Veröffentlicht am 01.02.2012TEXT: Benjamin HämmerleFOTO: Simone Gloor

Gesundheitsdiktatur

Benjamin Hämmerle
Journalist «der arbeitsmarkt»

Seit längerem ist zu beobachten, dass Bund, Kantone und Gemeinden sich zunehmend aggressiv um die Gesundheit und den Lebenswandel ihrer Bürger kümmern. Nachdem die Raucher erfolgreich dezimiert und vor die Türen von Gaststätten und Discos verbannt worden sind, hat sich der Bundesrat (wieder einmal) die jugendlichen Alkoholkonsumenten vorgenommen. Mit einem generellen Verkaufsverbot von alkoholischen Getränken zwischen 22 Uhr und 6 Uhr will er spontanen nächtlichen Saufgelagen vorbeugen. Dass man damit auch all jenen, die weder die Nachtruhe stören noch suchtgefährdet sind, die Möglichkeit nimmt, spätabends im 24-Stunden-Shop oder an der Tankstelle ein Bier zu kaufen, nimmt der Bundesrat als «unvermeidlich» in Kauf.

Ebenfalls Aufsehen erregt haben in jüngster Zeit millionenteure Präventionskampagnen gegen Fettleibigkeit. Jede zweite Person in der Schweiz soll übergewichtig sein. Dies ist das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Studie des Universitätsspitals Lausanne im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Besorgt ist das BAG insbesondere über die volkswirtschaftlichen Kosten, die die Übergewichtigen in der Schweiz jedes Jahr verursachen. Diese hätten sich allein zwischen 2004 und 2009 von 2,6 auf 5,7 Milliarden Franken mehr als verdoppelt. Zu den direkten Krankheitskosten («Verbrauch von Ressourcen zur Behandlung von Adipositas und Folgekrankheiten») addieren die Statistiker des Bundes indirekte Kosten wie «Produktivitätsverlust durch Arbeitsabwesenheit, Invalidität oder Tod». Welche Schande, dem Staat einen Produktivitätsverlust durch den eigenen Tod aufzubürden!

Überhaupt bekommt man den Eindruck, dass dem Staat nicht so sehr die Gesundheit seiner Bürger am Herzen liegt. Vielmehr scheinen ihm die wirtschaftlichen Kosten, die deren Fehlverhalten allenfalls verursachen könnte, auf dem Magen zu liegen. Dies ist Ausdruck einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Individuen werden als Nutz- und Kostenfaktoren gesehen, die dem Bruttoinlandsprodukt entweder förderlich oder abträglich sind. Die Idee, dass jeder Bürger und jede Bürgerin die Kosten des eigenen Verhaltens selber tragen soll, findet immer mehr Anhänger. Dass Betrunkene Zwangsaufenthalte in Ausnüchterungszellen und Spitalaufenthalte selber berappen sollen, hat die ständerätliche Gesundheitskommission am 25. Januar beschlossen. Dass Übergewichtige höhere Krankenkassenprämien bezahlen sollen, ist längst kein Tabu mehr.

Dieser Logik folgend müssten auch Behandlungen von Sportunfällen und vieler Krankheiten selber finanziert werden, denn die Betroffenen haben sich bewusst oder fahrlässig in Risikosituationen begeben. Kommt dazu, dass viele gesundheitliche Beschwerden – wie zum Beispiel Adipositas – zum Teil genetisch bedingt sind. Sollen Menschen mit Risikogenen auch höhere Krankenkassenprämien bezahlen? Damit wäre der solidarische Charakter unseres Gesundheitswesens vollständig ausgehebelt.

Es kann nicht das Ziel unserer Lebensführung und unserer Politik sein, stets eine optimale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aller Individuen zu gewährleisten. Vielleicht würde sich die Wirtschaftsleistung der Schweiz tatsächlich verdoppeln, wenn niemand dick wäre, Alkohol trinken, rauchen, Fastfood essen, abseits der markierten Pisten fahren, im Auto Radio hören oder ins Solarium gehen würde. Wenn alle mindestens sieben Stunden pro Nacht schlafen, fünf Portionen Früchte oder Gemüse pro Tag essen, dreimal pro Woche (ungefährlichen) Sport treiben und stets gut gelaunt arbeiten würden. Für mich wäre es dann aber an der Zeit, auszuwandern.