Veröffentlicht am 01.06.2013TEXT: Mario WalserFOTO: Romed Fritsche

Eine Ode an die sonntägliche Zeitung 1.0

Mario Walser
Journalist «der arbeitsmarkt»

Ich bekenne mich schuldig, ich bin ein Jünger des angebissenen Apfels. Macbook, Ipad und Iphone sind mir ans Herz gewachsen und erleichtern mir den Tag, jahrein, jahraus. Ja, bevor ich schlafen gehe, werfe ich noch einen letzten Blick auf mein liebstes Gadget – das Smartphone – und informiere mich über die letzten Neuigkeiten des Tages. Nein, einen Wecker besitze ich schon lange nicht mehr. Wieso auch, dafür habe ich ja meinen Alleskönner. Zuverlässig weckt er mich jeden morgen um sechs Uhr. Was will ich denn mehr als einen Flaschengeist, der mir jederzeit zu Diensten ist und das Leben gewaltig erleichtert. Ausser der täglichen Ration Strom wird von mir nichts gefordert; ich muss nicht mal Gassi gehen mit dem tragbaren Funkknochen.

Zugbillete kaufen und Flüge buchen – via Handy, Einzahlungen erledigen – via Handy, Lotto spielen – via Handy, fotografieren – via Handy, ausländische Währungen umrechnen – via Handy, Kaffeekapseln bestellen – via Handy, News-Fastfood wie 20 Minuten und den Blick am Abend konsumieren – via Handy, Meetings koordinieren – via Handy, Interviews aufnehmen – via Handy. 
Ob beruflich oder privat – ich muss das Gerät nur ganz sanft berühren und mir wird jeder Wunsch erfüllt. Sogar telefonieren kann ich damit – oh Wunder.

Trotzdem würde ich mich nicht als Süchtigen bezeichnen. Meine Gedanken kreisen nicht 24/7 die Woche um den tragbaren Alleskönner. Ich spüre keine Vibrationen in der Hosentasche, obwohl niemand anruft. Ich simse nicht mit meinen Freunden, die in der Beiz gleich neben mir sitzen. Witzige Klingeltöne finde ich ätzend und ich nerve mich über Mitpendler, die in unverschämter Lautstärke dem ganzen Zugsabteil pikante Details aus Privat- und Berufsleben um die Ohren schlagen.

Mit meinen 40 Jahren gehöre ich nicht dem Stamm der digitalen Eingeborenen an. Ich fühle mich eher als Immigrant. Ich bin ohne Internet und MP3-Player aufgewachsen, habe mit meinen Schulkollegen nachmittags draussen gespielt und noch eine Welt vor Twitter und Facebook erlebt. Und trotzdem – oder gerade deshalb, Fragezeichen, habe ich eine Frau gefunden und Kinder gezeugt. 

Ich behaupte sogar, ein sinnlicher Zeitgenosse zu sein. Das heisst, ich versuche mit offenen Augen und Ohren durchs Leben zu gehen und erfahre gerne das Schöne und Anregende dieser Welt. Schönes und Anregendes kann ich auch via Handy erfahren. Insofern führe ich mit meinem virtuellen Flaschengeist also durchaus eine sinnliche Beziehung. Doch ein Vergnügen kann er mir nicht geben, so sehr er sich auch bemüht: die nachhaltige Lektüre meiner Sonntagszeitungen. 

Die Resultate investigativster Recherche  in der Version 2.0 via Display auf dem Tablet oder Natel zu lesen – ein Sakrileg. Das käme mir niemals in den Sinn. Da bleibt die Sinnlichkeit für mich dann doch auf der Strecke. Ein gut geschriebener Artikel braucht keine zehn zusätzliche pseudoinformative Links. Ich will selber denken.

Deshalb: nichts geht über das Rascheln des Zeitungspapiers, den frischen Duft der Druckerschwärze und das umständliche Falten der Zeitung. Und dazwischen ein Schluck Orangensaft oder Kaffee. Ich fühle mich moralisch verpflichtet, das seriöse journalistische Schaffen angemessen zu würdigen. Das kann mir nur ein Medium mit garantiertem Mindesthaltbarkeitsdatum bieten: Die sonntägliche Zeitung 1.0 – auf Papier.