Veröffentlicht am 10.12.2008TEXT: Philipp Gafner

Foto: Christian Keller

Zurück zur Kuhstallwärme

phg. Die Hälfte der fossilen Energiereserven der Erde ist verbraucht. Versorgungsengpässe sind absehbar. Die Folgen für die Gesellschaft zeigte der Soziologe Ueli Mäder an einer Veranstaltung der parlamentarischen Gruppe Peak Oil auf.

Über die sozialen Konsequenzen von Ressourcenverknappung sprach Ueli Mäder, Ordinarius am Institut für Soziologie der Universität Basel, letzte Woche im Restaurant «Schmiedstube» in Bern. Eingeladen hatte die Arbeitsgruppe Peak Oil um die Nationalräte Geri Müller (Grüne, Aargau) und Reto Wehrli (CVP, Schwyz). Seit 2006 versuchen sie, das Bewusstsein um die Verknappung des Erdöls und ein Umdenken im Umgang mit Energie zu fördern. Die Veranstaltung fand unweit des Bundeshauses statt: Und sie kamen zahlreich, die Parlamentarier beider Kammern sowie Vertreter des Bundesamtes für Energie, von NGOs, der Automobilimporteure und von Economiesuisse.

Mehr Lebensqualität trotz weniger Konsum

Der Soziologe Mäder holte zum Rundumschlag über unsere Abhängigkeit vom Erdöl aus: Der entbrannte Kampf um Ressourcen wird weltweit Kriege und die soziale Entzweiung verschärfen, falls es nicht gelingt, die Rohstoffe verbindlicher und gerechter zu verteilen. Diese Entwicklung könnte grössere Bevölkerungsschichten benachteiligen oder sogar verarmen lassen. Sie würde aber auch den Wohlstand und die Mobilität der Privilegierten beeinträchtigen. Armut erhöhe die sozialen Spannungen und die Gefahr von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Und sie hindere Menschen daran, sich für eigene und übergreifende Interessen einzusetzen.
Die spektakuläre Entwicklung der westlichen Ökonomien und Gesellschaften während der vergangenen 150 Jahre verdankt sich der Erschliessung fossiler Energiequellen. Diese stösst bald an ihre natürlichen Grenzen. Drei Kernfragen stellen sich laut Mäder für unsere Zukunft: Was bedeutet Fortschritt? Wie lässt sich der heutige Wohlstand halten? Könnte weniger Konsum sogar mehr Lebensqualität erzeugen? Erfreulicherweise zeichne sich diesbezüglich ein Umdenken bis in die Eliten ab, stellt der Soziologe aufgrund seiner Forschungen über Reichtum in der Schweiz fest.

Von der Baumwolle zum Erdöl

Mäder zieht unter anderem Parallelen zur Gründerzeit unserer Volkswirtschaft. Bis weit ins 19. Jahrhundert sei die Baumwolle die existenzielle Ressource für Wachstum und Wohlstand gewesen. Während der letzten hundert Jahre hätten sich in der Schweiz die Lebensbedingungen laufend verbessert: Die durchschnittliche Lebensdauer ist heute erheblich höher, die Löhne haben sich verachtfacht, die Lebensqualität aller Gesellschaftsschichten hat sich enorm gesteigert. Diese Errungenschaften seien aber auch noch nie so gefährdet gewesen wie heutzutage. Dies hänge mit der globalen Verflechtung der Märkte, Kulturen und Krisen zusammen wie auch mit der «Weltbankstrategie»: immer mehr produzieren, immer mehr exportieren. Dass dieses unendliche Wachstum verfehlt sei, bewiesen viele «Entwicklungsländer», die doppelt so viele Güter wie früher exportierten, damit aber nur die Hälfte der einstigen Einnahmen erzielten, so Mäder. Weltweit nehme die Bedeutung der Wirtschaft zu, während sich soziale Verbindlichkeiten, etwa die Solidarität in der Gesellschaft, und institutionelle Kontrollen aufweichten. Dies führe zu Verunsicherungen, die autoritäre Kräfte stärkten. Denn rasche Veränderungen und komplexe gesellschaftliche Strukturen würden dazu verlocken, Halt in Vereinfachungen zu suchen. Somit kämen neue fundamentalistische Strömungen auf. «Zum Glück jedoch auch zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich vernetzen und den sozialen Zusammenhalt anstreben.»

Depression führt zu Aggression

Nicht zuletzt verschärfe die Globalisierung die Standortkonkurrenz zwischen den reichen Zentren. Dadurch erhöhe sie den Rationalisierungsdruck und steigere die Erwerbslosigkeit. Wie Mäder weiter ausführte, belaste das Wirtschaftswachstum auch die Umwelt. Ein Fünftel der Menschheit verbrauche in den Industrieländern vier Fünftel der Weltenergie. Der Treibhauseffekt und die Erwärmung der Erdoberfläche liessen den Meeresspiegel ansteigen, was Millionen von Menschen zur Migration zwinge. Mit der Verteilung, erläuterte Mäder, hapere es auch bei der wirtschaftlichen Macht, die sich weiter konzentriere: So lebten drei von bald sieben Milliarden Menschen auf der Erde mit weniger als zwei Dollar pro Tag.
Gestützt auf eine frühere Armutsstudie beobachtet der Soziologieprofessor einen starken inneren Rückzug bei sozial Benachteiligten: Viele der von Armut Betroffenen fühlten sich massgeblich für Verhältnisse verantwortlich, die primär gesellschaftlich verursacht seien. Diese Individualisierung von wirtschaftlichen Notlagen - zum Beispiel bei den Working Poor - münde oft in eine resignative Haltung, die zu Depressionen führen könne. Je mehr Menschen hingegen von Armut bedroht oder betroffen seien, desto eher werde sich die individuelle Resignation in eine kollektive Empörung umkehren, die sich in Gewalt Luft machen könnte.

Bescheidenheit statt Konsumismus

Aufgrund dieser Perspektiven plädiert Mäder für einen stärkeren Einfluss der Politik, um die verhängnisvollen Entwicklungen der globalisierten Wirtschaft zu korrigieren. Dazu gebe es keine Alternative: «Eine starke Wirtschaft braucht einen starken Staat.» Gespräche mit Jugendlichen hätten ihm gezeigt, dass soziale Bindungen und der Sinn des Lebens in einer kapitalistischen Weltordnung  wichtige Anliegen für die kommende Generation darstellten. Künftig müsse die Sinnfrage vermehrt in die Berufs- und Wirtschaftswelt integriert werden, ist der Sozialwissenschaftler überzeugt: «Die wohlige Kuhstallwärme der früheren Gesellschaft ist einer schicken Coolness in den sozialen Beziehungen von heute gewichen. Viele Zeitgenossen empfinden diese inzwischen nur noch als kalt. Sie wollen zurück zur sozialen Nähe. Den Preis der wirtschaftlichen Bescheidenheit und des Konsumverzichts nehmen sie dafür in Kauf.»