglich ist, wenn Kommunikation wirklich gelingt, finde ich immer wieder erstaunlich. Voneinander zu lernen, über alle unterschiedlichen Gruppen hinweg, das gehört zum wichtigsten Ziel in all meinen Projekten. Ich glaube, wir haben überall zu viel vereinzeltes Denken. In grossen Firmen weiss eine Abteilung oft gar nicht, was die andere tut. Dadurch liegt aber das wahre Potenzial der Firma mit all den unentdeckten menschlichen Ressourcen im Dunkeln. Ich bin überzeugt, dass sich Vernetzung über Disziplinen und Abteilungen hinweg auf alle Arbeitsprozesse und im Team positiv auswirkt. Dafür engagiere ich mich.

Wenn Sie erzählen, dass Sie «Fuckup Nights» organisieren: Was ist die erste Reaktion der Leute?
Da ist von ungläubiger Verwirrung bis zu spontanem Lachen alles dabei. In den ersten Jahren habe ich dieses Wort oft vermieden, weil es nicht überall salonfähig ist.Jutta Jerlich und Cindy Piccolo Ich habe mich gerne hinter der Abkürzung FUN versteckt, aber inzwischen kennen mich einfach zu viele Menschen, da funktioniert das nicht mehr. Wenn ich erkläre, dass es bei diesen Events um Fehlerkultur geht und um Menschen, die vor Publikum von ihren gescheiterten Projekten erzählen, erschliesst sich der Sinn für alle schnell.

Eigene Fehler vor Publikum präsentieren: Braucht das mehr Mut als übliche Vorträge?
Vor vielen Leuten zu reden, die man nicht kennt, und dann auch noch über das eigene Versagen, ist sicherlich nicht die Normalsituation. Deshalb sind Treffen im Vorfeld sehr wichtig. Wir investieren vorher viel Zeit, um die Speaker kennenzulernen und ihren Auftritt mit ihnen gemeinsam vorzubereiten. Jeder soll sich zuerst menschlich willkommen fühlen. Wir besprechen gemeinsam, welche Geschichten geteilt werden können und ob sie überhaupt spannend für die Zuhörer sind. Da jede Speakerin und jeder Speaker nur sieben Minuten Redezeit hat, helfe ich als Organisatorin dabei, die Dramaturgie der Geschichte interessant zu gestalten, damit sie den Zuhörern in Erinnerung bleibt.

Was macht eine Geschichte für das Publikum spannend?
Wir Menschen sind Sinnwesen, und dieser Sinn muss sich am Ende für die Zuhörerinnen und Zuhörer erschliessen. Ich war in anderen Städten selbst auch schon Sprecherin, denn wenn ich Leute als Referenten gewinnen will, muss das auch Teil meiner eigenen Erfahrung sein. Ich erlebte dabei einige sehr lehrreiche Momente. Meine erste Geschichte bereitete ich vor und präsentierte sie dann einer Freundin. Ihre Reaktion war: «Ja, und was ist dann passiert …?» Ich hatte die Geschichte einfach am Punkt des Scheiterns beendet und vergessen zu beschreiben, welche Schlüsse ich daraus gezogen habe. Dabei ist genau das besonders wichtig und wertvoll: mit dem Publikum zu teilen, welchen Nutzen das Scheitern für uns haben kann. Die Erfahrung, Sprecherin zu sein und eine Geschichte für die Präsentation vor Publikum vorzubereiten, ist zugleich wertvolle Reflexionszeit, die sonst in unserer agilen Arbeitswelt oft fehlt.

Bald hätte bereits die 24. Ausgabe der «Fuckup Nights» Basel stattgefunden, von der es wegen des Lockdowns nun eine Onlinevariante gibt. Ein Erfolg?
Ich bin auf jeden Fall sehr glücklich darüber. Bei der letzten Veranstaltung im Februar hatten wir über hundert Anmeldungen.Andreas Mengel auf der FUN Basel Unseren Community-Newsletter in Basel haben ungefähr 700 Leute abonniert. Das Netzwerk hat aber noch viel Wachstumspotenzial. In anderen Städten kommen oft mehrere hundert Menschen zu einem Abend, in Städten wie Frankfurt am Main oder in Mexico City sogar rund tausend. Die deutschsprachige Schweiz ist da noch etwas schwerfällig. In den Städten der Romandie, in Genf und Lausanne, ist der Aufbau des Netzwerks an interessierten Menschen viel leichter. Die Kultur im Umgang mit Fehlern scheint dort etwas lockerer zu sein.

Was ist das Ziel dieser Events?
Mir liegt am Herzen, eine offene Fehlerkultur in alle Organisationen hineinzutragen. Wir haben so vielschichtige Realitäten, an denen wir unbedingt gemeinsam arbeiten müssen. Offen und authentisch miteinander zu reden, muss uns privat und in Firmen gelingen. Wenn wir das nicht schaffen, kommt nur Chaos heraus. Letztendlich steht und fällt alles mit gelungener Kommunikation.

Wer sind die Leute, die zu einem FUN-Abend kommen?
Die Zusammensetzung der Besucherinnen und Besucher an den Abenden ist eine bunte Mischung, was sehr schön ist. Menschen in ihren Zwanzigern kommen genauso wie Menschen, die bereits pensioniert sind. Zudem sind ganz unterschiedliche Berufsgruppen vertreten. Die Inhalte sind ganz bewusst sehr breit angelegt. Das können Themen wie Scheidung, Kündigung im Job, kostspielige Trennungen von Geschäftspartnerschaften oder die falsche Studienwahl sein. Im Mittelpunkt steht dabei immer der Mensch mit seinen persönlichen Erfahrungen und Emotionen.

Impressionen von der «Fuckup Night» Basel im Februar 2020; Fotos: Simone Gloor

Was macht die Abende in Basel besonders?
Wir haben hier zum Teil sehr persönliche Geschichten. Die allererste Geschichte, die wir auf den «Fuckup Nights» Basel hörten, handelte von einer Depression. Wir hatten auch schon die simple Titelgeschichte «Ich bin eine schlechte Mutter». Wir Organisatorinnen lassen es sehr offen, was die Menschen teilen möchten. Menschliche Nähe und Tiefe sind wesentlich. In anderen Städten liegt der Schwerpunkt oft viel mehr im Start-up-Bereich. Mir persönlich ist das zu eng. Der grössere Rahmen ist mir enorm wichtig, damit sich jeder zugehörig fühlt. Niemand muss eine Firma in den Bankrott geführt haben, um auf einer «Fuckup Night» Sprecherin zu sein.

Was bedeuten für Sie interdisziplinäre Netzwerke?
Interdisziplinär – das heisst für mich, über übliche Grenzen hinaus zu denken. Alles im Leben ist in ständiger Entwicklung. Bei der Beratung und Ausbildung im Technologiebereich bringe ich für die Teambildung kreative, soziale Prozesse in deren technische Sprache ein. Wir müssen lernen, die verschiedenen Terminologien zusammenzuführen. Gelungene Kommunikation, innovative Netzwerke, menschliche Unterstützung. Das ist die Passion hinter all meinen Aktivitäten.

Haben Sie eine Vision für die Weiterentwicklung der «Fuckup Nights» Basel?
Ich würde gerne die persönliche Ebene weiter vertiefen und kleinere Formate für diesen Austausch schaffen. Die Veranstaltung muss nicht unbedingt grösser werden. Schön wäre, wenn aus dieser Community noch mehr Halt füreinander entsteht, die Menschen noch mehr miteinander in Verbindung gehen. Viele erzählen mir: «Ich habe hier genau die Menschen oder genau das Projekt gefunden, nach denen ich gesucht habe.» Das ist der eigentliche Mehrwert der Abende, und da gibt es noch viel Spielraum. Ich wünsche mir, dass dieses Projekt in Basel Wurzeln schlägt. Die Weiterführung soll in Zukunft nicht von mir als Person abhängen.

Erinnern Sie sich an eine Begegnung, die Sie besonders berührt hat?
Jutta Jerlich führt durch die VeranstaltungBei den Begegnungen mit den Sprecherinnen und Sprechern staune ich immer wieder darüber, wie bereits der Prozess der Auseinandersetzung die Menschen verändert. Manchmal wird erst in dieser Reflexion der Wert des Erlebten klar. Die eigene Geschichte vor Publikum zu erzählen, ist eine sensible Angelegenheit. Über die eigenen Fehler offen reden zu können, ohne verurteilt zu werden, ist für viele ein sehr befreiender Schritt. Durch die Zuschauerfragen entstehen neue Perspektiven, und die eigene Geschichte bekommt dadurch häufig eine ganz neue Bedeutung. Was mich sehr berührt, ist, wenn mir beim Verabschieden Leute grossen Dank aussprechen, weil sie an dem Abend genau das gehört haben, was ihnen in einer bestimmten Lebenssituation gerade weiterhilft. Das sind unbezahlbare Geschenke, die für mich den Wert meiner Arbeit ausmachen.

Haben Sie selbst Angst vor dem Scheitern?
Als Angst würde ich dieses Gefühl nicht bezeichnen, eher als Respekt. Aus 25 Jahren Erfahrung in der Beratung von Teams weiss ich, dass nie alles berechenbar ist. Den Faktor Mensch können wir nicht vorhersagen. Wie Menschen in Projekten miteinander interagieren und wie sich diese Dynamik entwickelt, das ist ein kreativer Prozess und immer völlig verschieden. Für mich ist stets von Bedeutung, bei allem, was ich tue, mein Bestes zu geben. Zu meiner Arbeit gehört, dass ich menschliche und unternehmerische Spielwiesen kreiere, auf denen Neues wachsen kann.

Von Mexico City nach Basel: Die «Fuckup Nights» als weltweite Bewegung 
An einem Freitagabend 2012 in Mexico City sassen fünf Freunde in lockerer Runde zusammen und diskutierten ihre beruflichen Erfolge und Misserfolge. Beeindruckt von der Nähe, die entsteht, wenn Menschen ihre Fehler und Schwächen miteinander teilen, entschieden sie, den Austausch mit weiteren Freunden zu wiederholen. Das war die Geburtsstunde der «Fuckup Nights», die inzwischen in rund 90 Ländern und über 300 Städten stattfinden. Jutta Jerlich war bereits in den Anfängen der «Fuckup Nights» in Wien involviert und hat sie 2016 mit viel Begeisterung nach Basel gebracht.

Aktuelles zu den «Fuckup Nights» in der Schweiz 
In der Schweiz finden die «Fuckup Nights» bisher in Basel, Zürich, Genf und Lausanne statt. Pro Abend teilen drei bis vier Referenten ihre Geschichte des persönlichen oder beruflichen Scheiterns mit dem Publikum. Aufgrund der internationalen Anbindung ist die offizielle Sprache der Abende meist Englisch. Im Anschluss an die Vorträge und die Publikumsdiskussion werden beim Apéro in entspannter Atmosphäre Gespräche vertieft und neue Kontakte geknüpft. Der nächste Abend war eigentlich für den 22. April in den «Launchlabs» Basel geplant. Nun gibt es davon aufgrund des Lockdowns eine Onlineversion, denn was passt besser in eine Krisenzeit, als miteinander über das Scheitern ins Gespräch zu kommen?

Hier geht's zur Anmeldung für das Event

Kontakt: Jutta Jerlich, 078 765 49 69,  basel@fuckupnights.com

Dieses Interview entstand im Rahmen der Zeitschrift «blickwinkel», deren aktuelle Frühlingsausgabe 2020 sich dem Thema Fehlerkultur widmet.

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