Veröffentlicht am 22.02.2012TEXT: Reto Rauber

Mehr Ferien heisst mehr Zeit fürs Leben. Foto: Simone Gloor

«In der Schweiz ist die Uhr stehen geblieben»

rr. Brauchen wir tatsächlich mehr Ferien? Und können wir uns das überhaupt leisten? Darüber stritten Befürworter und Gegner der Initiative «6 Wochen Ferien für alle» an einer Podiumsdiskussion. Als Vorrednerin der Debatte agierte Bundesrätin Simonetta Sommaruga.

«Die Überlegungen, die hinter der Initiative stehen, sind sinnvoll und ernst zu nehmen. Nur gesunde und gut erholte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können die Leistung erbringen, die heute von ihnen gefordert wird», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Podiumsdiskussion in Aarau, die die Aargauer FDP und die Aargauische Industrie- und Handelskammer (AIHK) organisiert hatten.

«Mehr Ferien tönt sympathisch», so Sommaruga weiter. Auch der Bundesrat sehe, dass das Arbeitstempo und der Stress an vielen Arbeitsplätzen enorm zugenommen hätten. Für viele Arbeitende sei es wegen der hohen Arbeitsbelastung schwierig geworden, fit zu bleiben. «Dabei ist die Gesundheit der Arbeitnehmer wichtig.»

Nach diesen Zugeständnissen an die Initianten der Ferieninitiative kam Sommaruga auf die offizielle Position des Bundesrates zu sprechen, die sie zu vertreten hatte. So biete die Initiative keine Gewähr, dass die Beschäftigten tatsächlich entlastet würden, denn sie gehe nicht auf die Frage ein, wie längere Ferienabwesenheiten in den Betrieben aufgefangen werden sollten. «Stellen die Arbeitgeber aus finanziellen oder anderen Gründen kein zusätzliches Personal ein, erreicht die Initiative ihr Ziel nicht.»

Umgekehrt gelte, dass die Kosten steigen würden, wenn die Arbeitgeber mehr Personal einstellten. Jede Woche Ferien erhöhe die Lohnkosten um rund zwei Prozent. «Gerade kleinere und mittlere Unternehmen dürften sich schwer damit tun, höhere Lohnkosten zu verkraften.»

Nach Ansicht des Bundesrats und des Parlaments habe sich die bisherige Ferienregelung bewährt. Sie ermögliche in den unterschiedlichen Branchen arbeitnehmerfreundliche Arbeitsbedingungen. Dazu gehören laut Sommaruga nicht nur Ferien, sondern auch Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Teilzeitstellen oder die Einrichtungen für die Kinderbetreuung. «Eine starre Regelung von sechs Wochen Ferien würde sich kontraproduktiv auf diese flexiblen Massnahmen auswirken.»

Stress kostet jedes Jahr 10 Milliarden Franken

Jetzt war die Reihe an den Podiumsteilnehmern, die unter der Leitung von Radio-Argovia-Chefredaktor Jürgen Sahli die Klingen kreuzten. Für die Initiative warben Yvonne Feri, SP-Nationalrätin, und Max Chopard, Gewerkschaftssekretär der Unia und SP-Nationalrat. Gegen mehr Ferien nahmen Christa Markwalder, FDP-Nationalrätin, und Daniel Knecht, Präsident der Aargauischen Industrie- und Handelskammer (AIHK), Stellung.

Yvonne Feri ergriff als erste das Wort und wies darauf hin, dass die Produktivität der Arbeitnehmenden in den letzten 25 Jahren um 20 Prozent gestiegen sei. Gleichzeitig lese und sehe sie, wie Unternehmungen dauernd Gewinne erzielten und erhöhten. «Es ist jetzt endlich Zeit, dass wir auch den Beschäftigten für ihre Leistung etwas zurückgeben.»

Christa Markwalder konterte, es liege in der heute angespannten wirtschaftlichen Lage nicht drin, «Geschenke zu verteilen». Die Initiative würde dazu führen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wegen der zusätzlichen Ferien mehr arbeiten müssten und für die Arbeitgeber höhere Kosten entstünden. «Die Initiative hat eine starke Verteuerung des Standortes Schweiz zur Folge. Das können wir uns nicht erlauben.»

Max Chopard sagte, in der Schweiz sei die Uhr stehen geblieben. «Der gesetzliche Ferienanspruch beträgt seit 25 Jahren unverändert vier Wochen. Dabei hat sich die Arbeitswelt in diesen Jahren gewaltig verändert, die Anforderungen an die Arbeitnehmenden sind enorm gestiegen.» Der Arbeitsmarkt sei hektischer geworden, Stress habe stark zugenommen.

Chopard verwies auf eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), wonach jährlich Kosten in Höhe von 10 Milliarden Franken entstünden, weil die Arbeitnehmer wegen zu viel Stress krank werden. «Diese Politik führt dazu, dass es immer mehr Burn-out-Patienten gibt, die für längere Zeit vom Arbeitsplatz fernbleiben müssen und daher nicht produktiv sein können.»

Von flexiblen Arbeitsmodellen können nicht alle profitieren

AIHK-Präsident Daniel Knecht, der eine Baufirma führt, sagte, mehr Ferien oder Personalaufstockungen müssten die Unternehmungen bezahlen. «Und das ist derzeit einfach nicht möglich.» Die Schweiz sei einem starken internationalen Konkurrenzkampf ausgesetzt. Unternehmen hätten auf Kundenwünsche einzugehen und müssten daher flexibel bleiben. Die Schweiz habe heute eine vernünftige Ferienregelung, sagt Knecht. «Sechs Wochen Ferien für alle in der Verfassung verankert, gibt es nirgendwo auf dieser Welt.»

Nach Ansicht von Christa Markwalder gefährdet die Ferieninitiative flexible Arbeitsmodelle, die heute auf dem Schweizer Arbeitsmarkt existierten. Man könne Teilzeit oder von zuhause aus arbeiten. Arbeitnehmer hätten die Möglichkeit, eigenen Bedürfnissen nachzugehen. «Wir leben in einer flexiblen 24-Stunden-Gesellschaft. Die Ferieninitiative würde diese Flexibilität einschränken, weil sich mehr Arbeit auf weniger Tage verteilen würde.»

Das Stichwort 24-Stunden-Gesellschaft liess Max Chopard aufhorchen. Denn genau in diesem Punkt sieht er Gefahren, wenn es um die Gesundheit von Arbeitenden geht. «Die FDP will ja sogar, dass Läden an Bahnhöfen 24 Stunden geöffnet bleiben. Doch damit vergisst man die Menschen, die hinter den Ladentischen arbeiten. Für sie bleibt immer weniger Zeit für sich selbst und ihre Familien.»

Yvonne Feri wies darauf hin, dass längst nicht alle Beschäftigten von flexiblen Arbeitsmodellen profitierten. So gebe es nur wenige Firmen, die es Arbeitnehmenden ermöglichten, von zuhause aus zu arbeiten. Daniel Knecht pflichtete Feri bei. Auch seine Baufirma könne kein «Home Office» anbieten. «Dafür ist die körperliche Belastung für den Arbeitnehmer auf dem Bau gesunken. Dank moderner Technik sind 50-Jährige heute fitter als früher.»

Übergangsfrist von sechs Jahren

Max Chopard widersprach den Gegnern der Initiative, wonach sich der Standort Schweiz stark verteuern würde. Er verwies darauf, dass die neue Ferienregelung gestaffelt eingeführt würde. Ab 2012 gäbe es für alle eine Woche und danach bis 2018 jedes Jahr einen Tag mehr Ferien. «Dies entspricht pro Jahr einer Erhöhung der Lohnsumme um nur 0,3 Prozent. Das ist damit wirtschaftlich verkraftbar.»

Markwalder schüttelte ob den Ausführungen Chopards den Kopf. Sie entgegnete dem Unia-Gewerkschaftssekretär, er blende den internationalen Druck auf dem Arbeitsmarkt aus. Mit der Ferieninitiative würde die Schweiz im Zusammenhang mit der Frankenstärke ein Eigengoal schiessen. «Es würden mehr Arbeitsplätze ins Ausland verlagert.»

Sukkurs erhielt sie von Knecht, der festhielt, dass die Produktivität nicht nur in der Schweiz, sondern überall auf der Welt gestiegen sei und weiter steigen werde. Es gebe Länder, in denen die Arbeitenden für weniger Lohn arbeiteten, um den Job behalten zu können. «Am Schluss entscheidet der internationale Wettbewerb. Darum dürfen wir das Fuder nicht überladen.»

Yvonne Feri bezeichnete Knecht und Markwalder als «Jammerer», die nach immer mehr Wachstum riefen, um den schon heute sehr hohen Lebensstandard noch weiter in die Höhe zu treiben. «Müssen wir uns nicht endlich auch einmal fragen, ob wir einen so hohen Luxus überhaupt brauchen und ob es wirklich immer mehr sein muss?»

Die Hälfte hat schon mehr als vier Wochen Ferien

Christa Markwalder verwies auf Studien, die belegen würden, dass längere Pausen während der Arbeitszeit der Erholung der Arbeitenden besser dienten als längere Ferien. «Wenn Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Tage besser einteilen, hilft das der Gesundheit.» Chopard entgegnete, dass in vielen Betrieben Pausen wieder gestrichen worden seien – «wegen des hohen Arbeitsdrucks». Zudem könnten die meisten Beschäftigten heute keine Auszeit mehr nehmen, weil sie dadurch einen Jobverlust riskieren würden.

Bereits heute hätten 50 Prozent aller Angestellten in der Schweiz fünf Wochen Ferien oder sogar mehr, sagte Yvonne Feri. Das sei in jenen Betrieben der Fall, wo die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Sozialpartnern funktioniere, dort, wo es Gesamtarbeitsverträge gebe, wie zum Beispiel im Gastgewerbe. «Es geht jetzt also nur noch darum, dass auch die andere Hälfte der Arbeitenden mehr Ferien erhält», sagte sie.

Einig waren sich die Podiumsteilnehmer zumindest in einem Punkt: Wird die Initiative abgelehnt, darf das Thema Arbeitnehmerschutz nicht auf Eis gelegt werden. Es brauche mehr flexible Arbeitsmodelle und mehr Teilzeitjobs. Das Familienleben dürfe unter der zunehmenden Arbeitsbelastung nicht noch mehr leiden. Auch Simonetta Sommaruga hatte in ihrer Rede gesagt, dass der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dem Bundesrat ein grosses und wichtiges Anliegen sei. Offen blieb allerdings nach der Podiumsveranstaltung in Aarau, wer bei einer Ablehnung der Ferieninitiative das Zepter für mehr Arbeiterschutz in die Hand nehmen würde.

Das will die Initiative

Travail Suisse, der unabhängige Dachverband von 170 000 Arbeitnehmenden, hat die Initiative «6 Wochen Ferien für alle» wurde von 2007 lanciert und 2009 eingereicht. Am 11. März wird der Schweizer Souverän über die Initiative abstimmen. Die Bundesverfassung würde wie folgt geändert:

Art. 110, Abs. 4:

Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Anspruch auf bezahlte Ferien von jährlich mindestens sechs Wochen.

Art. 197, Ziff. 8:

1. Im Kalenderjahr, das der Annahme von Artikel 110 Absatz 4 durch Volk und Stände folgt, haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf mindestens fünf Wochen Ferien. In den darauffolgenden fünf Kalenderjahren steigt der Anspruch jährlich um einen Tag.

2. Bis zum Inkrafttreten der geänderten Bundesgesetzgebung regelt der Bundesrat die notwendigen Einzelheiten.