09.07.2015
FOTO UND TEXT: Ines Schöne

Setz dich auf den Limbic Controller und navigiere freihändig durch den Raum.

Digital Lifestyle

Ganz locker aus der Hüfte

Das Thermometer zeigt fast 40 Grad, als ich das Lokal «Kaufleuten» in Zürich betrete. Meine Kleider kleben auf der Haut. Lust zu denken habe ich keine. Dabei liegt ein Saal voller Visionäre vor mir – die Teilnehmer der Startupfair 2015.

Ob das Thema der Messe, «Digital Lifestyle», hält, was es verspricht? Ich bin auf der Jagd nach einer sinnlichen Erfahrung und möchte wissen, wie sich mein Alltag im Jahr 2027 anfühlen wird.

Startupfair «Digital Lifestyle»

Die dritte Startupfair für neugegründete Unternehmen fand am 2. Juli 2015 im Zürcher «Kaufleuten» statt und hatte 1700 Besucher.

Die Messe wird vom Startzentrum Zürich organisiert. Startups präsentieren ihre Ideen und suchen Investoren. Die übrigen Aussteller sind vornehmlich Dienstleister mit Angeboten, die auf die Neufirmen zugeschnitten sind. 

Ich registriere mich und betrete das Foyer. Grüppchen jüngerer Leute in Shorts, kurzen Kleidern und Sandalen unterhalten sich angeregt. Jetzt der Hauptsaal.

Auf den ersten Blick die gähnende Langeweile. Weisse Scheinwerfer, bedruckte Stellwände, Post-its mit Firmenlogo. Wo ist das Feeling der Zukunft?

Linker Hand sehe ich den Birdly-Flugsimulator, entwickelt von der Zürcher Hochschule der Künste. Ein Besucher liegt darauf und bewegt seine «Schwingen». Dazu schaut er durch die 3-D-Brille. Er fliegt wie ein Vogel durch die steile Häuserschlucht, den Gegenwind im Gesicht. Sehr eindrücklich, aber ich kenne ihn seit der Neueröffnung der Zürcher Hochschule der Künste im September 2014. Und mit Alltag hat er nichts zu tun.

Die Suche nach Sinnenfreude

Die 40 Stände sind schnell abgeklappert. Anwaltskanzlei, Versicherung und Bank haben nichts, was mir eine haptische Erfahrung bescheren könnte. «Lösungen», «Produkte für virtuelle Realität» und «Hubs» im Netz, in der Cloud oder im Nirwana haben auf mich leider keinen «Impact», auch wenn die Firmen über sich selbst sagen, sie seien innovativ, kreativ und produktiv.

«Tracktics» wird «Best Swiss Startup». Es kann jetzt ein Jahr kostenlos Arbeitsplätze und Coaching im Startzentrum Zürich geniessen. Mit seiner App zur Messung der Leistung von Fussballern hat es sich in der Startup-Battle durchgesetzt, gegen das soziale Netzwerk «Goodwall», das Universitäten und Studenten miteinander verbindet, und gegen «Crowd», das für seine sympathische App zur Tagesgestaltung mit Gruppen Liebling des Publikums wird.

Social Media und Apps entwickeln sich weiter, aber etwas grundlegend Neues sehe ich darin nicht. Und anfassen kann ich sie auch nicht. Mein Körpergefühl von 2027 habe ich immer noch nicht erlebt.

In einer dunklen Ecke sitzt ein rotblonder langhaariger Typ, schwarz gekleidet mit originellem T-Shirt-Aufdruck. Freundlich lächelt er mich an. «Möchtest du dich setzen?», fragt er. «Okay», antworte ich. 

Der Programmierer Mark van Raai hat den «Limbic Chair» zum «Limbic Controller» weiterentwickelt.

Der Sitz mit Swing

Meine Oberschenkel ruhen in zwei länglichen Schalen. Meine Füsse hängen in der Luft, eine Rückenlehne gibt es nicht. Der Stuhl steht auf fünf Rollen. Ich baumle leicht mit den Beinen, und mein ganzer Körper schwingt mit, während der Informatiker mir erklärt, worum es geht. Er hat einen leichten Akzent. Irgendwie lässt es sich hier ganz gut aushalten.

«Bist du Holländer? Du bist so nett!», frage ich ihn spontan, worauf er nickt. Nach zwei Minuten auf dem «Limbic Chair» habe ich gute Laune. Mir wird klar: Der Stuhl hebt die Stimmung. Mein unterer Rücken entspannt sich. Um mich zu halten, setze ich die unteren Bauchmuskeln ein. Ach so: Der Stuhl ist gut für den Rücken. Ich kann jedes Bein einzeln bewegen. Auch kleine Regungen setzen sich fort durch meinen Muskelapparat. Nanu: Ich sitze gar nicht still.

Mark van Raai, 34, reicht mir eine 3-D-Brille und schaltet ein Spiel ein. Ich fliege um Blöcke herum durch die Galaxie «Orion-Nebel». Beine auseinander: Ich gebe Gas. Hüfte nach links unten: Ich drehe ab. Der Stuhl ist ein Joystick oder Joypad, der meinem Kommando folgt.

Den Joystick reiten

Der «Limbic Chair» ist seit 2011 auf dem Markt. Dann hat Mark van Raai ihn mit Sensoren ausgestattet, die über Kabel meine Bewegungen weiterleiten an eine 3-D-Brille und an einen Monitor. Damit wird der Limbic Chair zum «Limbic Controller». Ich throne auf der Steuerung.

Nicht nur meine Füsse, auch meine Hände sind frei beweglich, während ich steuere. «Das ist genau der Sinn», sagt Patrik A. Künzler, 46, Erfinder des Stuhls. «Du hast die Hände frei. Mit der 3-D-Brille schaust du in den Raum. Mit der Hüfte bedienst du die Steuerung in drei Dimensionen, mit den Händen machst du die Feinarbeit.»

Der auf Hirnforschung spezialisierte Arzt sieht den «Limbic Controller» vielleicht schon bald live im Operationssaal. Bei minimalinvasiven Eingriffen arbeiten Chirurgen am Bildschirm mit zwei Joysticks. Die linke Hand hält etwas fest, die rechte schneidet, und neu könnten sie im Sitzen durch das Operationsfeld navigieren.

Wirbel-Woogie

Auch Architekten oder Industriedesigner, die am Computer ihre Projekte planen, bewegen sich locker aus der Hüfte durch den Raum und haben dabei die Hände frei – in Zukunft. Mir leuchtet ein, dass das Steuern aus der Körpermitte intuitiver ist als mit Pedalen. Es geht leichter in Fleisch und Blut über. Meine sinnliche Vorwegnahme des Jahres 2027 – endlich habe ich sie gefunden.

Die 3-D-Brille wird bald an vielen Arbeitsplätzen normal sein. Und zieht neue Erfindungen nach sich.Foto: Ines Schöne

In allen Bereichen, in denen Spezialisten in Zukunft mit 3-D-Brille arbeiten und sich eine dritte Hand zum Navigieren im Raum wünschen, kann der «Limbic Controller» zum Einsatz kommen und die Arbeit erleichtern. Durch Sensoren mit der 3-D-Brille und einem Bildschirm verbunden, wird der Stuhl zu einer Steuerung. Er ersetzt Maus, Joystick, Joypad und Steuerrad.

Ganz nebenbei kommt der Stuhl dem menschlichen Bewegungsdrang entgegen. Wir können länger arbeiten, weil wir nicht stillsitzen müssen. Dies sorgt für Wohlbefinden und fördert die Kreativität.

Investor und Manager willkommen

Patrik A. Künzler und Mark van Raai wünschen sich einen Geldgeber und einen Manager, der potenzielle Kunden kontaktiert und die neue Firma zu einem florierenden Business aufbaut.

Wenn es klappt, dann wäre das elende Stillsitzen den ganzen Tag ein für alle Mal passé. Ich könnte beim Tippen eines Textes gleichzeitig meine Musikanlage bedienen. Oder auf einem Segelboot die Leinen mit der Hand einholen und das Ruder aus der Hüfte steuern. Navigieren heisst schliesslich ein Schiff steuern. Und mich dabei so natürlich bewegen, wie es meinem Bewegungsapparat guttut.

Limbic_Chair_Video

Ein Augenschein im Technopark in Zürich, im Büro des Startups von Patrik A. Künzler.Video: Ines Schöne

Kommentare

Gespeichert von ursa am

Mir gefällt die Grundidee der Verbindung von Neurologie und Alltagsdesign. Ein lymbic chair ist nach dem Sitzball und neben dem Stehpult die ideale Alternative für Menschen, denen das tagelange Sitzen am Computer zu viel wird. Glücklich werden beim Sitzen – wow – einen solchen Stuhl muss ich unbedingt ausprobieren. Ich wünsche den Entwicklern viel Erfolg und hoffe, dass ich den Stuhl in absehbarer Zeit erstehen kann ohne dass ich dafür ein paar Monatsgehälter hinblättern muss.

Gespeichert von Barbara am

Schöner Artikel! Mir gefällt, dass er so subjektiv geschrieben ist. Keine blosse Berichterstattung. Es wird zwar angegeben, wer die Preise gewonnen hat und so weiter, aber im Mittelpunkt steht die unnachgiebige Suche nach dem sinnlichen Erlebnis. Das gefällt mir!
Und natürlich hätte ich auch gern so einen Stuhl. :)

Gespeichert von Daniel am

Sitzende Tätigkeit und Bewegung in Einem, alle Achtung! Die meisten Menschen verbringen einen grossen Teil ihres Lebens sitzend. Wo könnte man die Lebensqualität im Alltag stärker steigern als da? Der Limbic Chair klingt nach befreiender Wohltat und würde wohl so manchem Sesselkeber den Gang ins Fitnesscenter ersparen, zumal er, wie mir scheint, die nützliche und notwendige Rückenmuskulatur stärkt und nicht Muskeln die nur sexy aussehen sollen und sonst zu nichts taugen ...
Leider ist der Stuhl momentan kaum erschwinglich, aber ich freue mich auf die Gelegenheit des Probe-Bewegungs-Sitzens!
Danke für den erfrischenden Beitrag, ich wusste nicht, dass Messe-Reportagen so sinnlich und informativ zugleich daher kommen können – und dazu eine Entdeckung bergen, die den Alltag dermassen sinnvoll zu versüssen verspricht!

Gespeichert von Pitt am

Ein sehr persönlicher Artikel, aus dem ich den Frust über eine –vermeintlich – schöne neue digitale Welt herauszuhören meine. Um so größer die Freude, dann doch etwas wirklich innovatives und sinnvolles gefunden zu haben. Diese Freude springt einen geradzu an, wenn man den Artikel liest.
Meine Neugierde auf den «lymbic chair» ist auf jeden Fall geweckt!
Das Design nach dem Foto ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, doch die gesundheitsfördernde, ergonomische Konzeption dahinter erscheint schlüssig.
In Anbetracht steigender Zahlen von chronisch-degenerativen Rückenerkrankungen mit steigenden Ausfallzeiten der Arbeitnehmer, hat dieses Konzept betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Bedeutung. Lezteres wird in dem Artikel zwar nur angerissen, aber doch ausreichend erwähnt, um den Leser in diese Richtung denken zu lassen.

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