10.10.2019
TEXT: Iwon BlumFOTO: Simone Gloor

«Wenn wir spielen, lassen wir zu, dass wir sind, wer wir sind: ohne Titel, ohne Masken, ohne Klischees», Caroline Costa, Erfinderin von «Lighthouse»

Berufliche Neuorientierung

«Ich fühlte mich wie ein Fisch ausserhalb des Wassers»

Mitten in ihrer Karriere als Nachhaltigkeits-Projektmanagerin gerät die 43-jährige Caroline Costa in eine tiefe Krise, als sie in ihrer Arbeit keinen Sinn mehr erkennt. In ihrer Zeit bei «der arbeitsmarkt» entwickelte sie ein Spiel, das nun auch andere bei der Sinnsuche unterstützen soll.

Du warst fast 20 Jahre lang als Projektmanagerin im Bereich Nachhaltigkeit sehr erfolgreich. Was ist dann passiert?
Caroline Costa:
 Nach all diesen Jahren war «Nachhaltigkeit» zu einem leeren Schlagwort geworden. Mir wurde klar, dass ich zu lange an wohlklingenden Konzepten und ausgeklügelten Grafiken gearbeitet hatte. Ganz zu schweigen von all den scharfsinnigen Strategien, die praktisch alles vorhersehen konnten – bis auf die sich unberechenbar weiterentwickelnde Realität. Ich erkannte, dass ich nicht zur Veränderung von irgendetwas beitrug. Veränderung ist jedoch die Grundlage für Nachhaltigkeit. Bei Nachhaltigkeit geht es um Lösungen, und diese werden nicht in raffinierten Strategien oder schön geschriebenen Berichten gefunden, sondern im tiefen Wunsch, die Dinge zum Besseren zu wenden. Ich konnte nicht länger akzeptieren, dass meine Arbeit so wirkungslos blieb. Ich vermisste das Spiel, den zwischenmenschlichen Austausch, die Geschichten sowie Spass und Sinn bei der Arbeit. Während meiner Karriere fand ich zudem selten einen «sicheren Ort», an dem ich mich voll und ganz fühlte. Deshalb habe ich beschlossen, ihn zu schaffen. Für mich und für andere.

Hat dich das inspiriert, ein Spiel zum Thema berufliche Neuorientierung zu erfinden?
Ich habe schon immer gerne gespielt. Wenn wir spielen, lassen wir zu, dass wir sind, wer wir sind: ohne Titel, ohne Masken, ohne Klischees. Wir erlauben uns, uns zu entspannen und den Spass zu geniessen. Ich habe diese Aspekte in der Geschäftswelt vermisst. Der befreiende Spassfaktor des Spielens berührte mich so sehr, dass ich diesen «Treibstoff» für die Neuerfindung meiner beruflichen Laufbahn einsetzen musste.

Du bist also schon mit der konkreten Spielidee zu FAU gekommen?
Nein, die konkrete Idee, das Konzept und alles Weitere bis hin zum gedruckten Spiel entwickelte ich erst im Programm. Als ich bei FAU anfing, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich mit einem Kartenspiel in meinen Händen hinausgehen würde.

Dein Kartenspiel heisst «Lighthouse», englisch für Leuchtturm. Was ist die Idee dahinter?
Ich wollte ein Spiel erarbeiten, das Menschen helfen kann, die wie ich nicht nur auf der Suche nach einer neuen Stelle sind, sondern ihrem weiteren Berufsleben neuen Sinn geben möchten. «Lighthouse» soll Menschen unterstützen, die beruflich eine neue Richtung einschlagen möchten, aber noch nicht wissen, welche. Dafür lädt «Lighthouse» die Spielenden ein, ihre bisherigen, gegenwärtigen und zukünftigen beruflichen Wege zu erkunden. Bei dem Spiel geht es darum, seinen eigenen Leuchtturm zu finden, also Orientierung, Klarheit, Sinnhaftigkeit – kurz: die ganz persönliche Bestimmung, die nur jeder für sich finden kann. Das Spiel ist für Berufstätige, die den Mut haben, sich eingehend mit herausfordernden Fragen zu befassen, die möglicherweise Antworten und Lösungen freisetzen, die vorher nicht wahrgenommen werden konnten. Aber auch für Leute, die einfach offen fürs Unbekannte sind, die neugierig sind, was das Leben ihnen noch bringen könnte. 

Für wen ist das Spiel nicht geeignet?
Für Menschen, die sich nicht für ihre eigenen Emotionen und Beweggründe interessieren. Oder die nicht daran glauben, dass die Ergründung ihrer Emotionen weitere Aspekte ihres Lebens eröffnen kann.

Sind die Fragen im Spiel jene, die du dir bei deiner Neuorientierung selber gestellt hast?
Ja, die Fragen sind tatsächlich genau solche, mit denen ich mich selber konfrontieren musste. Die Fragen wecken Emotionen, die meines Erachtens wichtig sind, um eine neue Richtung im Job oder im Leben zu finden. Gefühle, die sich bei bestimmten Fragen einstellen, können als Schlüssel zu Ideen und Wünschen wirken, die einem vorher nicht zugänglich waren. Zum Beispiel bei der Frage «Wonach suche ich?» können die Spieler auf verschiedene Themen stossen: vergessene Träume, das dringende Bedürfnis nach Anerkennung oder was ihnen im Job wirklich wichtig ist, damit sie sich nützlich, herausgefordert und honoriert fühlen. Meiner Erfahrung nach nutzen zudem die Mitspielenden die Überlegungen und Antworten der anderen, um über ihre eigene Situation nachzudenken. 

Gibt es eine Frage in dem Spiel, die du besonders gerne magst?
Ja, die Frage danach, was ich verdient habe, zu feiern. Ich komme aus einer Kultur, in der Feiern zum Alltag gehört. Viele Menschen neigen wohl dazu, nur die grossen Anlässe zu feiern. Aber ich finde auch kleine Momente wichtig, nur schon einander einen guten Morgen zu wünschen, ehrliche Komplimente zu machen – jede freundliche Geste. Ich finde, diese kleinen Dinge machen das Leben schön. Auch bei der Neuorientierung und Suche nach einer sinnstiftenden Beschäftigung dreht sich eigentlich vieles ums Feiern: etwa die schwierigen Zeiten, die gemeistert werden, die Leute, die einen auf diesem Weg begleiten, eine Institution wie FAU/«der arbeitsmarkt», die Coaches, Familie, Freunde und Bekannte, die an einen glauben. Sogar in jenen Momenten, in denen einem das selbst nicht mehr möglich ist. 

Du sagst, du kommst aus einer Kultur, in der Feiern zum Alltag gehört – welche ist das?
Ich stamme aus Brasilien. Wir Brasilianer sind sehr gut darin, das Hier und Jetzt zu leben. In der Schweiz drehen sich Fragen oft um das Morgen, darum, was die Zukunft bringt. In Brasilien fragt sich kein Mensch, was morgen sein wird – das werden wir morgen ja sehen. Im Spiel «Lighthouse» betrachten wir jede Phase. Wir gehen im Spiel durch die Vergangenheit, anschliessend machen wir eine Pause, essen und trinken etwas zusammen, denken an das Positive – und feiern das. Und dann gehen wir zur nächsten Phase, der Gegenwart, die wir am Schluss ebenso feiern, und dasselbe mit den Fragen, die sich um die Zukunft drehen. Beim Spiel geht es also unter dem Strich ums Feiern. (Lacht.)

Kommt im Spiel auch eine Frage vor, die du besonders schwierig findest?
Ja, das sind für mich sogar zwei Fragen. Einerseits die Frage «Was muss ich akzeptieren?» und anderseits «Was muss ich ändern?». Das sind sehr unangenehme Fragen. Einige Testspieler wehrten auch gleich ab, indem sie meinten, sie verstünden diese Fragen nicht.

Manche blocken also ab, wo es sozusagen anfinge, weh zu tun?
Ja, leider. Darum ist auch wichtig, eine sichere Umgebung zu schaffen, in der die Spielenden sich öffnen und sich auf die Erkundung der Fragestellungen einlassen können. 

Was waren deine Erkenntnisse aus den Fragen, was hat das Spiel mit dir selber gemacht?
Das Spiel hat mich ermutigt, mein Naturell zu akzeptieren. Ich bin zum Beispiel eine sehr kreative, aber komplett unstrukturierte Person. Viele Jahre lang habe ich mich für Letzteres ständig selbst getadelt. Als ich bei FAU/«der arbeitsmarkt» anfing, war mein erstes Ziel, mich selber mit meinen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und frühere Fehler nicht zu wiederholen. Mit Fehlern meine ich, stillzustehen, mich immer wieder für dieselben Jobs in derselben Branche zu bewerben, obwohl ich mich dort schon früher nicht selber wiedergefunden habe. Rückblickend fühlte ich mich die meiste Zeit wie ein Fisch ausserhalb des Wassers. Das Spiel half mir, mir darüber klarer zu werden, wer ich bin – und somit auch, wohin ich mich entwickeln möchte. Das war für mich die wertvollste Erfahrung. Und natürlich die erfreuten Reaktionen der Leute. Viele spielen gerne. Das Leben ist so durchstrukturiert und schwer, voller Verantwortung und Schuldfragen. Ich denke, wir sollten spielerischer werden und mehr feiern. Bei FAU und «der arbeitsmarkt» fand ich die richtige Umgebung und die richtigen Leute dafür.

Das Spiel hilft also dabei, sich selber näher zu kommen?
Ja, auf jeden Fall: Darum dreht sich bei «Lighthouse» letztlich alles. In der Testphase erkannte ich aber auch, dass nicht jeder bereit ist für das Spiel beziehungsweise sich auf die teils existenziellen Fragestellungen einzulassen. Das Spiel kann viel Spass machen, aber sich all den Fragen ehrlich zu stellen, kann auch sehr viel Energie kosten. Zweck des Spiels ist zwar nicht, Ziele zu erreichen oder am Ende mit einer fertigen Zukunftsstrategie dazustehen, aber die Fragen wühlen natürlich vieles auf, was die meisten noch einige Zeit beschäftigen wird. 

Was beschäftigt dich in nächster Zeit, was sind deine Pläne für die Zukunft?
Ich würde mir wünschen, dass viele Menschen von «Lighthouse» profitieren. Ich möchte aber nicht einfach das Spiel unter die Leute bringen. Das Spiel allein ist nur ein weiteres Spiel. Ich möchte meine Moderation zum Spiel anbieten, weil meiner Meinung nach die persönliche Erfahrung der Neuerfindung seiner selbst wesentlich ist. Mein Traumberuf wäre für die Zukunft, andere Spiele nach spezifischen Kundenanforderungen zu gestalten. Zum Beispiel ein Spiel zum Thema Burn-out, ein Spiel zu unterschiedlichen Cheftypen, ein Spiel zum Thema Vertrauen, ein Spiel zum Thema Hoffnung und viele mehr. Was die Spiele miteinander verbindet, ist das Kernthema Neuerfindung seiner selbst, indem die eigenen Talente und Fähigkeiten aufgerufen und neu sortiert werden – als würde man die Möbel im Zuhause neu arrangieren oder die Wände in anderen Farben streichen.

Was nimmst du – neben dem Kartenspiel – von FAU und «der arbeitsmarkt» mit?
Bei FAU und «der arbeitsmarkt» hatte ich das Gefühl, als würde ich von einer sehr schweren Grippe endlich genesen. Ich fand den Raum, um all meine Kräfte, aber auch Zweifel und Träume im Projekt «Lighthouse» zu vereinen. Ich bekam die Möglichkeit, mich mir selbst zu beweisen. Das Redaktionsteam und die Coaches bei FAU waren meine wärmende Decke und meine Suppe. Ich bin jetzt eine selbstbewusste und viel stärkere Kämpferin. Vielen Dank!

Das Spiel «Lighthouse»

Das Kartenspiel kann zusammen mit einem Coach oder in Gruppen von drei bis fünf Personen gespielt werden und besteht aus diversen zentralen Fragestellungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Spielenden werden durch die Fragen ermuntert, ihre beruflichen oder auch persönlichen Möglichkeiten zu erkunden, verborgene Wünsche und Leidenschaften wiederzuentdecken und die für sie zentralen Herausforderungen zu erkennen und anzugehen. Darum sind die Teilnehmenden explizit eingeladen, spontan und unzensiert zu sagen, was ihnen zu den Fragen in den Sinn kommt. Zuvor können die Spieler entscheiden, wie lange sie sich mit den einzelnen Fragen auseinandersetzen möchten: 30 Sekunden, eine, fünf oder zehn Minuten – entsprechend spontaner oder vertiefter fallen die Antworten aus. Das Spiel ist nicht wettbewerbsorientiert und bringt weder Gewinner noch Verlierer hervor. Ziel ist vielmehr, dass die Spielenden in sich horchen sowie sich gegenseitig inspirieren und ermutigen. Derzeit existiert das Kartenspiel auf Englisch sowie auf Deutsch. Ob es dereinst zum Verkauf stehen soll, ist Gegenstand weiterer Abklärungen. Weitere Infos: www.goosebump.ch


Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Magazins «blickwinkel», dessen Herbstausgabe 2019 den Themen Lebenszeit und Arbeit in unterschiedlichsten Facetten gewidmet ist.