Veröffentlicht am 21.05.2015FOTO: Stefan Zürrer

Reise durch Schwyzer Brauchtum

Der Wecker reisst mich aus unruhigem Schlaf. Es ist der 1. Juni, Viertel nach drei, der Regen platscht auf die Strasse vor meiner Wohnung. Die Wetterprognosen haben sich bewahrheitet, und der Kauf einer super Regenjacke hat sich gelohnt.

Die Scheibenwischer meines Autos transportieren gewaltige Mengen Wasser von der Windschutzscheibe, als ich ins Muotatal fahre. In Ried (SZ) ist die Strasse überflutet, was ich aber erst bemerke, als auf beiden Seiten Fontänen aufspritzen, höher als mein Auto.

Ich habe gestern bei Vreni Föhn nachgefragt, ob der Alpaufzug heute wirklich stattfinden soll. «Ja, ja, alles ist organisiert, und die Leute sind aufgeboten», bestätigte mir die Landwirtin mit freundlicher Stimme am Telefon. Jetzt stehe ich in Muotathal an der Hauptstrasse und warte. Es giesst aus Kübeln. Nein, aus Badewannen. Mir geht der Beipackzettel meiner neuen Jacke durch den Kopf: «wasserdicht bis 10 000 mm». Das sind zehn Meter. Was das wohl bedeutet?

Die Kirchturmuhr schlägt vier Uhr. Was ist das? Ja richtig, es regnet, und die Kanalisation gurgelt vor sich hin, doch da mischt sich ein anderes Geräusch hinein: Kuhglocken! Dieser Sound wird mich in den nächsten sieben Stunden begleiten. Manchmal klingt er fast wie eine Melodie und lässt mich wie in Trance durch den Regen wandern und fotografieren.

Gestartet wird in Muotathal auf 603 Metern Höhe in der Grossmatt bei Vreni und Ruedi Föhn. Zusammen mit etwa 70 Kühen, einem Stier – der Glückliche – und rund zwanzig Helfern geht es im Dunkeln los. Die Stirnlampen der Begleitpersonen machen die Intensität des Regens erst richtig sichtbar. Merkwürdigerweise nehme ich das Nass vom Himmel gar nicht richtig wahr. Mir ist mollig warm, und ich fühle mich trocken. Offenbar sind noch keine 10 000 Millimeter auf mich niedergeprasselt. An vielen Orten sprudelt das klare Wasser aus dem Hang über die Strasse. Manchmal wie kleine Schallwellen, die uns entgegenschwappen; oft aber als Bäche, die durchsetzt mit Geröll und Schutt über den Teer kollern.

Das Tal duftet nach Bärlauch. Das Geläut der Glocken hallt durch die enge Strasse, und vom Talboden hört man das Gerumpel von Steinen, welche die fast unglaubliche Wasserkraft durch den Bach Starzlen treibt.

Beim Fruttli auf 1203 Metern über Meer verlassen wir die geteerte Strasse, und der Tross schlägt
 den Naturweg zum Gutentalboden ein. Der liegt immerhin auf 1297 Metern Höhe. Dort angekommen gibt es für Mensch und Tier eine erste Pause nach dem kräfteraubenden Aufstieg. Das Vieh grast und löscht seinen Durst am frisch sprudelnden Bach, die Begleitpersonen werden mit Kaffee, Broten und Kuchen verwöhnt. Die Köstlichkeiten haben drei Maultiere nach oben getragen. Sie werden später im Alpbetrieb die Milch von der freien Alp zur Hütte transportieren. Auch der Regen hat sich dazu entschlossen, eine Pause einzulegen. Man lacht und erzählt sich Geschichten über Vergangenes. Während die behörnten Tiere ihre ersten Machtkämpfe austragen, wird in unsere Kaffeebecher Klarer eingegossen.

Mit dem Aufbruch setzt erneut intensiver Regen ein. Der letzte Teil bis zur Pragelpasshöhe auf 1550 Metern ü. M. ist für Mensch und Tier anstrengend, weil er durch Schnee und Pflotsch führt. Aber selbst auf dem höchsten Punkt gibt es keine Rast. Wir rutschen gleich weiter talwärts durch drei bis vier Meter hohe, ausgefräste Lawinenkegel. Erst in der Schwelaui wird den Tieren eine Pause gegönnt. Hungrig machen sie sich über das karge Gras her, das der Boden hier bis zum meteorologischen Sommeranfang hervorgebracht hat.

Ich verlasse den Tross, der auf Glarner Boden weitergrast. Die durchnässte Gesellschaft zieht auf die Chlüstalden (1063 m ü. M.), wo sie zwei bis drei Wochen bleiben wird, um danach weiter aufzusteigen auf die Alp Dräckloch (1698 m ü. M.). Dort verweilen die Tiere bis zum Oktober.

Jedes Frühjahr von neuem seit hunderten von Jahren vollbringen Mensch und Tier diese Leistung. Mir haben sie eine authentische, nicht auf Hochglanz getrimmte Reise ermöglicht durch echtes Schwyzer Brauchtum. Nasses Wetter inklusive. Landwirtschaft findet eben immer noch in der freien Natur statt.

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