Veröffentlicht am 13.06.2014TEXT: Florian SchaffnerFOTO: Daniel Uhl

Mit der Arbeitslosigkeit steigt die Suchtgefahr.

Arbeitslosigkeit und Sucht

Suchtprobleme kommen bei Erwerbslosen deutlich häufiger vor als bei Erwerbstätigen. Zudem verschlimmert die Arbeitslosigkeit bereits bestehende Abhängigkeiten. Oft fehlt den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) das fachlich qualifizierte Personal, um eine Sucht zu erkennen.

Die Forschung liefert deutliche Zahlen. Erwerbslose sind stärker gefährdet, in eine Sucht abzurutschen, als Erwerbstätige. In Deutschland stieg die Arbeitslosenquote von Alkoholabhängigen in den letzten dreissig Jahren von 7 Prozent auf 38 Prozent, während sich die reguläre Arbeitslosenquote lediglich von 5 Prozent auf 12 Prozent erhöhte.

An der Fachtagung «Arbeitslosigkeit und Sucht» im Volkshaus Zürich präsentierte Dieter Henkel vom Institut für Suchtforschung der Hochschule Frankfurt am Main seine aktuellsten Erkenntnisse. Demnach besteht in der Arbeitslosigkeit die Gefahr einer typischen Suchtabwärtsspirale, was wiederum die Vermittelbarkeit beeinflusst: «Wenn ein Arbeitsloser immer weiter in den Strudel seiner Sucht gerät, schwinden die Chancen, wieder eine Anstellung zu finden, drastisch», sagte Dieter Henkel. Die Reintegrationsquote von alkoholkranken Männern in die Erwerbstätigkeit beträgt in Deutschland nach ambulanter Behandlung 17,9 Prozent

Männer stärker betroffen

Zu den Risikogruppen gehören vor allem männliche Arbeitslose und jene, die über längere Zeit arbeitslos sind. Auch Kinder und Jugendliche von arbeitslosen Eltern sind einem höheren Risiko ausgesetzt, in ein Suchtverhalten abzurutschen. Die meisten Betroffenen hatten bereits während ihrer Erwerbszeit einen Hang zur Sucht. In solchen Fällen verschlimmert sich das Suchtverhalten. Menschen, die bereits eine Abhängigkeit überwunden hatten, sind durch die Arbeitslosigkeit stark rückfallgefährdet. 

RAV-Beratenden fehlen Kenntnisse

Wenn jemand seinen Job verliert und sich beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) anmeldet, muss er nach drei Monaten zu einem ersten Gespräch bei einem zugewiesenen RAV-Berater erscheinen. Ein Suchtproblem bei diesem Gespräch festzustellen, ist für die beratende Person schier unmöglich, da sie meist weder über einen geeigneten Fragebogen verfügt, noch über die nötige fachliche Qualifizierung. «Kein Klient kommt zu mir ins Gespräch und sagt, dass er Suchtprobleme hat», meldete sich eine Teilnehmerin der Fachtagung zu Wort. Geeignete Massnahmen wie eine Beratung bei der kantonalen Suchtfachstelle können so nicht ergriffen werden.

In Deutschland ist die Situation vergleichbar. «Mitarbeiter der Jobcentren sind mangelhaft darin geschult, einen süchtigen Menschen zu erkennen», sagte Dieter Henkel bei seiner Präsentation. Sie sind auch daher nicht im Stande dazu, weil der Umfang an Klienten zu hoch ausfällt. Wer Dossiers von über hundert Klienten bearbeiten muss, findet kaum Zeit dafür, ein Suchtverhalten zu erkennen.

Unangepasste Gesetzgebung

Die Arbeitslosenversicherung ist, wie der Name bereits sagt, eine Versicherung. Tony Erb, Ressortleiter Arbeitsmarktliche Massnahmen des Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), erklärte an der Fachtagung, dass wie bei jeder Versicherung die Anspruchsberechtigung bestehen muss, damit ein Arbeitssuchender Geld erhält. «Der wichtigste Punkt im Bezug auf die Anspruchsberechtigung ist die Vermittelbarkeit. Jemand, der an starken Suchtproblemen leidet, ist nicht vermittelbar und verliert  durch seine Offenlegung der Sucht theoretisch seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld», sagte Tony Erb. Dies jedoch nur, wenn er seinen Pflichten nicht nachkommt, zum Beispiel seine Arbeitsbemühungen vernachlässigt oder nicht zu Beratungsgesprächen erscheint.

Mit dieser Gesetzgebung unterbindet der Staat einen wichtigen Anreiz, sich durch das RAV helfen zu lassen, bevor die Suchtprobleme überhand nehmen. Das Risiko, kein Geld mehr zu erhalten, ist für den RAV-Klienten zu hoch. «Wer süchtig ist, ist gewillt zu lügen, damit er Arbeitslosengeld erhält», sagte eine weitere RAV-Beraterin.

Fehlende Institutionen

Das Angebot an Einsatzprogrammen für arbeitslose Personen in der Schweiz ist umfangreich. Nur sind diese Programme nicht darauf ausgelegt, auch süchtigen Arbeitslosen einen Platz zu bieten. Den meisten fehlt es an medizinisch und suchtspezifisch ausgebildeten Betreuungspersonen. Spezifische Programme für süchtige Menschen bieten nur der Kanton St. Gallen mit dem Zentrum «Mühlhof» und der Kanton Bern mit dem «Contact Netz» an. Somit bleiben süchtigen Arbeitslosen oft nur geschützte Werkstätten. Die Vermittlung zu einer solchen Arbeit erfolgt jedoch nicht über das RAV, sondern über die Invalidenversicherung. 

Erste Fachtagung
Die Expertengruppe Weiterbildung Sucht (EWS) und der Fachverband Sucht organisierten die Fachtagung «Arbeitslosigkeit und Sucht» zum ersten Mal. Im Volkshaus Zürich trafen sich am 5. Juni rund 150 Teilnehmende verschiedener Berufe, insbesondere Fachpersonen für soziale Arbeit, Suchtexperten und Mitarbeitende der RAV.