Veröffentlicht am 24.01.2014FOTO UND TEXT: Miryam Azer

Die beiden Mitarbeiter von Elektro Hertig in Tann-Rüti haben eine neue berufliche Chance erhalten und beziehen heute keine IV-Rente mehr.

Vollwertig trotz Handicap

Am Freitag erhielten die Zürcher Firmen Elektro Hertig in Tann-Rüti und Kern Studer in Samstagern den «This-Priis». Die jährlich verliehene Auszeichnung geht an Unternehmen, die Menschen mit einem Handicap nachhaltig integrieren.

«Heute gehe ich mit Freude arbeiten, das habe ich lange nicht gekannt», sagt Beat Kuhn (Name geändert). Der Elektromonteur hat von 1986 bis 2002 harte Drogen konsumiert und sich mit Temporärjobs und Sozialhilfe über Wasser gehalten. Seit zwei Jahren ist er bei Elektro Hertig in Tann-Rüti (ZH) fest angestellt und schätzt dort das offene, ehrliche und familiäre Arbeitsklima. Regelmässige Methadondosen helfen ihm dabei, konsequent an der Arbeit zu bleiben. Zusammen mit seinen vier Elektromonteurkollegen ist er täglich unterwegs, um Privatkunden Grossgeräte für die Küche und den Waschraum zu liefern, sie zu montieren und anzuschliessen.

Den Menschen als gesund betrachten

Geschäftsinhaber Ruedi Hertig beschäftigt in seiner Firma 13 Angestellte, wovon fünf handicapiert sind. Bis vor sechs Jahren hat die Firma Elektroinstallationen gemacht und insgesamt zwölf Elektromonteurlehrlinge ausgebildet; heute ist sie ein reiner Handelsbetrieb. Ruedi Hertig hat sich nach eigenen Aussagen schon immer für die Schwächeren eingesetzt: Der gehörlose und sehbehinderte Kurt Blaser (Name geändert), gelernter Bankkaufmann, der die gesamte Buchhaltung betreut, ist der am längsten angestellte Mitarbeiter mit Behinderung.

«So lange sich ein Mensch bemüht, möchte ich ihn integrieren», lautet Ruedi Hertigs Devise. Integration bedeutet für ihn, dass er den Menschen als gesund und nicht als krank betrachtet, ihn ernst nimmt und ihn möglichst nicht bevormundet. Kompetenz und Verantwortung übergibt der Geschäftsinhaber seinen Angestellten möglichst rasch – in der Überzeugung, dass sie dadurch wachsen können. Denn «Leistung zu erbringen ist ein Urbedürfnis, sie bringt uns selbst etwas und auch unserem Nächsten», ist Ruedi Hertig sicher.

«So lange sich ein Mensch bemüht, möchte ich ihn integrieren.»

Andreas Fuchs (Name geändert) verstärkt das Elektro-Hertig-Team seit drei Jahren. Angefangen hat er als temporärer Mitarbeiter, seit zwei Jahren ist er fest angestellt und bezieht keine IV-Rente mehr. Er freut sich darüber, dass Ruedi Hertig ihm damals eine Chance gab. Seine Schwierigkeiten begannen 1997, als er wegen Depressionen ein Jahr lang in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste. Danach gelang ihm dank der Stiftung für Ganzheitliche Betreuung schrittweise die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. «Als ich in meinen gelernten Beruf als Elektromonteur zurückkehrte, musste ich wieder lernen, meine Arbeit in Ruhe auszuführen – ich spürte immer noch den Druck von früher.» Dabei hätten ihm die Kollegen geholfen. Überhaupt ist die gegenseitige Unterstützung im Team für Andreas Fuchs das A und O. Und er betont, dass die Angestellten bei Elektro Hertig als Menschen geschätzt würden.

Ziel ist eine Win-win-Situation

Das ist ein Grundsatz, der Ruedi Hertig am Herzen liegt: «Ich bin praktizierender Christ. Im Christentum ist die Würde des Menschen – unabhängig von seiner Religion, Rasse oder seinem momentanen Zustand – unzerstörbar. Und diese Würde möchte ich achten.» Mit dem Schweizer Sozialwesen ist er unzufrieden, es behandle die Menschen unwürdig.

«Wenn unsere Angestellten durchhalten, spart der Staat bis zu ihrer Pensionierung ein paar Millionen Franken.»

Ruedi Hertig will seine Mitarbeitenden als vollwertig betrachten und ihr Potenzial erkennen. Er gibt Handicapierten die Möglichkeit, neu starten zu können. «Für diese Chance fordere ich aber auch Leistung von ihnen. Ich möchte eine Win-win-Situation schaffen.» Er sei ein Gegner des Helfersyndroms, sagt er klar. «Wenn unsere Angestellten durchhalten, spart der Staat bis zu ihrer Pensionierung ein paar Millionen Franken. Das ist eine imposante Zahl.» Und gleichzeitig seien sie glücklicher, zufriedener und selbstbewusster als ohne Arbeit. Ruedi Hertig freut sich über den «This-Priis» und die damit verbundene Anerkennung, die sein jahrelanges Engagement würdigt.

Der Weg in die Unabhängigkeit

Ebenfalls mit dem «This-Priis» 2014 ausgezeichnet wurde die Kern Studer in Samstagern (ZH). Diese Firma entwickelt, produziert, vertreibt und montiert Trennwandsysteme für Wohn- und Industriebauten. Mitinhaber Urs Studer beschäftigt zwei junge Männer, die leicht geistig beeinträchtigt sind und eine IV-Vollrente beziehen. Für ihn ist die Integration dieser beiden Mitarbeiter eine Möglichkeit, anstelle der Lehrlingsausbildung einen anderen sozialen Beitrag zu leisten. Er möchte die beiden Angestellten so weit wie möglich in die Unabhängigkeit führen. Sie erledigen einfache Arbeiten wie Abänderungen, Anpassungen, Ein- und Ausräumen und Ware rüsten. Jeder hat einen Götti, der die Arbeit kontrolliert, Anweisungen gibt und auch ein offenes Ohr hat für private Anliegen.

«Wir möchten zum Nachahmen animieren und zeichnen deshalb möglichst unterschiedliche Firmen aus.»

Die «This-Priis»-Jury hat sich zum Ziel gesetzt, Unternehmer zu würdigen, die sich auch ausserhalb ihres Betriebs sozial engagieren. Für die Firmen Elektro Hertig und Kern Studer sprach zudem der grosse Multiplikationseffekt, erklärt Sibylle Eugster, Koordinatorin und Mitglied der Jury: «Wir möchten zum Nachahmen animieren und zeichnen deshalb möglichst unterschiedliche Firmen aus.»

Der «This-Priis» 
Der jährlich verliehene «This-Priis» soll Unternehmen dazu animieren, nachhaltige Stellen für Menschen mit einem Handicap zu schaffen. Er geht auf This Widmer zurück, der mit einer zerebralen Lähmung und einer Sehbehinderung geboren wurde und nach seinem 40. Geburtstag nicht mehr in einer geschützten Werkstatt arbeiten wollte. Schliesslich war er während zehn Jahren an zwei Tagen pro Woche in der Küche und am Mensabuffet eines Gymnasiums tätig. This’ Vater Hansueli Widmer regte in seinem Testament die Lancierung des «This-Priis» an und stellte dafür die nötigen Mittel zur Verfügung. Nach seinem Tod setzten seine Frau und die Brüder von This diese Idee um. Die Auszeichnung ist mit 25 000 Franken dotiert und geht an Firmen im Wirtschaftsraum Zürich. 
www.this-priis.ch